„Vorsicht Volk!“, rufen die Pseudo-Linken

Rudolph Bauer
Ein Artikel von Rudolph Bauer

1967 erschien bei Suhrkamp die Untersuchung „Der hilflose Antifaschismus“. Darin unterzog Wolfgang Fritz Haug eine Reihe von akademischen Texten einer kritischen Analyse. Bei den Texten handelte es sich um die Manuskripte von Ringvorlesungen an mehreren Universitäten der Bundesrepublik. Sie beschäftigten sich mit der politischen Vergangenheit ihrer Disziplinen und Fakultäten während der Dauer der NS-Herrschaft. Zum Vorschein kam bei Haugs Untersuchung in vielen Fällen ein Antifaschismus, der die Muster und Bedingungen der Auseinandersetzung sich vom Gegner hat diktieren lassen. Sozio-ökonomische Bezüge und die Erklärung für die Herkunft faschistoider Dispositionen sind Fehlanzeige! Wer ein verhältnismäßig aktuelles Beispiel dieser Art von hilflosem Antifaschismus kennenzulernen wünscht, dem sei die Lektüre von „Vorsicht Volk!“ angeraten. „Vorsicht Volk!“ ist ein in Schwarz gebundener Sammelband mit 24 Beiträgen und einem Vorwort der Herausgeber Markus Liske und Manja Präkels. Letztere entstammen der Berliner Autoren- und Journalistenszene, sind heute über 40 (waren also im Beitrittsjahr 22 bzw. 15 Jahre alt), betreiben ausweislich ihrer Vita eine „Gedankenmanufaktur“ und publizieren in der Wochenzeitung „jungle world“ oder der „tageszeitung“ (taz). 2011 erschien, von beiden herausgegeben, die „Nachwende-Anthologie ‚Kaltland’“. Von Rudolph Bauer[*].

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Rechtsextreme Gewalt als Produktions- und Marketingkonzept

In die Buchhandlungen kam „Kaltland“, wie die Herausgeber im Vorwort berichten, im August 2011 „zum 20. Jahrestag des Pogroms von Hoyerswerda“, das eines der „für uns so prägenden Ereignisse der ersten Jahre nach Untergang und Beitritt der DDR“ gewesen ist (S. 9). Das Buch drohte ein Flop zu werden; „… dem Verlag galt das Projekt schon bei Veröffentlichung als gescheitert“ (ebd.) – wären da nicht drei Monate nach dem „Kaltland“-Erscheinen die vom „Nationalsozialistischen Untergrund“ (NSU) begangenen Morde aufgedeckt worden. „Nun interessierten sich plötzlich alle wieder für das Thema Rechtsextremismus.“ (S. 10)

Aus dieser Feststellung entnehme ich eine gewisse Erleichterung der Herausgeber sowie ihr spezielles Produktions- und Marketingkonzept. Erst „die seither ungebrochene Linie rechtsextremer Gewalttaten, ja, deren zunehmende ideologische Verankerung in der ‚Mitte der Gesellschaft’“ machten „Kaltland“ zum Erfolg: „So wurden wir mit dreimonatiger Verzögerung doch noch zu rastlosen Lesereisenden zwischen Freiburg und Greifswald.“ (Ebd.) Entsprechend ist auch die neue Anthologie „Vorsicht Volk!“ angelegt. Sie thematisiert eine „gefährliche Spirale völkischer Selbstbehauptung“ und einen „völkischen Neo-Nationalismus“ (S. 9), allerdings angereichert um weitere Wahngebilde, die im Pressetext des Verlages wie folgt zum hilflos antifaschistischen Newstrend hochgeputscht werden:

„Überall in Deutschland erobern wahnhafte Bewegungen die Straßen. Sie nennen sich Pegida, HoGeSa, Montagsmahnwachen, Reichsbürger oder Friedenswinter. Einige dieser Zusammenschlüsse sind offen antisemitisch, andere islamophob und wieder andere beides. Sie haben Angst vor Flüchtlingen, ‚Homosexualisierung’, Kondensstreifen oder einem geheimen weltjüdischen Kontrollrat. Ihre Helden heißen Wladimir Putin und Thilo Sarrazin, ihr gemeinsamer Gegner ist die ‚Lügenpresse’.“

Die pathologische Diagnose von Bewegungen im Wahn

Im Vorwort der Herausgeber fehlt weder die Wahn-Erwähnung der AfD noch die eines angeblichen Sammelbeckens „von Mitgliedern der Linkspartei, der Piratenpartei und der antiimperialistischen Szene“ (S. 7). Auf die rhetorische Frage der Herausgeber: „Eine rechte und eine linke Bewegung also?“, folgt die gleichmacherische Antwort: „Weit gefehlt. Die rechtsextreme NPD war hier wie dort vertreten, ebenso die ‚Reichsbürger’ und das Verschwörungstheoretiker-Milieu … Antisemiten, USA-Hasser, chauvinistische Putin-Freunde, Homophobe und Sarrazin-Fans finden sich in beiden Bewegungen. … Ressentiments und Erklärungsmuster für die gefühlte Bedrohung durch Flüchtlinge, Homo- und Transsexuelle, den Islam, die jüdisch-amerikanische Weltverschwörung oder fiese Chemtrails gleichen sich.“ (S. 7 f.)

Den gleichmacherischen Eintopf aus der Gedankenmanufaktur löffelnd, begegnen wir „Bewegungen im Wahn“. So lautet der (noch mit einem Fragezeichen versehene) Untertitel des Bandes. Die nivellierende Schein-Diagnose einer allgemeinen gesellschaftlichen Pathologie namens „Wahn“ genügt den Herausgebern und den meisten der im Band versammelten Autoren, sich jeglicher weiteren Differenzierung, Vertiefung und Ursachenanalyse zu enthalten. Dabei übersehen sie – gleichsam im Unkehrschluss – die eigenen „Ressentiments und Erklärungsmuster für die gefühlte Bedrohung“, welche sie, ausgehend vom Gegenstand ihrer Untersuchung, munter drauf los- und zusammenphantasieren.

Nach dem Muster des hilflosen Antifaschismus bringen sie das, wogegen sie wettern, nicht auf den politischen Begriff, sondern beschränken sich darauf, es abstrakt und undifferenziert zu negieren. Sie sind überzeugt, es bei den Gegenständen ihrer Kritik mit identischen Phänomenen zu tun zu haben. Unterschiedslos ist ihnen alles, was sie anprangern, ein und dasselbe: eine Folge von Wahn. Somit erliegen sie einer Vorstellungswelt der Gleichschaltung, bei welcher es sich selbst um ein krankhaftes Wahngebilde handeln dürfte

Querfrontgeschichten als hysterisches Menetekel

Ivo Bozic (Jahrgang 1968), Mitbegründer und Mitherausgeber von „jungle world“, entledigt sich der Sinnhaftigkeit einer politischen Differenzierung durch die Verwendung des Topos „Querfront“. Wie besessen subsumiert er darunter „Autonome und Neonazis“, „Nationalismus und Sozialismus“, Otto Strasser und Gerhard Zwerenz (alles auf S. 101). Geheimnisvoll stöhnt er zunächst: „Ach, es gibt schier unendlich viele Querfrontgeschichten aus Deutschland“. Sodann kommt er auf die Koalition der griechischen Syriza mit der nationalistischen ANEL zu sprechen (S. 102) und nennt es „so richtig undurchschaubar“, „wenn Nazis mit Palitüchern aufmarschieren, wenn linke Antisemiten und rechte Antikapitalisten das Wort ergreifen, Kommunisten und Nazis für Putin auf die Straße gehen, Linke, Faschos und Dschihadisten gemeinsam auf einem Soliboot nach Gaza schippern“ (S. 103).

„… zu allen Überfluss“ gebe es da noch „diese anderen Linken, die mit USA- und Israel-Flaggen auf Antifa-Demos aufkreuzen und die seinerzeit einem George W. Bush mehr abgewinnen konnten als einem Che Guevara“ (S. 103). Hallo?! Wer sich an dem vom Autor angerührten Einheitsbrei einer verschworenen „Querfront als weltpolitisches Phänomen“ (so der Titel es Beitrags) laben möchte, findet auf den Seiten 104 bis 110 weitere Nahrung aus der Büchse der Konfusion. Schließlich behauptet der nassforsche Autor eine „ideologische und historische Klammer, die zwischen Antikolonialismus, Antiimperialismus, Antizionismus und Antisemitismus bis heute besteht“ (S. 110). Zum Ende des Beitrags outet er sich verwirrt (und allesamt verwirrend) als Streiter für „Links“: „Es ergibt keinen Sinn, den rechten Linken abzusprechen, links zu sein, wir können nur versuchen, ein anderes, ein besseres Links zu definieren, und dafür streiten.“ (Ebd.)

Eine gewisse Aufwertung erhält ein derartiger Unfug durch den ebenfalls bei „Vorsicht Volk!“ schreibenden Klaus Lederer. Dieser ist bekanntlich Vorstandsmitglied und Landesvorsitzender der Partei Die Linke, für die er einen Sitz im Berliner Abgeordnetenhaus einnimmt. Sein Beitrag über „Die ‚neue Friedensbewegung’ und die Linke“ (so lautet der Untertitel) trägt die Überschrift „Ressentiment und Aufklärung“. Der Berliner Politiker befleißigt sich mit solcher Titelformulierung des Anscheins eines Aufgeklärten, dem Ressentiments fremd sind. Er schreibt: „Für zivile Konfliktbearbeitung statt militärischer Lösungen (!) einzutreten, erfordert Stringenz in der Argumentation und Glaubwürdigkeit.“ (S. 119) Diese vermisse er bei jenen, die er „schlichter, nicht selten esoterischer Erklärungsmuster“ bezichtigt. Er meint, dass solche Interpretationen „den Menschen angeboten werden, um sich im Wirrwarr gesellschaftlicher Komplexität leichter zurecht zu finden“ (S. 120 f.), „vermischt mit einfachen, altbekannten und populären Parolen und Codes traditionell linker Milieus“ (S. 122).

Klaus Lederer, Jutta Ditfurth und die Amadeu-Antonio-Stiftung

Der Tadel Lederers macht neugierig auf seine eigenen „Erklärungsmuster“. Diese beschränken sich allerdings darauf, für das Getadelte „die Weltsicht abstruser ‚alternativer’ Internetmedien und ihrer Propagandisten“ (S. 120) verantwortlich zu machen. Dabei scheut er sich nicht, auch Mitglieder der eigenen Partei an den Pranger zu stellen. Statt parteiintern mit ihnen eine Klärung herbeiführen zu wollen, watscht er sie öffentlichkeitswirksam ab: „Es ist schlicht unverantwortlich und definitiv nicht links, eine Liaison mit dem Ressentiment einzugehen, statt der Aufklärung verpflichtet zu agieren.“ (S. 127) Das ist Unterstellung und anmaßend.

„… der Aufklärung verpflichtet“, beschränkt sich Lederer auf krude Personalisierungen und auf die an „eine demokratische, emanzipatorische Linke“ adressierte Anschuldigung, dass „ihre Antworten zu oft selbstreferentiell, zu abstrakt und wenig lebenszugewandt sind“ (ebd.). Mir scheint, dass der Autor nicht zu erkennen vermag, wie er mit einer solchen Charakterisierung sich selbst gegenüber „selbstreferentiell“ in den Spiegel schaut. Eine politisch-ökonomische Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse sowie ihrer historischen und materiellen Voraussetzungen findet auch bei ihm nicht statt. Lieber werden dünne Bretter gebohrt, Oberflächenphänomene zu relevanten politischen Faktoren abstrahiert, um sodann „lebenszugewandt“ auf sie eindreschen zu können.

Wie bei Lederer, so kennzeichnen Personalisierung und Pönalisierung auch die Polemik von Jutta Ditfurth („Halt die Klappe bis Du denken kannt, Sigmar Gabriel!“), die Justizschelte des „Jungle World“-Redakteurs Deniz Yüzel („Antisemitismus? Ist abgeschafft.“) sowie die wilden Auslassungen aus der Gedankenfabrik der Amadeu-Antonio-Stiftung: ihrer Vorsitzenden Anetta Kahane sowie der Stiftungsmitarbeiter Jan Rathje und Anna Schmid.

Letztere zeigt sich erschrocken über das „Landleben in völkischer Idylle“ (S. 79). Sie erinnert daran, dass „Naturschutzgebiete, Körnerbuletten und FKK … immer schon offen für eine rechtslastige Auslegung“ waren (S. 80). Sie wettert über „Braune Graswurzelrevolution“ (S. 81), „knüppelharte Hebammen“ (S. 83) und „die netten Nazis von nebenan“ (ebd.). Die Welt erscheint alles in allem als Dantes Hölle und Fegefeuer in einem. Schmids Kollege Rathje referiert ellenlang über „Verschwörungsideologie mit deutscher Spezifik“, was sich wie folgt anhört:

„Die Bilderberger, das Finanzkapital und die Wall Street etwa stellen eine wirtschaftliche Elite dar, die in der Vergangenheit als jüdisch charakterisiert wurde. Hinter den personalisierenden (!) Angriffen gegen diese Elite steckt eine völkische Kapitalismuskritik, die in der Beseitigung des ‚raffenden’ Kapitals – als Gegensatz zum ‚schaffenden’ Kapital – die Lösung aller gesellschaftlichen Probleme sieht. In der Ideologie von der ‚antideutschen Weltverschwörung’ werden die weiteren unabänderlichen Eigenschaften der Verschwörerinnen und Verschwörer ebenfalls aus dem Fundus tradierter antisemitischer Stereotype zusammengestellt.“ (S. 95)

Sicht auf das Heute durch die Brille von vorgestern

Bezeichnend für die Gedankengänge von Rathje und anderen Autoren des Bandes ist ihre emotionale Fixierung auf ein bestimmtes Kapitel der deutschen Geschichte: auf die Nazis, deren Antisemitismus, den Arier-Rassismus, die völkische Ideologie, das Geraune von der jüdischen Weltverschwörung usw. Dabei werden zwar teils berechtigte Analogien aufgezeigt, aber auch fadenscheinige Parallelen herbeiphantasiert. Geschichte wird zur Leuchtrakete, um die Gegenwart zu erhellen. Auf diese Weise entsteht ein übles Gedankenkonglomerat und ein antifaschistisch drapiertes Meinungsgeschwurbel, das bei all denjenigen Akteuren eine Verschwörung wittert, die – wohlgemerkt – zunächst selbst bezichtigt worden sind, dem verschwörungstheoretischen Wahn erlegen zu sein. Mit anderen Worten: Diejenigen, die allüberall gegen Verschwörungstheoretiker zu Felde ziehen, generieren selbst ein Verschwörungsnarrativ: die ewige Querfront.

Weitere Probleme kommen hinzu. Erstens: Der Blick durch die Brille von vorgestern verzerrt die Gegenwart. Weil die Nazi-Schergen im nicht-arischen Kapitalismus eine jüdische Weltverschwörung erblickten, gilt nach dieser Lesart jede Kapitalismuskritik heute per se als antisemitisch. Weil Auschwitz fester Bestandteil „deutscher Identität“ ist, sei das Land verpflichtet, mit Waffengewalt weltweite Verantwortung für westliche Werte zu tragen. Weil sich die Wall Street in New York befindet, richte sich Kritik an den Boni der Banker gegen die USA, und die Kritiker seien Putin-Freunde. Zweitens: Beim Blick durch die Brille von vorgestern werden aktuelle Entwicklungen nicht erkannt bzw. nicht in ihrer gesellschaftlichen Problematik wahrgenommen. Zum Beispiel heißt es in Fokussierung auf den völkischen Rassismus zwar „Vorsicht Volk!“, aber nicht „Vorsicht Verfassungsschutz!“, „Vorsicht Militarismus!“, „Vorsicht Demokratieverlust!“, „Vorsicht Neoliberalismus!“, „Vorsicht Unterhaltungsindustrie!“, „Vorsicht Hartz IV!“ usw.

Über Sachsen und Dresden, von Weizsäcker und Gauck

Nicht alle Beiträge des Bandes sind so, wie die genannten, auf den üblen Rundumschlag nach allen Seiten hin ausgerichtet. Das Buch enthält mehrere Kolumnen über die Verhältnisse in Sachsen. Die Texte erhellten auf drastische Weise die Verderbtheit der gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse des Neu-Bundeslandes. Allerdings beschränken sich die Beiträge darauf, die Rolle der Subjekte und handelnden Akteure zu analysieren. Die systemischen Zusammenhänge werden indes nicht untersucht.

Markus Liske präsentiert eine Art historisch und aus der Topografie abgeleitetes Psychogramm Dresdens und des „völkischen Kleinbürgerressentiments“ seiner Bewohner, „die sich in den Pegida-Märschen Luft machten“ (S. 56). Kerstin Köditz beschreibt detailliert die dunkelbraune Melange von CDU und Burschenschaften, CDU und AfD, Pegida und Wissenschaft, Staatsregierung und „Totalitarismusforschung“. Ein intellektueller Genuss ist auch der Aufsatz des Titanic-Kolumnisten Stefan Gärtner, der sprachanalytisch die „identitätsstiftende Nationaldialektik“ der Bundespräsidenten von Richard von Weizsäcker bis hin zu den „Auftritten des heutigen Oberhauptes Gauck“ (S. 162) Revue passieren lässt.

Die Kulturwissenschaftlerin Konstanze Kriese etwa erörtert die „Erfahrung struktureller Diffamierung“ der „Nachwendegeneration im Osten“ (S. 48), die „unreflektierte Frustrationserfahrung“ durch den „Systemwechsel“ (S. 49), den „Erdrutsch an Verblödung“ durch die Flutung der „Hochschul- und Universitätsforschung in Ostdeutschland mit zweiten und dritten Westgarnituren“ (ebd.), die einstige „Verniedlichung des Rechtsradikalismus zum Jugendproblem“ (S. 50), und dass es der „Westexport Kurt Biedenkopf war, der als ‚König Kurt’ den sächsischen Boden quer durch alle Institutionen, in denen herrschende Eliten vor Ort agieren, gut bestellt hat“ (ebd.).

„Faust“ als moralisches Lehrstück und die Merkel’sche Umverteilung der Vermögen

Erwähnt sei zum Schluss noch der kluge Essay von Willi Jasper, des Potsdamer Professors für deutsch-jüdische Literatur- und Kunstgeschichte. Für ihn, den mit 71 Jahren ältesten der Autoren des Bandes, erweist sich Goethes „Faust“ als „das moralische Lehrstück der Deutschen schlechthin“ (S. 166). Heute sei „die europäische Krise – vor allem durch die Rolle Deutschlands – zum faustischen Problem geworden“ (S. 172). Jasper folgt den Thesen des Merkel-Biografen Stephan Hebel und referiert dessen Befunde über die Kanzlerin: „Durch schönfärberische Reden und Statistiken verschleiere sie ihre Politik der Umverteilung des Vermögens von unten nach oben und ihrer Dienerschaft für eine Wirtschaft, die sich vom Wachstum der Exportmärkte abhängig gemacht hat. Soziale Vernunft werde durch reine Machttaktik ersetzt.“ (S. 172) Merkel „denke in Wirklichkeit national statt europäisch, und ‚marktfundamentalistisch’ statt solidarisch“ (ebd.).

Bei Jasper bzw. Hebel wird erkennbar, dass die herrschende Politik längst den Boden dafür vorbereitet hat, auf direkte und indirekte Weise ein politisches Klima entstehen zu lassen, in dem sich Rechtsradikale und Neonazis, ihre Ideologien und Organisationen, bestens entwickeln, um in Zukunft ein faschistisches Gegengewicht darzustellen, sobald die gesellschaftlichen Verhältnisse unerträglich geworden sind. Mit dieser Sichtweise überragt der Autor des letztgenannten Beitrags die anderen Aufsätze des Bandes an intellektueller, wenn auch bildungsbürgerlich eingefärbter Sehschärfe.

Liegt das womöglich daran, dass der 1945 geborene Willi Jasper in größerer zeitlicher Nähe zur NS-Diktatur aufgewachsen ist und eine ganz andere Bildungsgeschichte aufweist (siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Willi_Jasper) als die Generation der sonstigen Autoren und Autorinnen? Mir scheint, diese sitzen im Glashaus und werfen mit den sprichwörtlichen Steinen nach den „Forentrollen“ (S. 15) in einer „unübersichtlichen, globalisierten Welt“ (S. 22) – in der sie selber leben und arbeiten. Sie mokieren sich über den „Sofa-Aktivismus“ der Twitter User (S. 24) – zu denen sie selbst gehören. Sie klagen, dass „Internet, hedonistischer Anti-Intellektualismus und das Fehlen konkreter ideologischer Gerüste“ (S. 35) an allem Schuld seien – als ob die meisten Verfasser des Bandes nicht selbst davon geprägt sind. Sie monieren, dass „einige der Antideutschen … endgültig ins neokonservative Lager gewechselt sind und für die Springer-Presse schreiben“ (S. 39) – und argumentieren selbst wie angehende Neocons. Sie rügen „kräfteraubende Debatten um die falschen Fragen, in denen im Kern eher Therapeutisches als Politisches verhandelt wird“ (S. 184) – und schwadronieren von den Phantasmagorien therapiebedürftiger „Bewegungen im Wahn“!

Gegen Ende findet sich an einer Stelle des Bandes ein erhellender Gedanke, der ein Licht auf die Buchmacher/innen zurückwirft: „Je größer die Zahl der Feinde, desto tapferer derjenige, der sich ihnen mit einer kleinen Schar Getreuer entgegenstellt.“ (S. 179) Denn auf diese Weise lasse sich „das Gefühl eigener Kleinheit besonders wirkungsvoll in eines der elitären Größe ummünzen“ (ebd.). In ihrer geifernden Gegnerschaft zur magisch aufgedunsenen Größe der angeblichen Querfrontler, Verschwörungsideologen, US-Hasser und Antisemiten verleihen die elitären Großmünzen ihrem Über-Ich die Superdimensionalität eines Antifaschismus, der eben doch nur das Ausmaß ihrer Hilflosigkeit verkörpert. Wir erleben in der Gedankenmanufaktur von „Vorsicht Volk!“ über weite Strecken das Elend jenes Geistes, der in unserer Sprache nicht ganz zu Unrecht sowohl Vernunft als auch Gespenst bedeutet.


[«*] Rudolph Bauer ist Politikwissenschaftler und war Professor an der Universität Bremen. Seine Beiträge zu aktuellen Fragen werden unter anderem in „Ossietzky“, „Marxistische Blätter“ und „junge Welt“ veröffentlicht. Eine italienische Übersetzung seiner Arbeiten erschien kürzlich im Verlag epubli und trägt den Titel „Nel mezzo di una guerra … per un pacifismo radicale“.