Angela Merkel: “Mit mir werden keine Reformen zurückgedreht”

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„Während meiner Kanzlerschaft werden sinnvolle Reformen an keiner Stelle zurückgedreht. Das sage ich ausdrücklich beispielsweise mit Blick auf Bestrebungen, die Rente mit 67 auszuhöhlen, einen einheitlichen, flächendeckenden, gesetzlichen Mindestlohn einzuführen, die Förderung der Altersteilzeit durch die Bundesagentur für Arbeit wieder auszubauen oder das arbeitsmarktpolitische Instrumentarium auszuweiten…
Wir werden weiter auf unserem Kurs notwendiger Veränderungen gehen. Die von meinem Vorgänger Bundeskanzler Schröder begonnenen und von der Union – das wollen wir nicht vergessen – damals mitgetragenen Reformen haben wesentlich zum jetzigen Aufschwung beigetragen“, so die Kanzlerin in der Wirtschaftswoche. Beschönigung, Unwissen oder gezielte Gehirnwäsche durch permanente Wiederholung derselben unbelegten und von der Wirklichkeit längst widerlegte Behauptungen?

Merkel sagt in dem Interview mit der Wirtschaftswoche weiter: „Wenn wir unsere sozialen Sicherungssysteme stabilisieren und die paritätisch finanzierten Beitragssätze unter 40 Prozent halten wollen, müssen wir auf Reformkurs bleiben …
Wenn wir unseren Haushalt so weit im Griff haben, dass wir Spielräume haben, werden wir diese für Steuersenkungen nutzen. Das haben wir bei der Unternehmenssteuerreform so gemacht und im Übrigen in dieser Legislaturperiode auch beim Beitragssatz zur Arbeitslosenversicherung. Dieser ist von 6,5 auf 3,3 Prozent gesunken. Ich hoffe, dass der Beitrag im nächsten Jahr noch weiter sinken wird …
Wir in der Union sind der Meinung, dass ein Beitragssatz von 3,0 zum 1. Januar 2009 machbar und vertretbar ist. Wir sollten die Überschüsse bei der Bundesagentur für Arbeit, die dank der guten Arbeitsmarktentwicklung anfallen, den Beschäftigten geben und nicht etwa für zusätzliche Arbeitsmarktprogramme ausgeben.“

Wie vor kurzem in der FAZ wiederholt Merkel ständig dieselben Behauptungen.

Wie bei Schröder müssen auch bei Merkel „Globalisierung“ und „demographischer Wandel“ als Hebel für die Durchsetzung weiterer „Reformen“ herhalten. Was etwa die Hartz-Gesetze, was der ständige Griff in die Taschen der Bürger oder was die Senkungen der Unternehmenssteuern mit der Globalisierung zu tun haben sollen, bleibt ohne Begründung. Warum derzeit bei über 3 Millionen statistisch erfassten Arbeitslosen und über 5 Millionen Arbeitsuchenden der demografische Wandel ein Problem darstellen soll, verschließt sich jeder Logik. Was die Rente mit 67 daran ändern soll, dass derzeit gerade mal ein Drittel (32,5%) die Altersgrenze von 65 erreichen, begreife wer wolle.

Merkel strickt weiter an der Legende, dass die „Reformen“ zum „Aufschwung“ beigetragen hätten, ohne dass irgendein Zusammenhang hergestellt werden könnte. (Vgl. z.B. Robert von Heusinger oder Heiner Flassbeck [PDF – 52 KB].)

Der Mythos von den „Lohnebenkosten“ wird weiter gepflegt, so als ob die weitere Senkung der Arbeitslosenversicherungsbeiträge um 0,3 % den Arbeitnehmern und der Wirtschaft irgendetwas brächte.

Merkel baut offenbar weiter darauf, dass die Leute nicht selbst nachrechnen könnten, wenn sie ihre soziale Sicherheit – statt paritätisch finanziert – zusätzlich allein und privat finanzieren müssen. (19,9 % Rentenversicherungsbeitrag (paritätisch finanziert) + 4% Riesterrente vom Bruttolohn)

Statt sich Gedanken über die wirtschaftlichen Auswirkungen des dramatischen Kursverfalls des Dollars, der steigenden Energie- und Nahrungsmittelpreise auf die Wirtschaft und die Menschen zu machen, wird blindwütig die Erhöhung der „Reform“-Dosis als Rezept verfolgt.

Merkel redet viel über die „soziale Marktwirtschaft“ und verweigert die Kenntnisnahme der zunehmend asozialen Auswirkungen ihrer neoliberalen Umwälzung. Statt angesichts der Krisensymptome in der Wirtschaft und auch auf dem Arbeitsmarkt über eine aktive Arbeitsmarktpolitik nachzudenken, werden „Arbeitsmarktprogramme“ brüsk abgelehnt und das Heil in weiteren „Reformen“ mit ihrer Umverteilungswirkung von unten nach oben gesucht.

Wie hohl diese Phrasen sind, belegt etwa Merkels Formel: „Erhards Wort vom „Wohlstand für alle“ bedeutet heute „Bildung für alle“.“
Dass Bildung jedoch nicht vor Armut schützt hat unlängst Christoph Butterwegge dargelegt.
Die von Merkel verkündete „Bildungsrepublik“ sieht in Wirklichkeit so aus: Wie das Statistische Bundesamt noch vor wenigen Tagen mitteilte, ist der Anteil für Bildungsausgaben am Bruttoinlandsprodukt weiter gesunken: Nur noch 6,2 Prozent des BIP wurden 2006 für Bildung ausgegeben. Ein Jahr zuvor waren es noch 6,3 Prozent. 1995 hatte der Anteil der Bildungsausgaben noch bei 6,9 Prozent gelegen, im Jahr 2000 sank er auf 6,7 Prozent und 2005 auf 6,3 Prozent des deutschen Bruttoinlandsproduktes.

Das ist nur einer der zahllosen Belege, wie Versprechen und tatsächliches politisches Handeln auseinander fallen. Im jüngsten Bildungsbericht wurde vorgerechnet: Wären auch im Jahr 2005 wie 1995 6,9% des BIP für Bildung aufgewendet worden, hätten dem Bildungsbereich rund 13 Milliarden Euro mehr zur Verfügung gestanden. Statt aber die Investitionen in die „Humanressourcen“ zu erhöhen, hat man die Unternehmenssteuern im gleichen Zeitraum um ein Mehrfaches gesenkt, allein in diesem Jahr um weit über 5 Milliarden.

Die „soziale Markwirtschaft“ habe die Einstiegs- und Aufstiegchancen für eine große Zahl von Menschen ermöglicht, erzählt uns die Kanzlerin. Die Wirklichkeit des „Einstiegs“ belegt die Bundesagentur für Arbeit [PDF – 1.8 MB]: Im Bundesdurchschnitt lag die Übergangsrate von Hilfebedürftigen und damit von arbeitslosen und nicht arbeitslosen Personen im Leistungsbezug in sozialversicherungspflichtige Beschäftigung im ersten Halbjahr 2007 bei 3,4 Prozent. Durchschnittlich gelang es 34 von 1000 Leistungsbeziehern in der Grundsicherung eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung aufzunehmen.
Selbst die wirtschaftsfreundliche OECD konstatiert, dass das Versprechen von der Durchlässigkeit und der sozialen Mobilität, also Aufstiegschancen für die Meisten ein leerer Traum sei.

Aber Frau Merkel und andere wiederholen diese leeren Versprechen ständig und wundern sich dann, dass immer mehr Menschen am Funktionieren der Demokratie zweifeln.
Wie wenig die Menschen noch an solche Versprechen glauben, zeigt einmal mehr der jüngste Deutschlandtrend von Infratest diamap: Fast jeder zweite Bundesbürger (46 Prozent) ist davon überzeugt, dass es ihm in zehn Jahren schlechter gehen wird als heute. Knapp zwei von drei Bundesbürgern (63 Prozent) sind davon überzeugt, dass es in Deutschland eher ungerecht zugeht.

Kein Wunder, dass die Deutschen von dieser Bundesregierung unverändert wenig halten: nur gut ein Viertel (27 Prozent) lobt die Regierung, knapp drei Viertel (72 Prozent) kritisieren sie.

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