Was den “freien” Westen zusammenhält: Ein strammes Feindbild und Scheinheiligkeit. Und als Schlagobers eine ordentliche Portion Propaganda.

Albrecht Müller
Ein Artikel von:
Albrecht Müller

Weil ich erlebe, wie denkende und sogar engagierte Mitmenschen auf diese Mixtur hereinfallen, kann ich nur noch sarkastisch darüber schreiben. Menschen, die in den 80iger Jahren noch gegen die Nachrüstung demonstrierten, tragen die neue Konfrontation mit Russland mit, übernehmen das neugezimmerte Feindbild, selbst bei Demonstrationen gegen CETA und TTIP. Und sie glauben den westlichen Meinungsführern ihre scheinheiligen Parolen zur Qualität des Lebens in der „freien Welt“: Wohlstand für alle, Demokratie und Menschenrechte. Ein NachDenkSeiten-Leser, berichtet, wie selbst bei Demonstranten gegen die Freihandelsabkommen die Propaganda gegen den neu-alten Feind wirkt. Albrecht Müller.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Seine Mail erhielten wir als Antwort auf unsere Frage nach Erfahrungen mit Campact. (Siehe hier Ist Campact zu trauen? M. E. nicht. Machen Sie Ihre eigene Prüfung und – wenn möglich – Recherche. ) Über die spannenden Antworten berichten wir in wenigen Tagen.

Heute vorweg die lesenswerte Mail von Martin zum erfolgreichen Aufbau unseres Feindbildes. Das passt gerade auch zum Besuch Putins in Berlin und einigen „freundlichen“ Kommentaren in unseren Medien:

„hallo nachdenkseitler,

bezüglich campact habe ich in stuttgart auf der TTIP/CETA demo einen jungen russen getroffen und mich eine weile mit ihm unterhalten. er trug eine große, russische flagge an einer holzstange über kopf.

die reaktionen der umstehenden/umgehenden waren weit überwiegend sehr negativ bis offen beleidigend und aggressiv.

obwohl der russe immer wieder auf sein anliegen hinwies, dass mit “freihandelsabkommen” zwischen amerika und europa, unter anderem russland weiter isoliert werden solle und er die, überall auf den veranstalterplakaten zu lesende, ausdrückliche aufforderung antiamerikanismus nicht zu dulden, demokratisch zu ergänzen gewillt war, wurde er als faschist, putinfreund, kriegstreiber… oder schlicht als dummkopf tituliert.

beängstigend wie wenig, selbst bei teilnehmern einer so hoch politischen demonstration, die fähigkeit zur reflektion und der wille zu weiter gefasster informationsuche ausgebildet zu sein scheint.

nachdem ich mich, für die umstehenden offensichtlich, mit der position des russen gemein gemacht hatte, bekam auch ich von anderen demo teilnehmern teils grenzwertige dinge gesagt.

die propaganda wirkt!

bitte machen sie weiter so mit ihren NDS!

liebe grüße martin“

„Beängstigend wie wenig, selbst bei teilnehmern einer so hoch politischen demonstration, die fähigkeit zur reflektion und der wille zu weiter gefasster informationssuche ausgebildet zu sein scheint.“, schreibt Martin und dies entspricht auch der Beobachtung anderer Leserinnen und Leser der NachDenkSeiten.

Die Propaganda wirkt. Das Feindbild ist erfolgreich gemalt. Orwell ist mal wieder bestätigt:

„Und wenn alle anderen die von der Partei verbreitete Lüge glaubten – wenn alle Aufzeichnungen gleich lauteten – dann ging die Lüge in die Geschichte ein und wurde Wahrheit.“ (George Orwell, 1984)

Es ist beängstigend, wie schnell auch nachdenkliche, gut ausgebildete früher einmal kritische und sogar linke Zeitgenossinnen und Genossen den großen Fortschritt von 1990 vergessen haben, als es hier in Europa keinen Feind mehr gab und keine Konfrontation.

Es ist beängstigend, wie einfach und erfolgreich unter den Teppich gekehrt wird, dass wir 1990 vereinbart hatten, dass West und Ost wirtschaftlich eng miteinander verflochten werden sollen, um des Warenaustauschs und des Wohlstands willen, aber auch, um uns gegenseitig ein Stück weit abhängig voneinander zu machen. Das war die friedenspolitische Absicht. – Alles weg!, In nur 25 Jahren! Jedenfalls kann die Politik und können die Ideologen jetzt wieder auf der Klaviatur der Feindseligkeit spielen.

Es ist beängstigend, wie modellhaft der Aufbau des neuen Feindbildes abläuft: Personalisierung, Rückgriff auf alte Vorurteile gegen die Slawen. Man hat den Eindruck, die Völker scheinen Feinde zu brauchen, jedenfalls spielen die sogenannten Eliten mit dem Einsatz der Personalisierung und Diffamierung. Das ist lange eingeübt und hat ganz ähnliche Muster. In Bezug auf Deutschland könnte man sagen: Was uns früher der Jude war, ist uns heute der Russe. Noch nicht ganz so schlimm. Aber ebenfalls mit rassistischen Untertönen und Grundmustern. Und angetrieben vom Motiv, eigenes Ungemach auf andere Völker und Rassen abzuschieben.

Es ist beängstigend, welche aggressiven und offen kriegslüsternen Töne zu vernehmen sind.

Das Skizzieren und Ausmalen des Bösen wird verbunden mit einer Glorifizierung des Guten und der Guten.

In letzter Zeit hört man erstaunlich oft Sprüche über die „freie Welt“ – über Freiheit und Demokratie, über Wohlstand und Menschenrechte, über Frieden und Sicherheit. Die Grünen zum Beispiel üben diese mit die jeden Tag neu.

Der kanadische Professor Michael Jabara CARLEY nennt das die Hypocrisy des Westens. Scheinheiligkeit scheint mir die korrekte Übersetzung zu sein. Eine Übersetzung des Textes bringen wir in den nächsten Tagen. Hier folgt der Link auf den englischen Text und ein passendes Foto vom Singen in der Kirche:

Michael Jabara CARLEY | 16.10.2016 | OPINION

Western Hypocrisy, and Why It Makes the World a Dangerous Place

Der kanadische Professor behandelt vor allem die sicherheitspolitische Seite unserer westlichen Scheinheiligkeit. Für viele Menschen und für unsere Kinder und Enkel wichtig und bedrückend ist auch die Verschleierung der sozialen Zustände und des Raubbaus, den wir auf dieser Erde betreiben. Dazu nur ein paar wenige Hinweise, als Stichworte:

  • Ein beachtlicher Teil auch unserer deutschen Gesellschaft lebt nicht im Wohlstand. Stattdessen in prekären Arbeitsverhältnissen, verschuldet und überschuldet.
  • Anderen Völkern geht es noch schlechter. Den Griechen zum Beispiel. Nicht nur diesen. Auch ein wachsender Anteil von Menschen zum Beispiel auf dem Balkan oder in Italien lebt in ökonomisch und sozial absolut unsicheren Verhältnissen.
  • Die Privatisierung hat sich bei der Vorsorge für das Alter, bei der Versorgung mit Gütern des öffentlichen Bedarfs, bei Post, bei Energie, bei Wasser, usw. als Flop erwiesen. Und es wird dennoch genau so weitergemacht und das Tempo verschärft. Typisch dafür ist die Haltung der EU zum Dienstleistungsabkommen. Dieses TISA soll offensichtlich durchgepeitscht werden.
  • Unsere Meere sind überfischt und mit Plastik zugeschüttet.
  • Die üblichen spätsommerlichen Mückenschwärme sind verschwunden oder dezimiert, und mit ihnen viele Vögel. Der Artenverlust des dramatisch.
  • Vieles geschieht ohne Rücksicht auf die Wünsche und den Willen der Mehrheit unseres Volkes und der anderen Völker. Die Medienkonzentration und die Zusammenarbeit der Medien mit anderen Wirtschaftszweigen wie mit der Finanzwirtschaft nimmt zu. Von demokratischer Willensbildung sind nur noch Spuren zu sehen. Die Freihandelsabkommen wie auch die neue Aufrüstung sind gute Beispiele dafür.

Sie könnten aus eigener Erfahrung sicher gravierende Punkte hinzufügen. Wie man angesichts dieser Zustände von unserer „freien Welt“ schwärmen kann? Das geschieht und funktioniert, weil die Schwärmenden eng miteinander verbunden sind und viele Meinungsmacher sich briefen lassen. Von der NATO zum Beispiel.

Propaganda und Public Relations erweisen sich immer mehr als die zentralen Erfindungen der westlichen Welt.