Entwicklungsland Deutschland

Ein Artikel von:
Ansgar Klinger

Lang ist es her, da hatte Kanzlerin Merkel in ihrer Rede zum 60-jährigen Bestehen der sozialen Marktwirtschaft die „Bildungsrepublik Deutschland“ ausgerufen. Den Schlachtruf „Bildung für alle“ wollte sie zum neuen politischen Leitmotiv machen – eine moderne Version des von Ludwig Erhard seinerzeit ausgegebenen Mottos „Wohlstand für alle“. Abgesehen davon, dass der Betrug hiermit bereits beginnt – denn während „Wohlstand für alle“ als Forderung die Lebensbedingungen der Subalternen wirklich in Summe verbessern würde, maskiert jene nach „Bildung für alle“ nichts weiter als die Aufgabe konsequenter Armutsbekämpfung, die dank Bildung ja vermeintlich unnötig wird –, ist von dieser Bildungsrepublik auch nach Jahren noch nirgends etwas zu sehen. Ganz im Gegenteil ersticken die Schulen und Hochschulen in immer weiteren neoliberalen Reformen, die sie zu Humankapitalfabriken und die Schülerinnen und Schüler zu Objekten neoliberaler Indoktrinationen zu degradieren versuchen: Vor lauter Tests, die vorgeben, Qualität zu sichern, jedoch ganz anderen Zwecken dienlich sind, findet umfassendes, vertiefendes Lernen und Verstehen immer weniger statt. In Medien und Politik wird all das jedoch kaum – und wenn, dann lediglich anhand partieller Kritik – einmal thematisiert. Dort herrscht der Tenor „Deutschland geht es so gut wie nie zuvor“ vor und überbieten sich Politiker geradezu dabei, zu betonen, das Bildungssystem sei exzellent finanziert. Dass selbst dies nicht stimmt, weiß Ansgar Klinger, Mitglied im Hauptvorstand der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, im Gespräch mit Jens Wernicke zu berichten, in dem er einen milliardenschweren „Investitionsstau in Bildung“ konstatiert.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Herr Klinger, die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft hat soeben die Studie „Bildungsfinanzierung der öffentlichen Hand – Stand und Herausforderungen“ veröffentlicht. Warum diese Studie? Worum geht es?

Während wir von der Politik Aussagen gewohnt sind wie „Noch nie wurde so viel Geld für Bildung ausgegeben wie heute“, geht es in der Studie darum, genau zu beziffern, wie viel die dringend erforderlichen Verbesserungen im Bildungswesen tatsächlich kosten, wie hoch das üblicherweise verschleierte strukturelle Defizit im deutschen Bildungssystem also ist.

Wir können jetzt gegenüber der Politik bis auf die Ebene der einzelnen Bundesländer klar benennen, was die Verbesserung der Ausstattung der Bildungseinrichtungen oder auch die Umsetzung der Inklusion tatsächlich kosten.

Aber wir hören es doch tagtäglich von der Politik: Für Bildung wird viel zu viel – nicht zu wenig – Geld ausgegeben. Zu entsprechenden Ergebnissen werden Sie also wohl gekommen sein…

Absolut betrachtet sind mit 265,5 Milliarden Euro, so die jüngsten Budgetdaten für Bildung, Forschung und Wissenschaft in 2014 mehr Gelder für das Bildungswesen ausgegeben worden als je zuvor. Das wird stets und ständig, das wird immer wieder wiederholt.

Nicht betont wird dabei aber in aller Regel, dass etwas ganz Anderes entscheidend für eine Gesamtschau der Entwicklungen und Ist-Situation ist. Nämlich der Anteil der Ausgaben an der gesamten Wirtschaftsleistung, dem sogenannten Bruttoinlandsprodukt. Und dieser ist inzwischen so niedrig wie kaum je zuvor: Bildung wird also – betrachtet man die Gesellschaft als Ganzes – immer weiter entwertet, verhältnismäßig schlechter gestellt. Gemessen am Bruttoinlandsprodukt sind die Bildungsausgaben im Jahr 2014 gegenüber dem Vorjahr um 0,1 Prozentpunkte gesunken!

Fast erstaunlich ist, dass inzwischen sogar die OECD in ihrem jährlichen Bildungsbericht „Bildung auf einen Blick“ auf diese Unterfinanzierung des Bildungswesens in Deutschland insistiert: Im hier zuletzt referierten Jahr 2012 betrug der Anteil der öffentlichen und privaten Bildungsausgaben in Deutschland gerade einmal 5,2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, wohingegen der OECD-Durchschnitt bei 6,1 Prozent lag.

Auf dem Dresdener Bildungsgipfel im Herbst 2008 hatten die Bundeskanzlerin und die Ministerpräsidenten der Länder zwar vollmundig vereinbart und verkündet, die Aufwendungen für Bildung insgesamt auf 7 Prozent und jene für Forschung auf 3 Prozent des Bruttoinlandsproduktes bis zum Jahr 2015 anzuheben. Von diesem Ziel sind wir allerdings nach wie vor Lichtjahre entfernt und Besserung ist nicht wirklich in Sicht.

Und da wollen Sie mittels der Studie also die genauen Defizite beziffern und hierdurch Druck auf die Politik ausüben? Wo genau liegen Ihrer Analyse zufolge denn diese Defizite? Wo fehlt es an was?

Genau darum geht es. Und, ja: Die Defizite bestehen tatsächlich in allen Bildungsbereichen. Insgesamt besteht hier ein Defizit von 56 Milliarden Euro Da geht es um den Ausbau der Quantitäten und der Qualität in den Kindertagesstätten, wo 11 Milliarden Euro fehlen; um einen hochwertigen, echten Ganztag und eine Verbesserung der Schüler-Lehrer-Relationen in den allgemeinbildenden Schulen, was 17 Milliarden Euro kosten wird; um Verbesserungen in den berufsbildenden Schulen im Wert von 7 Milliarden Euro; und es geht um Schulsozialarbeit sowie eine glaubwürdige Umsetzung der Inklusion.

Und auch die Hochschulen müssen entsprechend dem gesellschaftlichen Bedarf ausgebaut werden, wofür 6 Milliarden Euro fehlen. Ähnlich verhält es sich bezüglich der allgemeinen Weiterbildung sowie der beruflichen Weiterbildung für Erwerbslose, die kaum mehr nennenswert vorhanden sind. Und natürlich braucht es aktuell auch dringend die notwendigen Mittel für eine gesellschaftliche Integration der Geflüchteten in allen Bereichen des Bildungswesens einschließlich einer Verbesserung des Systems der Integrationskurse.

Sie fordern also dutzende Milliarden? Das klingt ein wenig nach „Wünsche-Dir-Was“, nach … einfach zu viel. Wofür soll so viel Geld denn notwendig sein? Vielleicht können Sie das in Bezug auf die allgemeinbildenden Schulen einmal genauer erläutern: Wo genau gibt es da welche Probleme? Und wofür genau ist dieses Geld Ihrer Analyse nach … zwingend notwendig, so ich recht verstehe?

Die Schulen in Deutschland sind noch weit davon entfernt, echte Ganztagsschulen zu sein. Dahinter steckt im Übrigen ein ebenso großes wie kaum thematisiertes gesellschaftspolitisches Problem: Als Folge der nach wie vor dominierenden Halbtagsschule können Familien, und hier insbesondere die Mütter, ihren Alltag kaum mit einer normalen Erwerbsarbeit vereinbaren und bleiben in der sogenannten „Teilzeitfalle“ stecken! Bei einer angenommenen Ganztagsbetreuungsquote von 60 Prozent – und das kann man sicher nicht als „Wünsch-Dir-Was“ bezeichnen – beträgt der zusätzliche Finanzbedarf knapp 3,8 Milliarden Euro!

Ebenso „Entwicklungsland“ sind wir in der Ausstattung der Schulen mit Schulsozialarbeit und Schulpsychologen: Wollen wir wenigstens pro 150 Schüler einen Schulsozialarbeiter und pro 5.000 Schüler einen Schulpsychologen, dann ist das alles andere als „Luxus“, aber mit einem Mehrbedarf von 2,4 Milliarden Euro verbunden.

Ferner brauchen die Lehrenden im Schulalltag endlich mehr Zeit für die Schüler, wozu eine Verbesserung der Schüler-Lehrer-Relationen dringend erforderlich ist. Wenn das, wie ich es wahrnehme, Konsens ist, dann muss es dieser Gesellschaft auch die erforderlichen 6 Milliarden Euro wert sein.

Und bisher haben wir noch nicht einmal über Inklusion gesprochen: Je nach Inklusionsquote – 80 bis 100 Prozent – müssen die Länder 3,5 bis 4,3 Milliarden Euro aufwenden, wollen sie tatsächlich Inklusion glaubwürdig umsetzen. Und nicht zuletzt ist auch die Sachausstattung in den Schulen mit 1,3 Milliarden Euro zu verbessern.


Abbildung 1: Die Staatsquoten (Ausgaben in Prozent des BIP) in ausgewählten Ländern 2015

Abbildung 2: Private und öffentliche Bildungsausgaben in Prozent des BIP im internationalen Vergleich (2012)

(Quelle: Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft: „Bildungsfinanzierung der öffentlichen Hand – Stand und Herausforderungen“)


Gut, das kann ich nachvollziehen. Und dennoch, ich spitze es zu: Während viele Schulen verrotten, die öffentliche Daseinsvorsorge immer weiter zu Markte getragen wird und selbst rote Regierungen ihren Sozialabbau als in Zeiten der „Schuldenbremse“ alternativlos rechtfertigen, fordern Sie Milliarden wie auf einem Wunschkonzert. Wo soll das Geld denn herkommen?

Das Geld ist da, und zwar ausreichend, was jedoch noch nicht da ist, ist die gerechte Verteilung des Wohlstands in unserem Land. Hierzu müssen endlich wieder die besonders Vermögenden und Wohlhabenden – sie profitieren weit überdurchschnittlich von dieser Gesellschaft – zur Verantwortung gezogen werden.

Auch diesbezüglich haben wir ein Gutachten veröffentlicht, in dem die Mehreinnahmen unseres GEW-Steuerkonzepts für das Jahr 2016 berechnet wurden: Ohne revolutionäre Änderungen lassen sich 99 Milliarden Euro mehr an Steuern einnehmen, und das bei einer Entlastung der unteren und mittleren Einkommen! Das schafft genügend Spielraum zur Finanzierung einer besseren öffentlichen Infrastruktur, zu der auch ein zukunftsfähiges Bildungswesen gehört.

Apropos: Selbst die Neoliberalen argumentieren in Teilen ja bereits mit „Vorfahrt für Bildung!“ und bedienen damit die Ideologie des „Jeder kann es schaffen!“, um den Sozialstaat weiter zerschlagen zu können. Will sagen: Der politische Gegner selbst gesteht dem Bildungsbereich eine Sonderrolle zu, will diesen mehr als andere fördern, um die anderen dann besser „zerschlagen“ zu können; dank „guter Bildung“ hätte ja, so die Mär, dann doch jeder eine „faire Chance“; und wer scheitert, ist eben … selbst schuld. Was halten Sie denn von dieser „Sonderrolle“ für Bildung? Von dieser Spaltung der gesellschaftlichen Interessen zugunsten „Ihres Bereiches“?

Da sprechen Sie einen wichtigen Sachverhalt an. Bildung ist zwar der Schlüssel für gesellschaftliche Teilhabe der Individuen, aber Bildungspolitik ist immer nur ein Teil der Sozialpolitik und kann diese nicht ersetzen. In gleicher Weise, wie wir ein gutes Bildungswesen benötigen, brauchen wir daher beispielsweise auch gute Erwerbsarbeit, eine gute Alterssicherung und eine gerechte Verteilung des gesellschaftlichen Wohlstands.

Ich bedanke mich für das Gespräch.


Ansgar Klinger, Jahrgang 1964, ist studierter Volkswirt. Nach dem Referendariat an beruflichen Schulen 1993 unterrichtete er zunächst drei Jahre an einer Berliner Schule. 1998 zog es ihn dann ans Willy-Brandt-Berufskolleg nach Duisburg. Bis zu seiner Wahl in den GEW-Vorstand gehörte Klinger seit 2004 der NRW-Landesfachgruppe Berufskolleg und seit 2006 der AG Bildungsfinanzierung beim GEW-Hauptvorstand an. Von 2009 bis 2013 war er Leiter des Referat C (Schulrecht, Bildungsfinanzierung und -statistik) der GEW Nordrhein-Westfalen.


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