Wie die westliche Heuchelei die Welt noch gefährlicher macht

Jens Berger
Ein Artikel von:
Michael Jabra Carley

Der Westen ist immer ein großer, geschäftiger Umschlagplatz der Heuchelei gewesen, der sich selbst als liberal, progressiv, zivilisiert und demokratisch hinstellt. Man kennt die entsprechenden Phrasen; die Liste ist sehr lang. Nehmen wir nur die Vereinigten Staaten – sie sind die „leuchtende Stadt auf dem Hügel“: gerecht, uneigennützig, demokratisch, und mit einer „Mission, die demokratischen Freiheiten auf der ganzen Welt zu verbreiten“. Von Michael Jabra Carley [*]

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Der Artikel ist zuerst in Englisch auf den Seiten der Strategic Culture Foundation erschienen.

„Unsere Sache ist immer die Sache der gesamten Menschheit gewesen“, erklärte Lyndon Johnson während des Präsidentschaftswahlkampfs 1964. Um seinem Argument Rückendeckung zu geben, zitierte Johnson Präsident Woodrow Wilson, der ähnliche Dinge über die Tugendhaftigkeit der USA zu sagen hatte. Seitdem hat sich nichts geändert: Man höre sich nur an, wie Präsident Obama über den Altruismus der Vereinigten Staaten spricht: „Wir sind die Ausnahmenation“, sagt er häufig.

Diese westlichen, besonders aber US-amerikanischen angeblichen Tugenden werden ins Feld geführt, um politische Strategien, Krieg und verdeckte Aktivitäten zu rechtfertigen, die alles andere als tugendhaft sind. Beginnen wir mit Präsident Wilson. Er ist am besten für die „Vierzehn Punkte“ bekannt, das heißt, nationale Selbstbestimmung, „Demokratie“, öffentliche Abkommen und so weiter. „Tut, was ich euch sage, nicht, was ich selber tue“, hätte Wilson in den Hinterzimmern der Diplomatie hinzufügen können. So sah er zum Beispiel keine „Selbstbestimmung“ für die Philippinen (eine US-Kolonie) oder, in den USA selbst, für die amerikanischen „Neger“ vor.

Dazu muss man wissen, dass Wilson ein Anhänger der Rassentrennung und ein Unterstützer der Rassengesetze und des Ku Klux Klan war. Er war der Meinung, „wir“ bräuchten den Ku Klux Klan, um die „Farbigen“ in Schach zu halten, besonders die, die aus Frankreich zurückkamen, wo sie in der US-Armee gedient hatten. Sie könnten ja nun denken, sie hätten Anspruch auf dieselben Rechte wie die Weißen. Und so wie die Schwarzen in den USA der Rassendiskriminierung unterworfen wurden, wurden die Bolschewiki in Russland einer Militärintervention der Entente ausgesetzt, um ihre sozialistische Revolution zu zerstören.

Dann gab es natürlich den Zweiten Weltkrieg. Das war der Krieg, in dem die USA und Großbritannien es sich zur Gewohnheit machten, Städte und zivile Infrastruktur zu zerstören und große Zahlen von Zivilisten zu töten. Dabei stimmt es allerdings, dass Deutschland als erstes Zivilisten zur Zielscheibe machte, und so stellten nur wenige die darauf folgende Zerstörung deutscher Städte und die Massentötung von Zivilisten in Köln, Hamburg, Dresden, Berlin und anderswo in Frage.

Die „Krauts“ hatten es ja herausgefordert. Dasselbe galt für die Japaner, deren Städte großenteils dem Erdboden gleichgemacht wurden. Hiroshima und Nagasaki wurden mit den ersten beiden Atombomben zerstört. „Militärische Ziele“, sagte Präsident Truman dazu ganz nebenbei, „wir mussten das tun, um das Leben amerikanischer Soldaten zu retten“. Es war gelogen. Die US-Regierung wusste ganz genau, dass Japan schon geschlagen und zur Kapitulation bereit war. Aber die Vereinigten Staaten wollten Josef Stalin einschüchtern, und dazu nutzten sie eben Atombomben, die die UdSSR damals noch nicht besaß. Glaubten die US-Führer tatsächlich, sie könnten Marschall Stalin damit Angst einflößen?

Das Ende des Zweiten Weltkriegs führte zur Wiederaufnahme des Kalten Krieges; es war nach Akt I, der 1917 begonnen hatte, Akt II ein und desselben Stücks,. Großbritannien spielte nun nur noch die Rolle eines Vasallenstaates, und die Vereinigten Staaten übernahmen die Führung bei der Verteidigung „freier“ Völker gegen die Gefahr des Kommunismus. Leider gab es eine Kluft zwischen diesem Bild und der Realität. Die USA ließen die CIA von der Leine, um Politiker und Wahlen zu kaufen und Regierungen zu stürzen, die ihnen ein Dorn im Auge waren. Der Iran, Guatemala und Cuba waren frühe Beispiele dafür. Das war auch das Schicksal, das Vietnam erleiden sollte, nur dass Washington sich in diesem Fall kräftemäßig überhob.

Die Vereinigten Staaten sabotierten die für 1956 vorgesehenen Wahlen in Vietnam, weil der kommunistische Führer Ho Chi Minh laut US-Präsident Eisenhower dabei mit 80 Prozent der Stimmen gewonnen hätte. Achtung vor der Demokratie spielte hier keine große Rolle: Wie sich herausstellt, mochten die USA „Demokratie“ nur dann, wenn ihre Klienten gewannen. Wenn diese dazu nicht imstande waren, wurden Wahlen gefälscht, mit CIA-Geld gekauft oder sabotiert. „Linke, Kommunisten, Unangepasste unerwünscht“, hätte auf einem Schild vor den Botschaften der USA überall auf der Welt stehen können.

In Vietnam spalteten die Vereinigten Staaten den Süden ab und ließen ihn von ihren Marionetten regieren. Darauf folgte ein schrecklicher Krieg: Das aus dem Zweiten Weltkrieg stammende Muster des Angriffs auf Städte und Zivilisten wurde wiederholt. Die US-Regierung behauptete, keine Bombardierung nordvietnamesischer Städte zu betreiben, aber der Korrespondent der kanadischen Zeitung Toronto Star Michael Maclear fuhr von der „Demilitarisierten Zone“ zwischen Nord- und Südvietnam bis nach Hanoi und fand dabei, dass praktisch jede Stadt oder größere Ortschaft auf seinem Weg dorthin durch US-amerikanische Bomben zerstört oder schwer beschädigt worden war. Entgegen anderslautender offizieller Behauptungen wurden Zivilisten als legitime Ziele betrachtet. Laut verschiedenen Schätzungen wurden für jeden vietnamesischen Kombattanten zwei bis sechs Zivilisten getötet. Angesichts der US-amerika­nischen Flächenbombardements und des Einsatzes von Napalm und chemischen Entlaubungsmitteln dürften diese Schätzungen sogar eher zu niedrig sein.

Es stimmt allerdings, dass die meisten Vietnamesen ihre bewaffneten Streitkräfte und den Widerstand gegen die US-Aggression unterstützen. So verwischte sich, sehr zur Frustration der US-Planer und Politiker, zwangsläufig die Grenze zwischen Zivilisten und Soldaten. Dann kam es im März 1968 zum Massaker von My Lai, bei dem annähernd fünfhundert Männer, Frauen und Kinder von US-Soldaten niedergemäht wurden. Über dieses Massaker wurde sogar auf den Seiten des Magazins Life berichtet. Das war keine gute Publicity für den US-Aggressionskrieg in Südostasien.

Die Vereinigten Staaten verloren diesen Krieg. Grund war der bemerkenswerte Widerstand des vietnamesischen Volkes, obwohl dieses für die Vertreibung der US-amerikanischen Invasoren einen hohen Preis zahlte. Aber bei den Entscheidungsträgern der USA führte diese Niederlage zu keiner dauerhaften Läuterung. 1973 stürzte die CIA die demokratisch gewählte chilenische Regierung Salvador Allendes. An dessen Stelle trat ein Neofaschist, und Washington hatte nichts dagegen einzuwenden. In den 1980ern unterstützten die Vereinigten Staaten in Afghanistan islamistische Fundamentalisten in ihrem Kampf gegen die UdSSR. „Es sind Hurensöhne“, hätten US-Politiker damals in einem seltenen Moment der Aufrichtigkeit vielleicht sagen können, aber „es sind unsere Hurensöhne“.

Der entscheidende Punkt ist, dass die Behauptungen der USA über Uneigennützigkeit und die Förderung von Demokratie Betrug waren. Solange es die UdSSR gab, konnten die Vereinigten Staaten sich noch nicht restlos alles erlauben, obwohl das Wüten der USA in Südostasien schlimm genug war. Nach dem Zusammenbruch und der Zerstückelung der UdSSR hatten die Vereinigten Staaten das Gefühl, nun von den letzten Fesseln ihrer Macht befreit zu sein. Die NATO wurde bis zur Westgrenze Russlands ausgedehnt. Jugoslawien wurde unter völliger Missachtung des Völkerrechts zerstört und zerstückelt. Dem Muster ihres Vorgehens in Afghanistan folgend, unterstützten die Vereinigten Staaten und ihre NATO-Vasallen in Bosnien und im Kosovo islamistische Gangster und Terroristen.

„Es sind unsere Terroristen und Gangster“, könnten die USA damals gesagt haben, „und deswegen ist alles in bester Ordnung“. Serbien wurde bombardiert und seine Infrastruktur zerstört; Zivilisten wurden getötet. Die toten serbischen Zivilisten waren dem Westen nicht einmal Krokodilstränen wert.

Die Liste der verdeckten oder offenen Aggressionskriege der USA und des Westens seit der Zerstörung Jugoslawiens ist sehr lang. Afghanistan, der Irak, Libyen, die Ukraine, Syrien und der Jemen sind alle von den USA und ihren NATO-Verbündeten oder regionalen Vasallen im Namen der „Verantwortung zum Schutz“ (R2P für Responsibilty to Protect) und der Ausbreitung der „Demokratie“ zerstört worden. Die Verbündeten des Westens sind (wieder einmal) wahhabitische Terroristen, Daesch, Jabhat al-Nusra, Al-Qaida und diverse Varianten solcher Gruppen, und außerdem Faschisten in der Ukraine. Es handelt sich hier um eine außergewöhnliche US-amerikanische Schurkengalerie, die sich wie eine polizeiliche Gegenüberstellung mit einer langen Reihe von Straftätern ausnimmt. Aber darüber, so würden die USA zweifellos wiederholen, muss man sich „keine Sorgen machen“, denn „sie sind unsere Islamisten und unsere Faschisten und sie arbeiten für uns, und deswegen ist alles in Ordnung“.

Überall, wo die Vereinigten Staaten entweder allein oder zusammen mit den Briten und Franzosen ihre Spuren hinterlassen, wird man auf Ruinen und Opfer stoßen. Der Irak und Libyen wurden ins Chaos gestürzt und sind heute gespickt mit Al-Qaida-Terroristen. Nach 15 Jahren befindet sich Afghanistan immer noch im Krieg. In der Ukraine war der von den USA unterstützte faschistische Putsch nur zum Teil erfolgreich, und dort könnte jeden Augenblick eine Krise ausbrechen. Im Jemen ist eine saudische Invasion auf heftigen Widerstand gestoßen.

In Syrien ist der von den USA, Großbritannien und Frankreich geführte Versuch, die Regierung zu stürzen, fehlgeschlagen. Die Vereinigten Staaten sind dort nicht nur auf einen vom syrischen Präsidenten Baschar al-Assad inspirierten heftigen Widerstand gestoßen, sondern stehen außerdem auch noch der Russischen Föderation, dem Iran und Hizbollah gegenüber. Diese drei haben sich mit der syrischen Regierung gegen die Invasion von durch die USA und den Westen unterstützten islamistischen Söldnern verbündet, die von Katar, Saudi-Arabien, der Türkei, Jordanien und der Apartheidregierung Israels bewaffnet, ausgebildet und beschützt werden.

Dabei hat Russland die Hauptrolle bei der Eindämmung des US-geführten Aggressionskriegs gegen Syrien gespielt. Natürlich hat Präsident Wladimir Putin versucht, die Vereinigten Staaten zur Abkehr von ihren terroristischen Verbündeten zu bewegen und sich einer Koalition zur Vernichtung der wahhabitischen Invasoren anzuschließen. Während ich dies schreibe, ist der russische Versuch fehlgeschlagen. Das ist keine Überraschung, da die Vereinigten Staaten ebenso süchtig nach Subversion und Aggressionskriegen sind wie ein Süchtiger nach seinen Drogen. Dennoch musste Russland versuchen, die USA zu einem Entzug zu überreden, und ich vermute, dass es das auch weiter versuchen wird.

In der Zwischenzeit bezichtigen die französischen und britischen Vasallen der USA Russland und Syrien aller möglicher Kriegsverbrechen und wettern über das Schicksal der eingekesselten, leidenden wahhabitischen Terroristen in Aleppo – genau derer also, die Filme gedreht haben, die zeigen, wie sie syrische Kriegsgefangene und Staatsbeamte, Christen und alle möglichen anderen enthaupten, die nicht Anhänger ihrer besonderen Form des Islams sind. Zu weiteren von ihnen praktizierten Formen der Grausamkeit gehören die Hinrichtung durch Ertränken oder Einsperren in Käfige und anschließendes Verbrennen bei lebendigem Leib oder Überfahren durch Panzer. Frauen werden vergewaltigt und, wenn sie sich nicht unterwerfen, gesteinigt. Flüchtlinge, die versuchen, sich der Herrschaft Al-Qaidas zu entziehen, werden ausgepeitscht, gekreuzigt, enthauptet, lebendig begraben oder erschossen (wobei letztere Form der Hinrichtung für die Wahhabiten noch eine regelrecht banale, gnädige Form ist, ihre Opfer zu töten).

Diese Terroristen sind die Art von Kräften, die von den Vereinigten Staaten und ihren Vasallen in Aleppo und anderswo in Syrien unterstützt werden. Die USA haben jetzt das Argument, die Wahhabiten seien „unsere Terroristen“ gegen ein anderes ausgetauscht, das besagt, sie seien „unsere Gemäßigten“. Diese Linie ist genauso absurd und betrügerisch wie all die anderen US-Rechtfertigungen für die Kriege des Landes, obwohl Präsident Putin und sein Außenminister Sergej Lawrow mitgespielt und weiter versucht haben, die USA zur Vernunft zu bringen. Die russische Strategie ist, ebenso wie die anderen Friedensstrategien Russlands, fehlgeschlagen, unter anderem deshalb, weil es keine islamistischen „Gemäßigten“ gibt, die sich von den so genannten echten Terroristen trennen ließen. Die Rede von „unseren Gemäßigten“ ist eine Fiktion und ein Deckmantel der USA für ihre Unterstützung für Al-Qaida und deren verschiedene Verbündete, bei denen es sich weitgehend um ausländische Söldner handelt, die gegen die säkulare, legitime Regierung Syriens kämpfen.

Das einzige Resultat der russischen Bemühungen ist bis jetzt, dass US-Generäle drohen, Russland „zu schlagen“ wie nie zuvor. Zugleich droht der französische Präsident Russland und Syrien mit Anklagen wegen Kriegsverbrechen, und verschiedene britische Politiker einschließlich des Außenministers wüten über „naziartige“ Bombardierungen von armen, unschuldigen „Gemäßigten“. In Wirklichkeit benutzen diese die Zivilisten in Aleppo in ihrer immer kleiner werdenden Besatzungszone als menschliche Schilde und richten alle, die versuchen, zu entkommen, summarisch hin. Im wesentlich größeren Teil Aleppos, den die „Gemäßigten“ nicht kontrollieren, greifen sie systematisch Zivilisten an.

Werden diese Heuchelei und diese Doppelstandards je ein Ende haben? Von Wilson bis Johnson und weiter bis Obama sind wir mit einem großen Haufen von Lügen überschüttet worden. Die US-amerikanische und westliche Version der Ereignisse in Syrien und anderswo ist bis auf die letzte Silbe falsch. Die „leuchtende Stadt auf dem Hügel“ ist ein Mythos. Das Bild eines düsteren Schlachthauses, das bis obenhin mit Opfern des US-amerikanischen und europäischen Neokolonialismus voll ist, würde die Realität wesentlich besser darstellen. Aber man braucht nicht darauf zu warten, dass irgendeine westliche Regierung sich dieses Schlachthaus einmal ansieht. „Kollateralschaden“ würden die USA sagen, „und ein Preis, der es wert war“. Mythen und Lügen überdecken die tatsächliche Außenpolitik der Vereinigten Staaten und ihrer Vasallen, aber das ist leider nichts Neues. Die dringliche Frage ist jetzt, ob die Bewohner der USA, Kanadas und Europas bereit sind, für eine Serie von Lügen, und zur Verteidigung der US-geführten Al-Qaida-Invasion Syriens, einen grundlosen Krieg mit Russland zu riskieren. Wir, und zwar wir alle, müssen uns hier rasch entscheiden, bevor es zu spät ist.


[«*] Michael Jabra Carley ist Professor für Geschichte an der Universität Montreal