Zerstörte Ordnung am Arbeitsmarkt (3): Globalisierung – und Deutschland als schlechtes Vorbild

Patrick Schreiner
Ein Artikel von Patrick Schreiner

Die Welt ist kleiner geworden, der Handel und die Produktion von Waren und Dienstleistungen ist heute weltweit verflochten. Die Globalisierung schreitet voran – und gilt weiten Teilen der politischen Klasse als unumgängliche Entwicklung. Dass sie das nicht ist und dennoch als Argument für den Abbau von Rechten der Beschäftigten herhalten muss, skizziert Patrick Schreiner [*] in Teil 3 der Artikelreihe.

Unter Globalisierung wird im Allgemeinen eine immer engere internationale Verflechtung auf verschiedensten Gebieten verstanden, insbesondere aber in Politik, Wirtschaft und Kultur. Als solche ist Globalisierung keineswegs neu: So war es etwa schon in den 1920er Jahren zu einem intensiveren weltweiten Austausch von Waren, Dienstleistungen und Kapital gekommen. Auch Politik und Kultur hatten sich damals – verglichen mit den Jahrzehnten zuvor – deutlich stärker international ausgerichtet (man denke etwa an die Gründung des Völkerbunds oder an frühe Weltstars wie Josephine Baker oder Marlene Dietrich.) Nachdem eine striktere Regulierung von Märkten in der unmittelbaren Nachkriegszeit Globalisierungsprozesse zunächst ausgebremst hatte, nahmen diese ab den späten 1970er und 1980er Jahren wieder verstärkt Fahrt auf.

Die Gründe dafür waren sicherlich vielfältig. So spielten technologische Neuerungen eine wichtige Rolle: Dank Automobil, Lastkraftwagen und Flugzeugen wurde der Transport von Menschen und Gütern auch über weite Distanzen hinweg billiger und schneller. Das gleiche galt dank Computern und – später – dem Internet auch für die grenzüberschreitende Kommunikation. Solche technologischen Voraussetzungen sind allerdings nur notwendige, keineswegs hinreichende Bedingungen: Ohne entsprechende politische Entscheidungen im Rahmen eines zunächst auf den “Westen” und seine Peripheriestaaten beschränkten neoliberalen Politikwechsels hätte es die Globalisierung in der uns bekannten Form nicht gegeben. So wurden Kapitalverkehrskontrollen abgebaut, flexible Wechselkurssysteme eingeführt und Waren- sowie Dienstleistungsmärkte im Rahmen von Freihandelsabkommen bzw. –zonen liberalisiert. Auch die europäische Integration, die im Kern auf einer Freihandelszone beruht, ist in diesen Rahmen einzuordnen. Und auch die in Teil 1 dieser Artikelreihe skizzierten Privatisierungs- und Liberalisierungsmaßnahmen sind in diesem Kontext zu sehen. Kapital wurde im globalen Maßstab mobil, es entstanden internationale Finanzmärkte (Eichengreen 2008; Stützle 2013: 128-133).

Damit verschärfte sich die internationale Konkurrenz zwischen Unternehmen, Menschen und Staaten. Galten in der Nachkriegszeit etwa hohe Lohnsteigerungen noch als angemessene Mittel zur Steigerung der volkswirtschaftlichen Nachfrage und des Wohlstands, so galten sie im Zeitalter der Globalisierung und des internationalen Handels zunehmend als schädlich und (zu) teuer. Gleiches galt und gilt für andere historische Errungenschaften der abhängig Beschäftigten: etwa für Sozialleistungen, Mitbestimmung und Kündigungsschutz. Die Mobilität des Kapitals machte Beschäftigte und Staaten entsprechend erpressbar: Hohe Kosten konnten zur Abwanderung von Unternehmen oder zur Verlagerung ihrer Produktion führen, hohe Steuern auf Vermögen und Gewinneinkommen wurden zumindest für einzelne Staaten immer schwerer durchsetzbar.

Globalisierung könnte natürlich auch anders gedacht und reguliert werden. Dann wäre das Ziel einer Ausweitung des internationalen Handels tatsächlich, den Wohlstand zu erhöhen. Und zwar für alle Menschen in allen Ländern. Über die Mechanismen, durch die internationaler Handel überhaupt zusätzlichen Wohlstand schaffen kann, gibt es verschiedene Theorien. Eine durchaus schlüssige ist, dass die Verschärfung der Konkurrenz den Druck auf die Unternehmen erhöht, innovativer und produktiver zu sein als die Wettbewerber. Auf gesamtwirtschaftlicher Ebene hat dies den Effekt, dass Waren und Dienstleistungen in größerer Anzahl und besserer Qualität hergestellt werden.

Allerdings gibt es noch einen zweiten Weg, um in zunehmender internationaler Konkurrenz zu bestehen: Durch die Senkung von Löhnen und Steuern, durch den Abbau der “Lohnnebenkosten” und durch die Flexibilisierung der Arbeitsbedingungen und Arbeitszeiten kann sich ein Unternehmen Vorteile gegenüber der Konkurrenz verschaffen. Und eine Regierung hat die Möglichkeit, durch entsprechende politische Maßnahmen die Unternehmen des eigenen Landes gegenüber denen anderer Länder zu bevorteilen. Das ist der Weg, den Deutschland seinen Unternehmen eröffnet hat. Es ist der Hintergrund der sozial- und arbeitsmarktpolitischen Debatten, die Thema in Teil 2 dieser Artikelreihe waren.

Wie aber bringt und zwingt man Unternehmen stattdessen dazu, auf Innovation, Investitionen und höhere Produktivität zu setzen? Wie verhindert man, dass Unternehmen oder Staaten Billig-Strategien verfolgen? Auf einzelstaatlicher Ebene vorrangig durch soziale Sicherungssysteme sowie durch Tarifvertragssysteme, die möglichst alle Arbeitgeber und alle abhängig Beschäftigten erfassen. Solche Systeme setzen für alle hohe, gleiche und verbindliche Standards bei Löhnen und Arbeitsbedingungen. So bleiben den Unternehmen nur Innovation, Investition und Produktivität, um gegen andere Unternehmen zu bestehen. „Besser statt billiger“ nannte die IG Metall vor wenigen Jahren diese Strategie.

Wenn es nun allerdings um Globalisierung und Freihandel geht, scheinen diese – eigentlich wohlbekannten – Zusammenhänge vergessen (Schreiner 2015). Dabei bräuchte es gerade auch hier gemeinsame Höchststandards für alle Länder in den Bereichen Arbeit, Umwelt, Steuern und Soziales. Sie könnten Konkurrenz zwischen den Ländern unterbinden – Konkurrenz zwischen Unternehmen um möglichst gute, effizient produzierte Produkte wäre dann die Konsequenz. Ökonomisch schwächere Länder könnte man durch zusätzliche Schutzmaßnahmen davor schützen, von den stärkeren überrollt zu werden.

Doch die Realität ist eine andere: Freihandelsabkommen und einzelstaatliche Deregulierungsprogramme verschärfen die Konkurrenz zwischen den Ländern und Unternehmen. Von Höchststandards, die funktional etwa einzelstaatlichen Tarifvertragssystemen entsprächen, kann nicht die Rede sein. Unternehmen können sich freuen – sie haben jede Möglichkeit, Regierungen und Staaten unter Druck zu setzen. Die wiederum singen das Lied von der Alternativlosigkeit einer neoliberalen Standortpolitik, um in der internationalen Konkurrenz wettbewerbsfähig zu bleiben. Es ist das Lied der unumgänglichen Globalisierung.

Dass solche Argumente bis heute die Wirtschafts- und Sozialpolitik Deutschlands und Europas bestimmen, zeigt sich nicht zuletzt im Umgang mit der Eurokrise. Die Austeritäts- und Kürzungspolitik, die die EU-Kommission und die Europäische Zentralbank gegenüber den Krisenstaaten (mit energischer Unterstützung der deutschen Bundesregierung und der Bundesbank) durchgesetzt haben, beruht auf der Annahme, dass Löhne, „Lohnnebenkosten“ und Kündigungsschutz in den betreffenden Ländern zu hoch seien. Sie sollen gesenkt werden, um in der globalisierten Konkurrenz gegenüber anderen Ländern wieder “wettbewerbsfähig” zu werden. So heißt es im ersten “Anpassungsprogramm” der EU-Kommission für Griechenland:

Neben kurzfristigen Anti-Krisen-Maßnahmen ist es notwendig, eine ambitionierte Agenda an Strukturreformen vorzubereiten und umzusetzen, um die externe Wettbewerbsfähigkeit zu stärken […]. Reformen sind insbesondere notwendig, um den öffentlichen Sektor zu modernisieren, Produkt- und Arbeitsmärkte effizienter und flexibler zu machen und für einheimische sowie ausländische Investoren ein offeneres und zugänglicheres Wirtschaftsumfeld zu schaffen […] (Europäische Kommission 2010: 10).

An zahlreichen späteren Stellen im Papier wird anschließend explizit ausformuliert, was unter “effizienteren” und “flexibleren” Arbeitsmärkten zu verstehen ist: insbesondere niedrigere Löhne, geringere Sozialleistungen, schwächere Gewerkschaften und ein reduzierter Kündigungsschutz. Staatsausgaben sollen reduziert, der öffentliche Dienst verkleinert werden (was einmal mehr die Beschäftigten indirekt schwächt und arbeitsmarktpolitische Handlungsmöglichkeiten reduziert). Auch Privatisierungen gehören zum Portfolio der erwünschten Maßnahmen – mit den entsprechenden indirekten schädlichen Auswirkungen auf die Situation der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.

Ziel dieser Politik – von den Bundesregierungen unter CDU-Kanzlerin (seit 2005) Angela Merkel massiv mit vorangetrieben – ist letztlich das, was Deutschland und wenige andere Staaten Europas vorgemacht haben: Die Staaten der Eurozone sollen in der globalen Konkurrenz zwischen Produktionsstandorten so billig werden, dass sie Exportüberschüsse erzielen. Das Problem an einer solchen Strategie, wenn es denn überhaupt eine ist, ist bekannt: Solange die Erde nicht auf den Mars oder die Venus exportiert, müssen den Exportüberschüssen der einen Länder notwendig Importüberschüsse (und damit Schulden) der anderen Länder gegenüberstehen (Grunert 2016). Woraufhin diese anderen Länder mit einiger Wahrscheinlichkeit gleichfalls mit dem Senken ihrer Produktionskosten, also mit mehr Flexibilität am Arbeitsmarkt, mit dem Abbau von Arbeitnehmerrechten, mit dem Senken von Löhnen und „Lohnnebenkosten“ reagieren. Eine Spirale nach unten ist längst in Gang gekommen.

Papiere, Programme und Beschlüsse aus Brüssel mit einer solchen Stoßrichtung gibt es mittlerweile viele: Erinnert sei an den „Fiskalpakt“, an Six-Pack, an das Fünf-Präsidenten-Papier und andere. Solche neoliberalen politischen Ansätze ziehen sich durch alle „Reformanstrengungen“, die seit Ausbruch der großen Finanz- und Wirtschaftskrise in Europa unternommen werden (Schreiner 2014): Deutschland mit seinen Privatisierungen und seiner Arbeitsmarktpolitik ist in gewisser Weise zum Beispiel und Vorbild geworden. Und zwar keineswegs nur mit seiner „Agenda 2010“. Ohne deren fatale Auswirkungen (Jaworski 2016) herunterspielen zu wollen: Der neoliberale Zeitgeist ist älter; in der deutschen Arbeitsmarktpolitik wirkt er seit mindestens den frühen 1980er Jahren.

Dem katholischen Sozialphilosophen Friedhelm Hengsbach ist sicherlich Recht zu geben, wenn er feststellt:

Inzwischen hat die politische Klasse mit ihren angeblichen Reformen bewirkt, dass die ungleiche Verteilung der Einkommen und Vermögen größer geworden ist und die Schere zwischen denen, die an dem wachsenden Reichtum beteiligt und denen, die davon ausgeschlossen sind, sich geöffnet hat. Eine Mehrheit der Bevölkerung merkt, dass der Verzicht und die Bescheidenheit der einen bloß die Ansprüche und Gewinne der anderen vergrößert hat.

Im Ergebnis dieser Politik ist die Ordnung am deutschen Arbeitsmarkt zerstört. Soziale Ungleichheit nimmt drastisch zu. In anderen europäischen Staaten sieht es nicht besser, sondern oft noch schlechter aus. Und die Aussichten für die Zukunft stimmen eher pessimistisch. Führt man sich vor Augen, dass Erwerbsarbeit für die Mehrzahl der Menschen nach wie vor von grundsätzlicher existenzieller Bedeutung ist, dann wird deutlich: Hier werden Existenzen kaputtgemacht – und mit ihnen die Grundlage für das Zusammenleben in unseren Gesellschaften.


Literatur

  • Abelshauser, Werner (2004): Deutsche Wirtschaftsgeschichte seit 1945. Bonn.
  • Beck, Stefan (2014): Vom Fordistischen zum Kompetitiven Merkantilismus. Die Exportorientierung der Bundesrepublik Deutschland zwischen Wirtschaftswunder und Europäischer Krise. Marburg.
  • Bertram, Christoph/ Zundel, Rolf (1985): „Ich bin zufrieden mit dem Erfolg“. Interview mit Helmut Kohl. (04.08.2016).
  • Bontrup, Heinz-Josef (2004): Zu hohe Löhne und Lohnnebenkosten: Eine ökonomische Mär. In: WSI Mitteilungen 6 (2004). S. 313-318.
  • Bothfeld, Silke/ Ullmann, Karen (2004): Kündigungsschutz in der betrieblichen Praxis. Nicht Schreckgespenst, sondern Sündenbock. In: WSI Mitteilungen 5 (2004). S. 262-270.
  • Brandt, Torsten/ Schulten, Thorsten (2008): Auswirkungen von Privatisierung und Liberalisierung auf die Tarifpolitik in Deutschland. Ein vergleichender Überblick. In: Brandt, Torsten/ Schulten, Thorsten et al. (Hg.): Europa im Ausverkauf. Liberalisierung und Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen und ihre Folgen für die Tarifpolitik. Hamburg. S. 68-91.
  • Brütt, Christian (2011): Workfare als Mindestsicherung. Von der Sozialhilfe zu Hartz IV – Deutsche Sozialpolitik 1962 bis 2005. Bielefeld.
  • Butterwegge, Christoph (2014): Krise und Zukunft des Sozialstaates. 5. Auflage. Wiesbaden.
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  • Europäische Kommission (2010): The Economic Adjustment Programme for Greece. (25.04.2015). Brüssel.
  • Flecker, Jörg (2014): Was ist da schiefgegangen? Liberalisierung öffentlicher Dienstleistungen und die Qualität der Beschäftigung. In: Prausmüller, Oliver/ Wagner, Alice (Hg.): Reclaim Public Services. Bilanz und Alternativen zur neoliberalen Privatisierungspolitik. Hamburg. S. 25-40.
  • Grunert, Günther (2016): Deutsche Exportüberschüsse – absurd und populär. (05.08.2016).
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  • Kleinknecht, Alfred (2013): Schadet die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes der Innovation? (04.08.2013).
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  • Schreiner, Patrick (2014): Krisenpolitik in der EU: Lohnquoten im freien Fall. (04.08.2016).
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  • Treeck, Till van (2014): Globale Ungleichgewichte im Außenhandel und der deutsche Exportüberschuss. (05.08.2016).
  • Zohlnhöfer, Reimut (2001): Die Wirtschaftspolitik der Ära Kohl. Eine Analyse der Schlüsselentscheidungen in den Politikfeldern Finanzen, Arbeit und Entstaatlichung, 1982-1998. Wiesbaden.

[«*] Patrick Schreiner lebt und arbeitet als hauptamtlicher Gewerkschafter in Berlin. Er schreibt regelmäßig für die NachDenkSeiten zu wirtschafts-, sozial- und verteilungspolitischen Themen.