Argentinien: Mauricio Macri oder „die Armuts-Fabrik“

Jens Berger
Ein Artikel von:

Seit einem Jahr wird Argentinien wieder von einem konservativen Präsidenten regiert und prompt explodierte die Zahl der Armen. Zehntausende Argentinier protestierten in den vergangenen Wochen gegen das Abdriften in die Armut von Millionen ihrer Landsleute. Für die NachDenkSeiten versucht sich unser Südamerika-Korrespondent Federico Füllgraf an einer Einordnung der aktuellen Situation in Argentinien.

Vor genau einem Jahr und mit einem knappen Stimmenvorsprung von weniger als 3 Prozent wurde der Multimillionär, ehemalige Bürgermeister von Buenos Aires und Kandidat des konservativen Bündnisses “Propuesta Republicana – Republikanisches Programm (PRO)”, Mauricio Macri, von der argentinischen Elite, einem Teil der Mittelschicht und den konservativen Medien ins Präsidentenamt gewählt.

Schon während der Wahlkampagne hatte Macri scharfe Angriffe gegen die Regierung Cristina F. de Kirchner gerichtet, die er für die dramatische Verarmung von 20 Prozent der 40 Millionen Argentinier verantwortlich machte. Dagegen verkündete er die Parole “Pobreza Cero – Null Armut”.

Ein Jahr später stellen sich Kritik und Versprechen als hohle Demagogie heraus: im ersten Regierungsjahr Macris nahm die Verarmung um mehr als 60 Prozent zu und beförderte 33 Prozent seiner Landsleute unter die Armutsgrenze.

Wie es dazu kommen konnte, erklärt die Zusammensetzung seines Kabinetts mit einer Schar ultra-liberaler CEOs multinationaler und einheimischer Konzerne und deren kaltblütiges “Deregulierungs”-Programm der argentinischen Wirtschaft, das in weniger als zwölf Regierungsmonaten 1,3 Millionen (das “Centro de Economia Política Argentina-CEPA” schätzt die reale Zahl auf mehr als das Vierfache davon: 5,3 Millionen) Arbeitslose und 40 Prozent Inflation erzeugte.

Geierfonds und Neuverschuldung

Kernstück des drakonischen “Anpassungs”programms ist die forcierte Überwindung des seit 2002 herrschenden Defaults, also des Zahlungsstopps jener als unannehmbar betrachteten Auslandsschulden gegenüber den sogenannten Geierfonds, die zum Teil Profite von über 1.000 Prozent im Jahr auf argentinische Schuldscheine einklagten.

Die Geierfonds hatten sich nicht an der 2005 von Präsident Néstor Kirchner durchgesetzten Umstrukturierung und drastischen Reduzierung um 75 Prozent der argentinischen Auslandsschulden beteiligt, sondern verklagten das südamerikanische Land vor der US-Justiz. Die Folge war die Zugangsblockade zu internationalen Kreditmärkten. Mit der im April 2016 erfolgten Zahlung der schwindelerregenden Tranche von 9,3 Milliarden Dollar an weltweit als kriminelle Vereinigungen verschrieene Hedge-Fonds – siehe dazu “Hedgefonds: Paul Singer zwingt Argentinien zur Zahlung“, Spiegel Online, 03.07.2014 – erkaufte sich nun die Regierung Macri ihren neuen Bonitätstitel und setzt auf die Anziehung von internationalen Investoren und neue Kreditaufnahmen. Doch, wie Wirtschafts-Experten warnen, zum Preis verheerender sozialer Folgen.

Neoliberaler Ausverkauf und der Neuanfang bei Null – ein Rückblick

Macri trat an mit der Absicht, den vom sogenannten “Kirchnerismo” vorangetriebenen Ausbau der Demokratie zu stoppen und dessen soziale Errungenschaften abzubauen.

Der sogenannte “Kirchnerismo” bezeichnet die zwölfjährige Amtsperiode, von 2003-2015, des 2010 frühzeitig verstorbenen Präsidenten Néstor Kirchner und seiner Ehefrau und Nachfolgerin Cristina Fernández de Kirchner und das von ihnen 2003 gegründete – aus Sozialisten, Kommunisten und Sozialdemokraten verschiedener Schattierungen bestehende – Wahlbündnis “Frente para la Victoria – Front für den Sieg” (FPV). Unter Ausgrenzung der Neoliberalen in der eigenen Partei stellten linksliberale Peronisten, wie die Kirchners, die Mehrheit in dieser Koalition, der eine Regierungspolitik mit Rückbesinnung auf den peronistischen Nationalismus und soziale Integration gelang.

Als der nahezu unbekannte, ehemalige Gouverneur aus dem fernen Patagonien, Néstor Kirchner, im Mai 2003 die Präsidentschaft antrat, lag Argentinien am Boden.

Ihm vorausgegangen war die Administration des ultraliberalen Rechts-Peronisten Carlos Menem (1989-1999), mit der massiven Privatisierung und Verscherbelung staatlicher Konzerne – darunter die Fluglinie Aerolineas, die Telefongesellschaft Entel, die nationalen Eisenbahnen, die Wasser- und Gasversorgung, die Bank Nación und selbst die öffentliche Steuerbehörde DGI – zum lächerlichen Gegenwert von damals 9 Milliarden US-Dollar (Marktwert: ca. 30 Milliarden Dollar), was den rasanten Anstieg der Auslandsverschuldung um 13 Milliarden US-Dollar nicht verhinderte.

Im Dezember 2001 setzten Massenproteste unter Menems Nachfolger Fernando de la Rúa das Land in Flammen. Ursache der als Argentinazo bekannten Proteste, bei denen Polizei und zivile Helfer 36 Menschen erschossen oder totschlugen, war die von Finanzminister Domingo Cavallo erwirkte Beschlagnahme privater Konten, mit der Ausgabe von Ersatz-Gutscheinen, und die Verhängung des Ausnahmezustands. Die Maßnahme kostete De la Rúa das Amt und stürzte Argentinien in seine tiefste soziale und Vertrauenskrise seit Ende der Militärdiktatur, mit fünf nachfolgenden und kurzlebigen Präsidentschaften in weniger als zwei Jahren.

Der Kirchnersche Rechts- und Sozialstaat

Wie der Regierung Luis Inácio Lula da Silva, im benachbarten Brasilien, kam der Amtszeit Néstor Kirchners das erfreuliche Auf der internationalen Rohstoffpreise, insbesondere für Agrargüter wie der argentinische Sojaanbau, zugute. Vermehrte Deviseneinnahmen, gepaart mit der Reduzierung der Auslandsverschuldung, verliehen der Wirtschaft neue Robustheit und jährliche Wachstumsraten zwischen 6,0 Prozent und 8,5 Prozent. Der vierjährigen Amtsperiode Nèstor Kirchners gelang es, das Bruttoinlandsprodukt (BIP) um 52 Prozent zu steigern.

Obwohl im Vergleich zur Präsidentschaft Néstors die Amtszeit seiner Nachfolgerin eher von Konflikten mit Medienmonopolen, dem Großgrundbesitz und einzelnen Gewerkschaften geprägt war, führte Cristina Kirchner den 2003 initiierten Ausbau der Bürgerrechte, gekoppelt mit der Eingliederung sozial ausgegrenzter Bevölkerungsteile, konsequent weiter.

Weltweite Anerkennung fand die unter Néstor Kirchner begonnene Menschenrechts-Politik, mit der Anklage von 1.861 und der Verurteilung von 244 hochrangigen Militärs, darunter der in Haft verstorbene General und Ex-Diktator Jorge Videla, die allesamt für den Massenmord und das Verschwinden von 30.000 politischen Gefangenen in der Zeit von 1976 bis 1983 verantwortlich waren. Mit der Absicherung von Schutzrechten für Frauen, Jugendliche und Kinder sowie der Legalisierung der gleichgeschlechtlichen Ehe und der Anerkennung von Minderheitenrechten in der Gender-Identität rückte Argentinien bald in die Riege der demokratischsten Republiken der Welt auf.

In der Ära Kirchner wurden rund eine Million neue Arbeitsplätze geschaffen und die Arbeitslosigkeit wurde von 17 Prozent auf 7,9 Prozent abgebaut. An erster Stelle in Südamerika rangierte sowohl der gesetzliche Mindestlohn von 550 US-Dollar (2015) als auch die Ausdehnung der Altersversorgung auf 94,3 Prozent der Arbeiter und Angestellten im Ruhealter, darunter 2,5 Millionen, die nur in unzureichendem Maße ihre Beiträge bezahlt hatten.

Die “Armen-Fabrik”

Kaum hatte Macri sein Amt angetreten, wurde Mitte Dezember 2015 der argentinische Peso gegenüber dem US-Dollar zwischen 40 und 50 Prozent abgewertet, was sofort die schwindelerregende, 35-prozentige Inflation weiter in die Höhe trieb.

In den darauffolgenden Monaten erließ die Regierung den Tarifazo, eine bis 700-prozentige Erhöhung der Fahrpreise der öffentlichen Verkehrsmittel sowie der Preise für die Strom-, Wasser- und Gasversorgung. Da tausende Argentinier dagegen vor Gericht zogen, urteilte der Oberste Gerichtshof im August 2016 zumindest gegen die drakonische Gas-Preiserhöhung. Während die Argentinier noch im November 2015 rund 1.020 Pesos (ca. 100 US-Dollar) für den Warenkorb mit Grundnahrungsmittel ausgaben, stiegen ihre Ausgaben nach der Peso-Entwertung um 29 Prozent.

Im Mai 2016 prahlte die Regierung mit einer im Januar 2017 inkrafttretenden, 33-prozentigen Erhöhung des Mindestlohns. Liest sich als geradezu arbeiterfreundliche Geste, doch es ist Betrug, die Lohnerhöhung liegt weiter 7 Prozent unter der 40-prozentigen Jahresinflation.

Somit kam Mitte 2016 millionenfach der Hashtag #LaFabricaDePobres (“Die Armen-Fabrik”) als Protest-Parole gegen den dramatischen Anstieg der Armut in Umlauf, die nach Schätzungen des Gewerkschaftsverbandes CTA zwischen Ende 2015 und Mitte 2016 von 19,7 Prozent auf mindestens 32 Prozent anstieg; ganz zu schweigen von den 6 Prozent der Argentinier, die ein Bettlerdasein fristen.

Staatspräsident Mauricio Macri erkannte selbst in einem Presseauftritt, “13 Millionen Arme sind eine traurige Bilanz”, schob jedoch seiner Vorgängerin Cristina Kirchner geschminkte Armuts-Statistik in die Schuhe und überließ der Zukunft die Überwindung der Tragödie: “Wird schon alles werden, 2017 kommt das Wirtschaftswachstum”.