Von sozialistischen und demokratischen Abstimmungsergebnissen

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„Auf Honeckers Spuren – Neunkirchen ist der Geburtsort Erich Honeckers, ein idealer Platz für den Parteitag der saarländischen Linkspartei. Und so wird Oskar Lafontaine mit beinahe sozialistischem Ergebnis zum Spitzenkandidaten gewählt: 92,4 Prozent.“ So schreibt der „stern“. Mit Erich Honecker und der Denunziation „realsozialistisch“ verbindet auch Bild am Sonntag vom 10.08.08. das Abstimmungsergebnis für Lafontaine zum Spitzenkandidaten der Linken im Saarland. Die Wahlergebnisse von Merkel, Westerwelle, Beck, Platzeck oder Roth, die genauso oder gar noch höher ausfielen, gelten jedoch als demokratisch. Wolfgang Lieb

Man mag ja Mehrheiten über 90 Prozent für befremdlich halten. Auch ich halte solche Abstimmungsergebnisse nicht gerade für einen Ausdruck von Meinungsvielfalt und einer ausgeprägten demokratischen Kultur in einer Partei.

Aber: Kurt Beck wurde auf dem Hamburger Parteitag der SPD am 29.10. 2007 mit einer Mehrheit von 95,5 Prozent als Parteivorsitzender wiedergewählt. Der brandenburgische Ministerpräsident ist im November 2005 gar mit 99,4 Prozent der Stimmen zum neuen SPD-Chef gewählt worden. Nur Kurt Schumacher in den Jahren 1947 und 1948 erzielte noch bessere Ergebnisse.

Angela Merkel wurde auf dem Parteitag der CDU in Dresden im November 2006 mit 93,06 Prozent im Amt der Parteivorsitzenden bestätigt.

Auf dem FDP-Parteitag vom Mai 2001 wurde Westerwelle mit über 89 Prozent der Stimmen zum neuen Bundesvorsitzenden der FDP gewählt.

Claudia Roth bekam im Jahr 2001 91,5 Prozent der Stimmen.

Keine Zeitung wäre auf die Idee gekommen, bei den Wahlen von Merkel, Westerwelle, Beck, Platzeck oder Roth von einem „beinahe sozialistischen Ergebnis“ zu reden, und schon gar nicht wäre etwa Angela Merkel unterstellt worden, sie wäre auf Honeckers Spuren.

Schlagzeile und Einleitungstext des „stern“ oder die Formulierungen in der BamS beweisen einmal mehr, mit welchen Verunglimpfungen gegen einen demokratisch gewählten Politiker vorgegangen wird, der nicht in die Linie passt. Solche Medien merken offenbar gar nicht mehr, dass gerade ihre Giftkampagnen der „realsozialistischen“ Hetze gegen den Klassen-„Feind“ aus vergangenen Tagen entsprechen.

Als jemand, der das Attentat auf Oskar Lafontaine als Augenzeuge miterleben musste, mache ich mir Sorgen, dass durch solche Diffamierungen ein Hasspotential erzeugt wird, das irregeleitete Menschen zu einem zweiten Anschlag auf ihn anstiften könnte.

Wie bei Benno Ohnesorg, Rudi Dutschke oder Wolfgang Schäuble will natürlich anschließend niemand der Schreibtischtäter gewesen sein.

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