Maßnahmen gegen Kinderarmut

Christoph Butterwegge
Ein Artikel von Christoph Butterwegge

In letzter Zeit ist die Kinderarmut hierzulande beinahe zu einem Modethema avanciert, ohne dass die verantwortlichen Politiker bisher jedoch wirksame Gegenmaßnahmen ergriffen hätten. Zwar hat sich die Bundesregierung erstmals auf ihrer Klausurtagung im August 2007 auf Schloss Meseberg mit dem Problem befasst, die Entfristung des vor dem 1. Januar 2008 nur drei Jahre lang gezahlten Kinderzuschlages in Höhe von maximal 140 EUR pro Monat war aber kaum mehr als der sprichwörtliche Tropfen auf einen heißen Stein. Dass sich die Große Koalition von einer Entbürokratisierung des Kinderzuschlages, die am 1. Oktober 2008 in Kraft treten soll, der Erhöhung des Wohngeldes, seiner Ergänzung um eine Heizkostenkomponente, die den gestiegenen Energiekosten Rechnung tragen soll, und einer Anhebung der Mietobergrenzen, die zum 1. Januar 2009 geplant sind, eine spürbare Verringerung der (Kinder-)Armut verspricht, dokumentiert ihre mangelnde Bereitschaft, das Problem an der Wurzel zu fassen.
Dessen strukturelle Ursachen können viele der gegenwärtig in Politik, Massenmedien und Öffentlichkeit zirkulierenden Vorschläge zur Verringerung bzw. Verhinderung von Kinderarmut nicht beseitigen. Christoph Butterwegge hat uns diesen Beitrag zur Verfügung gestellt.

Christoph Butterwegge

Maßnahmen gegen Kinderarmut
Ein gesellschaftspolitischer Dreiklang

In letzter Zeit ist die Kinderarmut hierzulande beinahe zu einem Modethema avanciert, ohne dass die verantwortlichen Politiker bisher jedoch wirksame Gegenmaßnahmen ergriffen hätten. Zwar hat sich die Bundesregierung erstmals auf ihrer Klausurtagung im August 2007 auf Schloss Meseberg mit dem Problem befasst, die Entfristung des vor dem 1. Januar 2008 nur drei Jahre lang gezahlten Kinderzuschlages in Höhe von maximal 140 EUR pro Monat war aber kaum mehr als der sprichwörtliche Tropfen auf einen heißen Stein. Dass sich die Große Koalition von einer Entbürokratisierung des Kinderzuschlages, die am 1. Oktober 2008 in Kraft treten soll, der Erhöhung des Wohngeldes, seiner Ergänzung um eine Heizkostenkomponente, die den gestiegenen Energiekosten Rechnung tragen soll, und einer Anhebung der Mietobergrenzen, die zum 1. Januar 2009 geplant sind, eine spürbare Verringerung der (Kinder-)Armut verspricht, dokumentiert ihre mangelnde Bereitschaft, das Problem an der Wurzel zu fassen.

Dessen strukturelle Ursachen können viele der gegenwärtig in Politik, Massenmedien und Öffentlichkeit zirkulierenden Vorschläge zur Verringerung bzw. Verhinderung von Kinderarmut nicht beseitigen. Sie reichen von wohlfeilen, bisweilen zynisch wirkenden Tipps für Hartz-IV-BezieherInnen, wie man Kinder mit Eintopf statt mit Fast Food billiger und gesünder ernähren kann, über Steuererleichterungen für den Mittelstand, von denen die wirklich Armen wenig oder gar nichts hätten, weil sie keine bzw. bloß eine geringe Lohn- oder Einkommensteuer zahlen müssen, bis zum Ruf nach staatlicher Alimentierung der Mutterschaft in Form eines „Erziehungsgehalts“ oder eines Betreuungsgeldes. Beide würden als Herdprämie wirken und wahrscheinlich gerade jene Frauen von der Erwerbsbeteiligung abhalten, die ohnehin große Schwierigkeiten haben, sich auf dem Arbeitsmarkt zu behaupten. Damit wäre ihren Kindern schwerlich gedient, die im Elternhaus zu wenig Anregungen und Bildungsimpulse, manchmal noch nicht einmal ein warmes Mittagessen erhalten.

Auch eine weitere Kindergelderhöhung erscheint zweischneidig: Ausgerechnet jene Eltern, die mehr Geld am nötigsten brauchen, um ihren Kindern gute Lebensbedingungen zu ermöglichen, nämlich Hartz-IV- bzw. Sozialhilfebezieher/innen, würden davon überhaupt nicht profitieren, weil sie voll auf Transferleistungen (Sozialgeld bzw. -hilfe) angerechnet wird. Wenn gleichzeitig der steuerliche Kinderfreibetrag stiege, den Spitzenverdiener statt des Kindergeldes in Anspruch nehmen, würde deren Privilegierung gegenüber Normal- und Geringverdiener(inne)n zementiert. Heute beträgt ihre Steuerersparnis pro Kind bis 230 Euro gegenüber dem Kindergeldsatz in Höhe von 154 Euro für die ersten drei Kinder. Hinter dem Vorschlag der Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen, hauptsächlich das Kindergeld für Mehrkinderfamilien zu erhöhen, darf man getrost pronatalistische Motive vermuten, gilt der demografische Wandel hierzulande doch als ein Problem, dem mit Geburten fördernden Maßnahmen zu begegnen ist.

Bausteine einer wirksamen Armutsbekämpfung

Maßnahmen zur Verringerung und Verhinderung von noch mehr Kinderarmut sollten auf unterschiedlichen Politikfeldern und Handlungsebenen ansetzen. Es gibt zwar kein Patentrezept zur Bekämpfung der Kinderarmut, aber drei Kernelemente eines integrierten Gesamtkonzepts, die allesamt mit einem großen G beginnen: Ganztagsbetreuung, Gemeinschaftsschule und Grundsicherung.

Noch immer fehlt zahlreichen Eltern besonders in Westdeutschland eine Versorgung mit öffentlichen Kinderbetreuungseinrichtungen, die in manchen europäischen Staaten fast flächendeckend existieren. Erheblich mehr Ganztagsschulen, die möglichst kostenlos bereits nach Vollendung des 1. Lebensjahres zur Verfügung gestellte Krippen-, Kindergarten- und Hortplätze ergänzen sollten, hätten einen Doppeleffekt: Einerseits würden von Armut betroffene oder bedrohte Kinder umfassender betreut und systematischer gefördert, andererseits könnten ihre Eltern leichter als sonst einer Vollzeitbeschäftigung nachgehen, was sie finanzielle Probleme eher meistern ließe. Vornehmlich alleinerziehende Mütter – und im seltenen Ausnahmefall: Väter – würden befähigt, Beruf und Familie miteinander zu vereinbaren, ohne hier wie dort Abstriche machen zu müssen. Durch die Ganztags- als Regelschule lassen sich psychosoziale Benachteiligungen insofern kompensieren, als eine bessere Versorgung der Kinder mit Nahrung (gemeinsame Einnahme des Mittagessens), eine gezielte Förderung leistungsschwächerer SchülerInnen etwa bei der Erledigung von Hausaufgaben und eine sinnvollere Gestaltung der nachmittäglichen Freizeit möglich werden.

So wichtig mehr öffentliche Ganztagsbetreuung für Kinder aller Jahrgangsstufen ist, so wenig reicht sie aus, um Bildung stärker von der sozialen Herkunft zu entkoppeln. Gleichwohl stößt die öffentliche Reformdebatte selten bis zum eigentlichen Problem, der hierarchischen Gliederung des Schulwesens in Deutschland, vor. Vertreter eines bornierten Besitzbürgertums möchten das Gymnasium anscheinend für den eigenen Nachwuchs reservieren. Wer von der Gesamt- bzw. Gemeinschaftsschule für Kinder aller Bevölkerungsschichten jedoch nicht sprechen will, sollte auch von der Ganztagsschule schweigen. Letztere war stets ein Ziel reformpädagogischer Bemühungen, degeneriert aber zur bloßen Verwahranstalt, wenn sie nicht in ein bildungspolitisches Alternativkonzept integriert wird. Nötig wäre eine umfassende Strukturreform, die der sozialen Selektion durch das mehrgliedrige deutsche Schulsystem ein Ende bereiten müsste. In „einer Schule für alle“ nach skandinavischem Vorbild wäre kein Platz für die frühzeitige Aussonderung „dummer“ Kinder, die arm sind bzw. aus sog. Problemfamilien stammen. Mit einer inklusiven Pädagogik, die keine „Sonderbehandlung“ für bestimmte Gruppen mehr kennt, könnte man sozialer Desintegration und damit dem Zerfall der Gesellschaft insgesamt entgegenwirken.

Mittels einer solidarischen Bürgerversicherung könnte die berufsständische Gliederung des Bismarck’schen Sozialstaates überwunden und gleichzeitig seine Basis verbreitert werden, ohne mit der ihm eigenen Systemlogik radikal zu brechen. Ergänzend zu einer solchen Bürgerversicherung, die alle WohnbürgerInnen mit sämtlichen Einkommen und Einkunftsarten (möglichst ohne Beitragsbemessungs- und Versicherungspflichtgrenzen) zur Finanzierung der nötigen Leistungen im Sozial-, Bildungs- und Gesundheitsbereich heranzieht, bedarf es einer sozialen Grundsicherung für Familien, die das soziokulturelle Existenzminimum ohne entwürdigende Antragstellung und bürokratische Bedürftigkeitsprüfung garantiert. Hierbei würde zunächst das Einkommen eines Haushaltes mit Kindern so weit aufgestockt, dass deren Versorgung staatlicherseits gesichert wäre. Überfällig ist die Abschaffung der steuerlichen Kinderfreibeträge, welche mit einer kräftigen Erhöhung des Kindergeldes verbunden sein muss, das allerdings im Unterschied zur bisherigen Regelung versteuert werden müsste. Hierdurch kämen TransferleistungsempfängerInnen, die nicht einkommensteuerpflichtig sind, in seinen vollen Genuss, während Besserverdienende netto sehr viel weniger davon profitieren würden. Zu hoffen bleibt, dass ein solches Modell weder durch die dürftige „Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung“ (SGB XII) sowie die „Grundsicherung für Arbeitsuchende“ (SGB II) diskreditiert ist noch vom Bundesverfassungsgericht mit dem Argument mangelnder „horizontaler Steuergerechtigkeit“, die angeblich eine Gleichstellung wohlhabender Eltern mit wohlhabenden Menschen ohne Kinder erfordert, gekippt würde.

Prof. Dr. Christoph Butterwegge lehrt Politikwissenschaft an der Universität zu Köln. Soeben ist sein Buch „Kinderarmut in Ost- und Westdeutschland“ in aktualisierter und erweiterter Auflage erschienen.

Christoph Butterwegge/Michael Klundt/Matthias Belke-Zeng
Kinderarmut in Ost- und Westdeutschland
2., aktualisierte und erweiterte Aufl. Wiesbaden (VS – Verlag für Sozialwissenschaften) 2008, geb., 378 Seiten, Ladenverkaufspreis: 24,90 EUR
Bestellungen entweder über den Buchhandel oder über den Verlag: Frau Schunath, VS – Verlag für Sozialwissenschaften, Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Tel.-Nr.: 0611/7878-245; Fax: 0611/7878-99; e-Mail: [email protected]

Seit geraumer Zeit erregt das Problem einer wachsenden und sich gleichzeitig verjüngenden Armut in hoch entwickelten Wohlfahrtsstaaten öffentliche Aufmerksamkeit und fachliches Interesse, was sich in einer Zunahme der Forschungsprojekte und einer Flut wissenschaftlicher Publikationen zu diesem Thema niederschlägt. Dabei sind die spezifischen Rahmenbedingungen des vereinigten, vormals aus zwei Separatstaaten mit unterschiedlichen Gesellschafts-, Wirtschafts- und Wohlfahrtssystemen sowie konträren (sozial)politischen Kulturen bestehenden Deutschland zwar nicht gänzlich unberücksichtigt geblieben, aber gegenüber anderen Faktoren vernachlässigt worden. Das vorliegende Buch beleuchtet die Ursachen und psychosozialen Folgen der Kinderarmut in den alten und den neuen Bundesländern. Ein empirischer Vergleich der sozialen Situation von Erfurter und Kölner Schulkindern gab darüber Aufschluss, welche Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Lebenslagen in Ost- und Westdeutschland existieren und womit den Schwierigkeiten im Vereinigungsprozess zu begegnen ist.

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