Wie viel Heuchelei verträgt unsere Demokratie? Hartz IV und die wirklich gefährlichen Kritiker

Ein Artikel von:

Die Schlagzeilen dieses Wochenendes lauten: Bundespräsident Köhler mahnt über Bild am Sonntag zu behutsamem Umgang bei der Anwendung der Arbeitsmarktreformen. Die CSU warnt, dass Kinder nicht die Opfer sein dürften, Grünen-Chef Bütikofer räumt im Deutschlandfunk Widersprüche bei Hartz IV ein, FDP-Fraktionschef Gerhard sieht laut Handelsblatt in der raschen Umsetzung der „Reform“ gar eine Gefährdung der Demokratie. Bis vor kurzem gingen ihnen diese „Reformen“ viel zu langsam und vor allem nicht weit genug. Jetzt, wo der Widerstand der Bevölkerung sich immer heftiger artikuliert, schlagen sie sich in die Büsche.

Vermutlich hat der neue Bundespräsident kein Gespür (mehr) dafür, was der normale Leser von „Bild am Sonntag“, der bekanntlich ja nicht zu den Betuchteren gehört, empfinden muss, wenn Horst Köhler sich auf dem Segelschiff „Atlanta“ interviewen und ablichten lässt. Nichts gegen einen verdienten Urlaub und warum nicht auf einer Segel-Yacht? Aber dass man von dort aus verkünden muss „Wir leben in Deutschland über unsere Verhältnisse“, dürfte auf einen Betroffenen der Hartz-IV-Reformen ziemlich zynisch wirken. Mit dem Wochen-Mietpreis für ein solches Boot könnte vermutlich ein künftiger Alg 2-Bezieher Monate lang seinen Lebensunterhalt bestreiten.

Sicherlich die „Verhältnisse“ des Bundespräsidenten sind nicht so, dass ein Segeltörn im Urlaub an der Ostsee über seinen Verhältnissen läge und Neid wollen wir gar nicht erst aufkommen lassen. Aber Heinrich Heine fällt einem da schon ein: „Ich kenne die Weise, ich kenne den Text, ich kenn auch die Herren Verfasser, sie trinken heimlich Wein und predigen öffentlich Wasser.“
Aber diese Erfahrung hat ja offenbar schon Heine gemacht und ist also nicht sonderlich neu. Neu bei Horst Köhler ist, dass er, nachdem der Protest gegen die „Agenda-Politik“ immer manifester wird, plötzlich warnt: „Die Politik muss aufmerksam sein, die Ängste der Menschen erst nehmen und bereit sein, vernünftige Verbesserungsvorschläge der Bürger aufzunehmen“.

Hat er nicht in seiner Antrittsrede erst kürzlich noch verkündet: „Die Agenda 2010 weist in die richtige Richtung. Was wir jetzt brauchen ist Konsequenz und Stetigkeit bei der Fortsetzung des Weges…Wir können uns trotz aller Wahlen kein einziges verlorenes Jahr für die Erneuerung Deutschlands mehr leisten.“

Hat der Bundespräsident, der sich ja auch in diesem BamS-Interview wieder einmal zum Bundes-Chefkommentator zur tagespolitischen Lage – vom Kündigungsschutz bis zu den Studiengebühren – aufschwingt, mit seiner jetzt geäußerten Sorge, dazu gelernt? Es spräche ja für ihn.

Es spricht aber mehr dafür, dass er wie Wolfgang Gerhard oder Markus Söder oder Reinhard Bütikofer jetzt, wo es anfängt brenzlig zu werden, sich einfach in die Büsche schlägt.

Die Ablehnung und die Kritik der „NachDenkSeiten“ an der Agenda und den Hartz-„Reformen“ haben wir vielfach deutlich gemacht. Wir haben also den Druck, den Wolfgang Clement macht und seine Kritik an dem Begriff „Montagsdemonstrationen“ nicht zu verteidigen. Was CDU, CSU und FDP aber betreiben, ist eine Doppelzüngigkeit und Heuchelei, die tatsächlich „für unsere Demokratie gefährlich sein kann“ (Gerhard in der FAZ am Sonntag). Die Kinder der Arbeitlosengeld-II-Bezieher sollten doch viel weniger auf ihren Konten haben dürfen, die Vermögensfreibeträge sollten doch noch erheblich niedriger sein. Nichts ging weit genug und alles ging viel zu langsam. Wer das jetzt plötzlich alles leugnen und vergessen machen will, wer jetzt den Scheinheiligen mimt, der – und nicht etwa die Gewerkschaften oder die Demonstranten – trägt die Verantwortung dafür, dass nach einer Forsa-Umfrage zwei Drittel der Befragten kein Vertrauen mehr in die Politik haben. Und wenn das Vertrauen der überwiegenden Mehrheit in die Glaubwürdigkeit der Politiker und der Politik abhanden kommt, dann ist das für unsere Demokratie wirklich gefährlich.