Modernisierungsverlierer? Globalisierungsverlierer? Die Politik verhöhnt ihre Opfer

Jens Berger
Ein Artikel von:
Jens Berger

Angela Merkel hat ihr Herz fürs Volk entdeckt. Die CDU müsse nun endlich auf Menschen zugehen, die „sich als Modernisierungsverlierer“ sehen und bei „Populisten von rechts und links ihre Zuflucht suchen“, so die Kanzlerin. Dabei tritt die Uckermärkerin zielsicher in Fußstapfen, die Andere hinterlassen haben. Seit dem Brexit ist es für die westlichen Eliten beispielsweise ausgemachte Sache, dass es vor allem „Globalisierungsverlierer“ sind, die nicht mehr die Vertreter der klassischen Politik wählen. Es ist schon zum verrückt werden. Da verfolgen die westlichen Eliten jahrzehntelang eine Politik der Ausgrenzung und Verarmung, die sich gegen weite Teile ihrer eigenen Bevölkerung richtet und nun verhöhnen sie ihre Opfer auch noch dadurch, dass sie sie zu „Verlierern“ erklären; was übrigens faktisch noch nicht einmal zutreffend ist. Von Jens Berger.

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Was ist eigentlich ein Globalisierungsverlierer? Die Globalisierung ist ja keine neue Entwicklung. Schon bei den Römerinnen waren blonde Echthaarperücken aus dem fernen Germanien der Renner und da bei uns kein Pfeffer wächst, bezogen unsere Vorfahren das Gewürz schon seit Ewigkeiten aus dem fernen Indien. Mit der Weiterentwicklung des Handels wurden später auch Fertigprodukte gehandelt, die theoretisch im Herkunfts- wie im Empfängerland hergestellt werden können. Die Erkenntnisse der frühen volkswirtschaftlichen Außenhandelstheorien von Smith und Ricardo griffen streng genommen nur auf, was längst Usus war. Absolute und komparative Kostenvorteile führen dazu, dass beispielsweise Kohle in Frankreich und Kleidung in Irland produziert und in das jeweils andere Land exportiert wurden. Französische Weber und irische Kohlekumpel waren so gesehen die ersten Globalisierungsverlierer. Durch den technischen Fortschritt sollten sie nicht die einzigen bleiben. Heute werden Sie in Deutschland kaum noch Gerber und Köhler finden und auch Kleidung oder Schuhe werden hierzulande nicht mehr für den Massenmarkt produziert. Eine vollkommen normale Entwicklung, die vom Begriff „Globalisierung“ nur mythisch überhöht wird.

Wann immer die Politik die „Globalisierung“ ins Spiel bringt, geht es meist überhaupt nicht um die Globalisierung, sondern um hausgemachte Entscheidungen, die mit der Globalisierung gar nichts zu tun haben. Nehmen wir den Niedriglohnsektor als Beispiel. Worum es bei „Reformen“ wie der Agenda 2010 ging, hatte Gerhard Schröder ja 2005 auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos sehr gut zusammengefasst:

„Wir müssen und wir haben unseren Arbeitsmarkt liberalisiert. Wir haben einen der besten Niedriglohnsektoren aufgebaut, den es in Europa gibt“.

Wo aber sind die Jobs zu verorten, die vom Niedriglohn betroffen sind? Der Arbeiter am Band von VW ist weit vom Niedriglohn entfernt, der Laborassistent bei BASF ebenfalls – generell zahlen die Industrieunternehmen, die maßgeblich für die deutsche Exportweltmeisterschaft verantwortlich sind und im vollen internationalen Wettbewerb stehen, vergleichsweise hohe Löhne. Paradox? Nicht unbedingt, bei Lohnquoten[*], die je nach Branche in der güterproduzierenden Industrie zwischen 5% und 15% liegen, spielen die reinen Lohnkosten nun mal keine so dramatisch hohe Rolle. Und die Vorteile des Standorts Deutschland sind ja legendär.

Wer Niedriglöhne sucht, der findet sie stattdessen im Dienstleistungsbereich: In der Alten- und Krankenpflege, im Sicherheitsgewerbe, bei den Raumpflegerinnen, im Einzelhandel und in der Gastronomie sind schlechte Löhne bekanntlich alles andere als selten. Aber die Altenpflegerin aus Wuppertal steht ja gerade eben nicht mit ihrer Kollegin aus Sofia im Wettbewerb. Der Wachmann aus Passau kann nicht durch einen kostengünstigen Ersatz aus Thailand ausgetauscht werden, die Raumpflegerin und die Kassiererin nicht nach Mexiko ausgelagert und der Kellner gegen einen effizienteren Chinesen ersetzt werden. Die niedrigen Löhne dieser Menschen haben nichts mit der Globalisierung zu tun!

Auch mit Angela Merkels „Modernisierung“ haben die niedrigen Löhne nichts zu tun. Mir wäre zumindest nicht bekannt, dass unsere Altenpflegerin so wenig bekommt, weil sie sonst gegen einen Pflegeroboter eingetauscht würde oder unser Wachmann im Wettbewerb mit einem Telearbeiter aus Bangalore steht, der dank der IT-Revolution nun in Passau Streife gehen kann. Putzroboter mag es ja geben; dass eine Raumpflegerin gegen einen Roboter ausgetauscht wurde, habe ich aber noch nicht gehört und auch unser Kellner steht nun nicht eben im Verdacht, ein Opfer der Modernisierung zu sein. Leider sind unsere Medien doch bereits so denkfaul, dass sie derlei Dummheiten unkommentiert durchgehen lassen.

Und auch in anderen Bereichen sieht es so aus: Ist die Verödung der ostdeutschen Regionen eine Folge der Modernisierung? Umgekehrt wird ein Schuh draus! Dank IT und dank der Möglichkeit, über einen „Telearbeitsplatz“ auch aus der brandenburgischen Pampa heraus in vielen modernen Jobs gut arbeiten zu können, haben diese Regionen wieder einen Lichtstreif am Horizont.

Die politisch gewollte Zerstörung der gesetzlichen Rente hat doch auch nichts, aber auch gar nichts, mit der Globalisierung zu tun. Oder stehen unsere Rentner jetzt schon im Wettbewerb mit alten Indern, die schon für viel weniger Geld in Rente gehen würden? Ist an der katastrophalen Bildungspolitik etwa das Internet schuld? Sind Pisa und Bologna also direkte Folgen der Modernisierung? Aber nicht doch. Ist der steigende wirtschaftliche Erfolg der Tigerstaaten in Südostasien dafür verantwortlich, dass die deutschen Landesregierungen keinen ordentlichen sozialen Wohnungsbau mehr unternehmen und die Bestände an Heuschrecken verscherbeln, die gleich erst mal die Mieten erhöhen?

Unsere zahlreichen Probleme haben viele Ursachen, unter denen ich die politische Korruption als die schwerwiegendste bezeichnen würde. Die Globalisierung oder gar die Modernisierung gehört jedoch ganz sicher nicht dazu. Insofern können es auch nicht die „Globalisierungs- oder Modernisierungsverlierer“ sein, die nun auf die Straße gehen, den Medien und der Politik nichts mehr glauben und böse rechts- und linkspopulistische Parteien und Politiker wählen. Wer so etwas erzählt, ist nicht nur unehrlich, sondern zudem im höchsten Maße zynisch.

Natürlich gibt es unter diesen Menschen auch „Verlierer“. Werfen Sie doch mal einen Blick auf die Metropolen des Ruhrgebiets. Wer heute über 50 Jahre alt ist, einen klassischen Industriejob gelernt hat und in Duisburg, Gelsenkirchen oder Bochum lebt und arbeitslos wird, hat nun einmal realistisch betrachtet kaum Chancen, wieder in Lohn und Brot zu kommen und sein gewohntes Leben fortzuführen. Und das geht ja weit über die reine „Jobfrage“ hinaus. Kann ich meiner Tochter dann noch das Studium finanzieren? Kriegen die Enkel jetzt keine Weihnachtsgeschenke mehr? Was wird aus dem Fußballverein, was denken die Kumpel in der Nachbarschaft; werden sie mich noch respektieren und akzeptieren? Und vor allem – was verdammt noch mal, stelle ich künftig mit dem langen Tag an? Haben wir es hier wirklich mit einem Globalisierungsverlierer zu tun? Nein! Die Globalisierung hat nichts damit zu tun. Es wäre Aufgabe der Politik, die Lebensperspektive dieses „Verlierers“ zu verbessern. Das tut sie aber nicht.

Und wie sieht es mit dem Rentner aus Frankfurt/Oder aus? Seine Stadt hatte mal fast 90.000 Einwohner. 90.000 Menschen, für die eine moderne 3-Zimmer-Wohnung mit Zentralheizung „in der Platte“ ein kleiner Lebenstraum war. 90.000 Menschen –spielende Kinder, junge Paare, das pralle Leben. Und heute? Bis 2020 soll jeder zweite Frankfurter die Stadt verlassen haben. Unter den heute rund 50.000 Frankfurtern sind viele Rentner. Wer jung ist und sein Leben noch aktiv in die Hand nehmen kann, zieht weg. Dorthin, wo es Jobs und Hoffnung gibt. Die einst so stolzen Plattenbauwohnungen stehen derweil leer und da mit den Jungen auch die Kinder wegzogen, ist die Stadt trist und still geworden. Ja, auch die Rentner aus Frankfurt könnte man als Verlierer der Entwicklungen der letzten zwei Jahrzehnte bezeichnen. Aber sind sie Modernisierungsverlierer? Das zu behaupten, wäre zynisch. Immer wieder gibt es Entwicklungen, die Menschen zwingen, in andere Regionen zu ziehen, ihr Glück fern der Heimat zu suchen. Aufgabe der Politik ist es, diese Entwicklungen zu begleiten und deren Folgen zu meistern. Wenn die Politik in diesem Punkt versagt, sind doch nicht die Menschen daran schuld, die ohnehin an den Fehlern leiden?

Verlierer; das sind zum Beispiel Boxer, die ihre Deckung nicht oben halten können oder Läufer, denen die Puste ausgeht. Die Menschen, die ihr Vertrauen in die Politik verloren haben, sind keine solchen Verlierer sondern Opfer! Da wir es nicht mit unabwendbaren Entwicklungen zu tun haben, gibt es – selbst wenn das Wort „Täter“ zu hart sein mag – Verantwortliche; Verantwortliche, die versagt haben und dabei Opfer produziert haben. Diese Opfer nun als Verlierer zu bezeichnen, die halt irgendwie zu langsam, zu unflexibel, ja zu blöde sind, um sich den modernen, globalisierten Zeiten anzupassen, ist eine Verhöhnung. Weder die Altenpflegerin, der Wachmann oder die Kassiererin sind langsam oder blöde … sie haben halt „nur“ das Pech, keine starke Lobby zu haben und von der Politik verkauft worden zu sein. Auch den arbeitslosen Industriearbeiter aus dem Ruhrgebiet und den Rentner aus Frankfurt/Oder trifft keine persönliche Schuld.

Wir haben es hier wie bereits erwähnt vielmehr mit einer Form des Zynismus zu tun, die wahrlich menschenverachtend ist. In wie weit unterscheidet sich Merkel denn in diesem Punkt von einem korrupten Kleptokraten aus Afrika, der Gelder, die für einen Dammbau bestimmt waren, veruntreut hat und nun die Flutopfer tränenreich als Verlierer des Klimawandels beweint?

So unterscheiden sich dann wohl die Lesarten. Vielleicht werden Sie sich jetzt zusammen mit mir über derlei zynische Äußerungen aufregen? In der Sprachregelung der Eliten sind Sie dann jedoch auch nur ein Modernisierungsverlierer, der in einem linkspopulistischen Blog postfaktische Verschwörungstheorien liest. Willkommen im Klub!


[«*] Der Anteil des Herstellerpreises ohne Steuern, den man den Lohnkosten zuweisen kann