„Wir erleben eine neue Stufe der unterwürfigen Politik“

Emran Feroz
Ein Artikel von Emran Feroz
Sevim Dagdelen

Besonders für Akademiker, Journalisten und Menschenrechtsaktivisten ist in diesen Tagen das Leben in der Türkei schwierig. Regelmäßig kommt es zu Festnahmen und anderweitigen Repressalien. Zum gleichen Zeitpunkt herrscht im Südosten des Landes Krieg. Doch gleichzeitig gilt die türkische Regierung als treuer Partner Berlins und der Europäischen Union. Die LINKE-Bundestagsabgeordnete Sevim Dagdelen hat ein Buch über die aktuellen deutsch-türkischen Beziehungen geschrieben. Sehr scharf kritisiert sie darin vor allem die Haltung der Bundesregierung gegenüber dem türkischen Präsidenten Erdogan. Emran Feroz hat mit Dagdelen darüber gesprochen.

Der EU-Flüchtlingsdeal mit der Türkei besteht nun schon seit längerem. Man hört allerdings nicht mehr viel davon, obwohl die Zahlen eine eindeutige Sprache sprechen. Wir wissen nämlich mittlerweile, dass die Zuwanderung von Geflüchteten nach Europa in den letzten Monaten stark abgenommen hat. Wie würden Sie diesen Deal zusammenfassen?

Der EU-Türkei-Deal ist ein schmutziger Deal, der von Schutz suchenden Menschen, die vor Krieg und Verfolgung fliehen, getragen wird. Diese Kriege wurden unter anderem auch vom Westen mitverursacht. Es stimmt, dass die Flüchtlingszahlen reduziert worden sind. Das heißt aber nicht, dass es weniger Flüchtlinge gibt. Sie sind immer noch da. Man hat die Flüchtlinge nur dazu gezwungen, die Routen zu ändern. Das Ziel des Deals mit der Türkei war vor allem die Schließung der Balkan-Route. Der Deal missachtet alle völkerrechtlichen Konventionen in Sachen Menschenrechtsschutz. Das hat unter anderem zur Folge, dass die Türkei sehr repressiv gegenüber Schutz suchenden Menschen auftritt. Es kam zum Beispiel immer wieder zu Erschießungen von Flüchtlingen an der türkisch-syrischen Grenze. Währenddessen werden Schutz suchende Menschen innerhalb der Türkei willkürlich inhaftiert. Der Deal hat auch die Folge, dass die deutsche Bundesregierung sich erpressbar gemacht hat, weil sie in der Flüchtlingspolitik alles auf diese Karte setzt.

Erklärt dies Ihrer Meinung nach auch das gegenwärtige Verhalten der Bundesregierung? Immerhin verliert sie nur selten ein Wort über all die Demokratiedefizite, welche die Türkei in den letzten Jahren und Monaten erlebt hat.

Ja, unter anderem. Es gibt natürlich auch geopolitische und geostrategische Interessen, die eng mit der Rolle der Türkei verstrickt sind. Die hat auch mit der Rolle der NATO in der Region zu tun. Auch aus ökonomischer Sicht gibt es zahlreiche Interessen. Deutschland ist der größte Handelspartner der Türkei. Die Bundesregierung hat ein großes Interesse daran, dass der deutsche Kapitalexport und der Absatzmarkt für deutsche Unternehmen sichergestellt wird. Deshalb ist man darum bemüht, gute Beziehungen mit der Türkei zu pflegen. Wir erleben allerdings eine neue Stufe der unterwürfigen Politik. Egal, ob sich dies nun auf den Fall Böhmermann, den Krieg im Südosten des Landes oder der Armenierfrage bezieht.

In Anbetracht der katastrophalen Lage im Südosten der Türkei stellt man sich die Frage, wie viele Flüchtlinge es aus dieser Region gibt. Ist die Türkei eigentlich ein „sicheres Herkunftsland“?

Zwischen Januar und Juni 2016 gab es in Deutschland rund 1.700 Asylbewerber aus der Türkei. Eine derartige Anzahl gab es zuvor nur für ein ganzes Jahr. Die Schutzquote liegt derzeit bei circa dreizehn Prozent. Diese Schutzquote ist überhaupt nicht vereinbar mit der Einstufung eines sicheren Herkunftsstaates. Neunzig Prozent der Asylbewerber aus der Türkei sind kurdischer Herkunft. Das heißt, der eskalierende Kurdenkonflikt und die einseitige Aufkündigung des Friedensprozesses seitens der türkischen Regierung sind eine Fluchtursache. Hinzu kommen auch immer mehr Journalisten, Publizisten und Wissenschaftler, die aufgrund der Verfolgung von Andersdenkenden fliehen – gerade auch nach dem gescheiterten Militärputsch vor einigen Monaten.

Es gibt allerdings auch eine andere Fluchtursache in der Region, die von der Türkei selbst ins Leben gerufen wurde, nämlich durch die Unterstützung und Bewaffnung von islamistischen Extremisten in Syrien. Die Türkei wirkt seit Beginn des Krieges in Syrien aktiv mit und unterstützt dort Gruppierungen wie die Dschabhat Fatah asch-Scham (ehemalige Al-Nusra-Front) und die Ahrar asch-Scham, um einen Regime-Change herbeizuführen. Auch durch diese Gruppierungen werden viele Menschen in die Flucht getrieben.

Stichwort Kurden. In den Medien ist oftmals von „den“ Kurden die Rede. Doch kann man hier tatsächlich von einer politisch-homogenen Gruppe sprechen? Immerhin gibt es auch Kurden innerhalb der AKP, die mit Erdogans Politik zufrieden sind.

In den letzten Monaten wurden um die 60 Politiker der pro-kurdischen HDP ohne jegliche Gerichtsurteile verhaftet. Ihnen wurde der Zugang zu ihren Anwälten und Familien verwehrt. Auch die Immunität nahezu aller Abgeordneten der HDP wurde aufgehoben. Allein diese Umstände zeigen, dass es hier auch um die kurdische Bevölkerung geht. Natürlich sind nicht alle Kurden gleich. Es gibt sowohl Linke als auch Rechte. Die Angriffe der türkischen Armee im Südosten des Landes machen deutlich, dass hier nicht nur die Anhänger der PKK, wie es die türkische Regierung immer wieder behauptet, bekämpft werden, sondern die kurdische Bevölkerung an sich, um sie gefügig zu machen.

Auch die völkerrechtswidrige Siedlungspolitik der türkischen Regierung macht deutlich, dass das Ziel die Kurden sind. In diesen Tagen werden besonders arabisch-sunnitische Menschen in jenen Gebieten angesiedelt, in denen mehrheitlich Aleviten und Kurden leben. Diesen Flüchtlingen soll unter anderem auch die türkische Staatsbürgerschaft verliehen werden. Damit wird deutlich, dass die türkische Regierung sich auch das Wahlvolk für die Zukunft aussuchen will. Deshalb denke ich, dass es im Großen und Ganzen schon um die kurdische Bevölkerung geht.

Wie dominant ist Ihrer Meinung nach der neo-osmanische Gedanke innerhalb der politischen Diskurses in der Türkei? Wird hier vor allem außenpolitisch nur nach Ideologie gehandelt oder auch realpolitisch?

Beides schließt sich nicht gegenseitig aus. Vor Kurzem hat Erdogan wieder gezeigt, wie pragmatisch er ist. Noch vor wenigen Monaten spielte er „Weltkriegsroulette“, vor allem nach dem Abschuss des russischen Militärjets. Ähnlich verhielt es sich auch mit seinen Provokationen gegenüber Israel. Es schien immer wieder, als sei Erdogan für eine weitere Eskalation bereit. Mittlerweile hat er jedoch total zurückgedreht. Er ist eben durch und durch ein Machtmensch, der auch seine pragmatischen Seiten hat. Seine Agenda ist allerdings klar: Er will die Türkei in einen islamistischen Unterdrückungsstaat verwandeln. Und natürlich betreibt er in diesem Kontext auch eine neo-osmanische Außenpolitik mit geopolitischen Beweggründen. Dies wird etwa am türkischen Einmarsch in Syrien oder am Interesse am Nordirak, wo nach Erdogans Auffassung nach der Befreiung vom IS nur sunnitische Araber oder turkmenische Völker leben sollten.

Bei aller berechtigten Kritik an Erdogan hört man doch vor allem in Deutschland den Islamismusvorwurf und Ähnliches sehr oft. Denken Sie nicht, dass es gerade in diesem Punkt auch Jubel von der falschen, sprich, islamfeindlichen Seite geben kann?

Wenn eine andere Person diesen Umstand ebenfalls feststellt – und zufällig ein Rechtsradikaler ist – dann heißt es doch nicht, dass diese objektive Tatsache falsch ist. Ich fühle mich der Aufklärung verpflichtet und will den Menschen deshalb die Zustände in der Türkei beschreiben. Die voranschreitende Islamisierung in der Türkei ist eine zentrale Säule der AKP-Politik der letzten Jahre gewesen. Wenn man das nicht mehr benennt, profitiert doch viel eher die andere, problematische Seite davon. Genauso wie man den rechtsextremen Terror, zum Beispiel in Deutschland, verurteilen muss, muss man auch den islamistischen Terror, der sich in der Türkei verbreitet, benennen. Solange die Kritik berechtigt ist, denke ich, dass es notwendig ist, sie zu formulieren. Islamophobe Klischees werden dadurch meiner Meinung nach nicht bedient.

In den letzten Monaten gab es zahlreiche Anschläge in der Türkei. Einige davon gingen allerdings auch auf das Konto der PKK. Schaden derartige Angriffe nicht einerseits der HDP, während sie Wasser auf den Mühlen der Regierung sind?

Gewalt und Krieg sind für mich keine Mittel der Politik. Deshalb verurteile ich auch solche Anschläge. Egal, von welcher Seite sie kommen. Terroristische Aktivitäten sind mir zuwider. Allerdings sehe ich die PKK nicht als terroristische Vereinigung. Meiner Meinung nach ist die Einstufung als „terroristische Organisation“ seitens jener Akteure, die gewisse Terrorlisten führen, nichts anderes als eine politische Willkür.

Das klingt nun so, als ob rechtsextremer und islamistischer Terrorismus zu verurteilen sind, linksextremer allerdings nicht.

Wie gesagt, verurteile ich jegliche Gewalt. Ich finde nur, dass die PKK an sich keine terroristische Organisation in dem Sinne ist, wie die EU-Terrorliste sie eingestuft hat. Diese Einstufungen erfolgen aufgrund politischer Motive und Interessen. Um ein Beispiel zu nennen, das dies deutlich macht: Laut dem Staatsschutzsenat des Stuttgarter Oberlandesgerichts ist die syrische Ahrar asch-Scham eine terroristische Organisation. Eine Person, die für diese Gruppierung tätig gewesen sein soll, wurde deshalb auch verurteilt. Gleichzeitig weigert sich die Bundesregierung seit Jahren, die Ahrar asch-Scham als Terrororganisation einzustufen. Im UN-Sicherheitsrat gab es mehrfach Anträge, diese Organisation auf die Terrorliste zu setzen, so wie etwa den IS. Die Einstufung wird allerdings stets von den USA verhindert. Dies geschieht nur, weil die Ahrar asch-Scham gegenwärtig als Verbündeter betrachtet wird. Sie ist vor allem ein Verbündeter der türkischen Regierung, der sie bewaffnet. Letztendlich sind diese Terrorlisten und die damit verbundenen Einstufungen nur an politische Interessen gebunden. Davon sollte man sich nicht instrumentalisieren lassen. Ich halte die PKK für keine Terrororganisation, allerdings begeht sie terroristische Gewaltakte, die ich scharf verurteile. Genauso verurteile ich auch den Staatsterror der türkischen Regierung im Südosten des Landes.

In Ihrem Buch verlangen Sie unter anderem ein Einreiseverbot für Erdogan. Denken Sie wirklich, dass das eines Tages eintreten wird?

Ich denke, dass einem Staatspräsidenten, der indirekt zu Gewalt gegenüber Mitgliedern des Bundestages aufruft, sie zu Staatsfeinden deklariert und behauptet, dass ihr Blut aufgrund ihres Abstimmungsverhaltens gegenüber der Armenierfrage im Labor überprüft werden müsse, auf eine solche Art und Weise entgegnet werden muss. Die Bundesregierung befindet sich zur Zeit allerdings in einer sehr engen Partnerschaft mit der Türkei. Insofern befürchte ich, dass es weiterhin keine Folgen geben wird.

Sevim Dagdelens Buch „Der Fall Erdogan – Wie uns Merkel an einen Autokraten verkauft“ ist im Westend Verlag erschienen und kostet 18,00 Euro.

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