Globalisierte Gewalt

Emran Feroz
Ein Artikel von Emran Feroz

Anschläge und Attentate scheinen in diesen Tagen die Schlagzeilen zu dominieren. Die Frage nach den Gründen der Radikalisierung vieler junger Menschen steht jedoch weiterhin im Raum. Im Zeitalter von Sozialen Medien und Nachrichten-Livetickern dominieren vernünftige Antworten jedoch kaum den Diskurs. Von Emran Feroz

Ob nun in Nizza, Würzburg oder anderswo: Attentate mit einem sogenannten islamistischen Hintergrund scheinen sich in den letzten Tagen und Wochen vermehrt zu haben. Dies ist zumindest das Bild, was uns der mediale Mainstream vermitteln will und tagtäglich aufs Neue konstruiert. Konstruktion ist im Kontext der gegenwärtigen Berichterstattung der zentrale Begriff. Die Realität wird nämlich nie objektiv beschrieben, sondern stets subjektiv konstruiert. Das Gemenge dieser Konstruktion hat in diesen Tagen einen neuen Höhepunkt erreicht. Stets wird man von Eilmeldungen erreicht. Messerattacke hier, Macheten-Angriff und Explosion dort.

In den Vordergrund geraten hauptsächlich junge Männer, die aufgrund verschiedenster Motive unschuldige Menschen angreifen, sie schwer verletzen oder töten. Es steht außer Frage, dass ein solch verbrecherisches Verhalten nicht als „normal“ eingestuft werden kann. Genauso liegt es allerdings auch auf der Hand, dass niemand von heute auf morgen ohne jegliche Beweggründe zu einer Waffe greift. Der Fokus auf diese mittlerweile nahezu alltäglichen Radikalisierungsprozesse bleibt jedoch trotzdem aus. Stattdessen dominieren simple, zum großen Teil nichtssagende Antworten den Diskurs.

Jemand, der gute Antworten liefert, ist etwa Farhad Khosrokhavar. In seinem jüngst erschienenen Werk beschreibt der iranisch-französische Soziologe in detaillierter Manier, warum sich junge Menschen in diesen Tagen mitten in Europa radikalisieren. Obwohl sich Khosrokhavar in seiner Analyse nicht nur auf muslimische Migranten fokussiert, sondern etwa auch auf linken und rechten Extremismus, liefert er vor allem bei Ersteren besonders stichhaltige Punkte.

So stellt der Autor etwa fest, dass sowohl in Frankreich als auch in Deutschland die vorherrschenden politischen Systeme – ein extrem säkularer Laizismus einerseits sowie ein prägender Multikulturalismus andererseits – eine Rolle bei der Radikalisierung vieler Personen spielt. Selbiges gilt auch für die koloniale Vergangenheit der beiden Staaten, die vor allem in Frankreich kaum aufgearbeitet wurde. Stattdessen hat der europäische Kolonialismus weiterhin eine Gegenwart und Zukunft, wie etwa das französische und deutsche „Engagement“ in Nordafrika oder Ländern wie Afghanistan deutlich macht.

Produkte der Gesellschaft

In den Hintergrund geriet in den letzten Tagen etwa die Tatsache, dass Riaz A., der Axt-Mörder von Würzburg, vor Kurzem einen Freund in Afghanistan gewaltsam durch die „Ungläubigen“ verloren hat. In seiner Youtube-Ansprache auf Paschto, die von Medienkanälen des IS verbreitet wurde, machte der junge Afghane außerdem deutlich, dass er Rache nehmen wolle für das Leid, was die westliche Militärbesatzung über seine Heimat gebracht habe. So blutig und verachtenswert die Tat des Jugendlichen – Medienberichten zufolge war Riaz A. siebzehn Jahre jung – gewesen ist, so steht es außer Frage, dass sie einen direkten Zusammenhang mit der katastrophalen Lage Afghanistans hat. An dieser Lage trägt Deutschland maßgeblich Mitschuld.

Ähnlich verhält es sich mit Frankreich, welches seinen kolonialen Massenmord an über einer Million Algerier konsequent verdrängt und in Nordafrika weiterhin aggressiven Neokolonialismus betreibt. Es ist kein Zufall, dass viele Attentäter, welche die Grande Republique in den letzten Jahren heimgesucht haben, nordafrikanisch-arabische Namen haben. Die meisten dieser jungen Männer haben nämlich stets dasselbe Profil: Sie sind die Produkte einer zutiefst gespaltenen und ausbeuterischen Gesellschaft, an ihren Rand gedrängt und verfallen in Kriminalität. Diese jungen Menschen wussten, als was sie betrachtet werden, bevor sie ihre Bluttaten ausführten: Nämlich als Abschaum der Gesellschaft, den man auf der Champs Elysée nicht erblicken möchte.

Mit der islamischen Religion an sich hat das Ganze jedoch wenig zu tun. Nicht die Radikalisierung des Islam sei in diesen Tagen das größte Problem, sondern dass sich Radikalität immer öfter islamistisch kostümiere, meint etwa der französische Politologe Olivier Roy. Die Ideologie des IS, laut Roy zurzeit das „radikalste Produkt auf dem Markt“, kommt diesen Menschen gerade recht.

„Terrorismus ist der Krieg der Armen“

Politik hat immer und überall stets ihre Folgen. Es war naiv zu glauben, dass die Gewalt in gewissen Regionen dieser Welt nicht mit dem politischen Alltag in Europa zusammenhängt und sich permanent verdrängen lässt. Erst vor wenigen Tagen wurden Dutzende von Menschen abermals Opfer von Anschlägen der Anti-IS-Koalition in Syrien. Sie waren allesamt Zivilisten – solche, die vom medialen Mainstream oftmals voreilig als „IS-Terroristen“ betitelt werden. Ähnliche Szenarien sind auch anderswo zu beobachten, etwa in Pakistan, Afghanistan, dem Jemen oder Somalia, wo US-Präsident Barack Obama weiterhin mit seinen Drohnen morden lässt. Tausende von Menschen wurden in den vergangenen Jahren durch diese Art von Terrorismus getötet. Ihnen wurden allerdings keine großen Titelgeschichten gewidmet. Man kennt kaum ihre Gesichter und Namen – und daran wird sich auch nichts ändern.

„Terrorismus ist der Krieg der Armen und der Krieg ist der Terrorismus der Reichen“, schrieb Peter Ustinov einst. Die jüngsten Ereignisse machen abermals deutlich, wie recht er hatte. Weite Teile der Welt, allen voran die Region von Damaskus bis Kabul, erlebt in diesen Tagen einen Zenit der Gewalt. Laut den jüngsten UN-Zahlen wurden allein im Halbjahr 2016 in Afghanistan über 1.500 Kinder verletzt oder getötet. Zum gleichen Zeitpunkt nimmt der Todeskreislauf in Syrien, der laut aktuellen Schätzungen bereits über 400.000 Menschen das Leben gekostet hat, kein Ende.

Wer meint, dass die westliche Welt mit alldem nichts oder nur wenig zu tun hat, zeichnet ein falsches, abstruses, ja perverses Bild der Realität und wird ebenso wenig einsehen, dass die jüngste Gewalt vor unserer Haustür eng mit jener verwoben ist, über die kaum berichtet wird.

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