Causa Andrej Holm – Staatssekretär, Linksextremist und/oder Stasi-Mitarbeiter?

Wolf Wetzel
Ein Artikel von Wolf Wetzel

Die rot-rot-grüne Landesregierung in Berlin ist erst wenige Tage im Amt und in der öffentlichen Debatte geht es nicht um politische Inhalte, sondern um eine Personalie: die des Soziologen Andrej Holm, einem Gentrifizierungskritiker, der in der neuen Regierung zum „Staatssekretär für Wohnen“ ernannt wurde. Wäre Holm kein Gentrifizierungskritiker, sondern ein ehemaliger Immobilienspekulant wäre die Aufregung wohl geringer ausgefallen. Doch es geht auch um Stasi-Vorwürfe. Für die NachDenkSeiten hat sich Wolf Wetzel[*] Gedanken um die Personalie Holm gemacht.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

In Berlin hat sich eine rot-rot-grüne Landesregierung zusammengefunden. Es gab ja schon einmal eine – ohne grün. Sie hatte u.a. die massiven Privatisierungen von städtischem, also gemeinnützigem Eigentum zu verantworten. Was in dieser Konstellation besser/anders werden wird, wird sich sehr bald herausstellen. Eine faustdicke Überraschung gibt es jedenfalls jetzt schon: Die Berliner Bausenatorin Katrin Lompscher (Linke) hat Andrej Holm als Staatssekretär für Wohnen vorgeschlagen. In Berlin kennen Andrej Holm recht viele – vor allem jene, die seit Jahren gegen die grassierende Gentrifizierung in Berlin kämpfen – ob als betroffene MieterInnen, die die rasant steigenden Mieten nicht mehr bezahlen können, ob als Initiativen, die sich Zwangsräumungen entgegenstellen oder als Stadt(teil)initiativen: Kotti und Co, Recht auf Stadt, Stadt von unten, Initiative 100% Tempelhofer Feld u.v.a.m.. Sie eint vor allem eins: Sie wollen die Stadt, ihr Viertel nicht an Yuppies, Hipster und Immobilienfonds abtreten.

Häuserkampf von oben und andere „Straßenkämpfe“

Andrej Holm ist Stadtsoziologie und hat sehr profunde Analysen gemacht, die das doch recht unverständliche Wort „Gentrifizierung“ greifbar machen, also den Prozess der Verdrängung von alten MieterInnen, das gefällige Zusammenspiel von Stadtplanung, Investoren und Banken, um sich die attraktivsten Teile der Stadt unter den Nagel zu reißen. Andrej Holm kann nicht nur sehr exakt belegen, dass der „freie Markt“ eine Farce ist, also ein Eldorado für fünf Prozent der Bevölkerung. Er kann auch sehr genau begründen, wie sich die Stadtregierungen mit ihren verschiedenen und doch gleichen Parteienmischungen gegenseitig darin überboten haben, zu beweisen, dass das „Primat der Politik“ eine Fußnote im Häuserkampf von oben ist – wenn es darum geht, die Frage zu beantworten: Wem gehört die Stadt?

Dazu hat Andrej Holm mit beigetragen, durch präzise Analysen und durch seine Präsenz als Aktivist, als Gegner einer Stadtpolitik, die sich vor allem als Immobilienverwertungskonsortium versteht.

Kaum war die Ankündigung, ihn zum Staatssekretär zu berufen, öffentlich, meldete sich die Berliner Zeitung an der Front und zu Wort, bestens bewaffnet. In ihrem Aufreißer vom 12.12.2016 verwies sie auf Andrej Holms Vergangenheit, in diesem Fall seine Jugend:

„B.Z. liegt die Stasi-Akte von Andrej Holm vor.

Nach dem Abitur wird ihm ein gefestigter Klassenstandpunkt bescheinigt.

  • 24. Juni 1985: Als 14-Jähriger unterzeichnet Holm mit seinen Eltern die „Bereitschaftserklärung“, nach der Schule „als Berufsoffizier/Berufsunteroffizier im Ministerium für Staatssicherheit Dienst zu leisten“. Er erklärt sich mit allen Konsequenzen einverstanden – bis hin zu Meldungen über seine Freunde und Partnerinnen. „Änderungen in den persönlichen und familiären Verhältnissen werde ich dem Ministerium für Staatssicherheit mitteilen.“
  • 12. Juli 1989: Die Stasi-Bezirksleitung Berlin, Kreisdienststelle Pankow, empfiehlt Holm als Offiziersschüler, bescheinigt ihm einen „gefestigten Klassenstandpunkt, der sich mit der Aufnahme in die SED bestätigt“.
  • 1. September 1989: Holm wird Offiziersschüler beim Stasi-Wachregiment „Feliks Dzierzynski“, erhält 675 Mark Bezüge.

    In einer vierseitigen „Verpflichtungserklärung“ schreibt er: „Ich verpflichte mich, alle meine Kräfte und Fähigkeiten einzusetzen, um die ehrenvollen Pflichten und Aufgaben eines Angehörigen des Ministeriums für Staatssicherheit zu erfüllen (…).“

  • 12. Oktober 1989: Drei Tage nach der friedlichen Großdemo in Leipzig mit 50.000 Teilnehmern gibt es die „Mitteilung“, der Genosse Holm habe die militärische Grundausbildung mit „sehr guten Ergebnissen absolviert“. Weiter heißt es: „Er wurde an der Pistole M, Mpi (Maschinenpistole, d. Red.) und im Werfen der Handgranate RGD-5 ausgebildet.“

Als Service bietet die Springer-Zeitung an: „Holms Stasi-Akte hier downloaden …

Die Jagdsaison war eröffnet: Eine „Zumutung“ nennt es Hubertus Knabe (57), Direktor der Stasi-Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen: „Auch wenn man in Rechnung stelle, dass Holm damals noch sehr jung war und die DDR kurz darauf zusammenbrach, „wäre es vor allem für die Opfer ein fatales Signal, wenn Rot-Rot-Grün einen Mann mit dieser Biografie in den Senat beruft.““ (s.o.)

„Der SPD-Abgeordnete Sven Kohlmeier fordert den umstrittenen Staatssekretär Andrej Holm zum Rücktritt auf.“ (Tagesspiegel vom 16.12.2016)

Auch aus den Reihen der Grünen wird das Stöckchen aufgegriffen: “Ich bin schon einigermaßen über die neue Wendung in Herrn Holms Biografie verwundert. Es ist fraglich, ob nun tatsächlich alle Fakten zu seiner Stasi-Tätigkeit auf dem Tisch liegen. Deshalb muss es eine umfassende Überprüfung seiner Vergangenheit geben”, sagte Kapek. (s.o.)

Dass eine angepasste Jugend bei den angepassten Kritikern und ergebenen Staatsdienern gar nicht so das Problem ist, hat der CDU-Abgeordnete Kurt Wansner unfreiwillig verraten: „Seine Personalie ist ein Augenzwinkern an die autonome Szene in der Hauptstadt – und eine Absage an eine Politik, in der Recht und Ordnung noch etwas gelten“, erklärte Wansner. (s.o.)

Für das Statement für „Recht und Ordnung“ hat sich dieser CDU-Abgeordnete einen rechtschaffenen Ort ausgesucht: die ‚Junge Freiheit’.

Stasi und andere Geheimdienste

Was Andrej Holm dazu gesagt hat, findet man auch in der Berliner Zeitung:

„Es war keineswegs mein sehnlichster Wunsch. Aber als ich mit 16 Jahren aufgrund meines familiären Hintergrunds angesprochen wurde, hielt ich es für meine Pflicht, der DDR zu dienen. Mit 18 fehlte mir der Mut, meine Verpflichtung zurückzuziehen.“

Gehen wir einmal davon aus, dass der 18-jährige Andrej Holm im engen oder weiteren Sinne für den Inlandsgeheimdienst der DDR (Stasi) gearbeitet hat. Er hatte sich den familiären Erwartungen und dem politischen Druck gebeugt. Möglicherweise wollte er auch seinem Land „dienen“ und sich nichts verbauen.

Diese angepasste und karrierebewusste Haltung pflegen ganz besonders jene, die den BürgerInnen der DDR genau dies vorhalten.

Vielleicht kannte der 18-jährige Andrej Holm auch noch nicht die „Ost-West-Gleichung“: Wenn in der DDR Menschen bespitzelt werden, dann ist das ein Merkmal für eine Diktatur. Wenn dies in Westdeutschland passiert, ist das hingegen ein Zeichen einer „wehrhaften Demokratie“.

Systemcheck

Gehen wir die Abrechnung (mit der Vergangenheit) einmal unbefangen durch:

Wie viele, die ihm das vorwerfen, haben in Westdeutschland alles mitgemacht? Wie viele haben in Westdeutschland eisern und beharrlich die Renazifizierung unterstützt und gedeckt?
Wie viele ehemalige Nazis durften in allen Positionen und in allen Ministerien weitermachen, ihre Karriere fortsetzen? Wie viele haben diese faschistische „Vergangenheit“ gedeckt und geteilt?

Wer hat in Westdeutschland bereits Anfang der 50er Jahre Faschisten aus dem Dritten Reich in stay-behind–Terrorgruppen organisiert und bewaffnet? Wer deckt diesen staatseigenen Terrorismus bis heute?
Wie viele waren am Verbot der KPD, an den zehntausenden Berufsverboten, bis hin zum „Deutschen Herbst“ ab Mitte der 70er Jahre beteiligt?

Andrej Holm hat sich am Spitzelsystem der DDR beteiligt. Lassen wir das einmal so stehen und fragen die aufrecht Empörten: Wie viele lebten vom Bespitzeln und Überwachen in Westdeutschland? Wer hat in Westdeutschland zugelassen, dass US-Geheimdienste grenzenlos und ohne jegliche parlamentarische/institutionelle Kontrolle bespitzeln und überwachen durften? Wer hat diesen Verfassungsbruch gedeckt?
Wie viele von den nun Empörten finden Überwachung und Bespitzelung in Ordnung – zum Schutz dieses Landes?

So titelte das Magazin „Der Spiegel“ bereits Anfang der 80er Jahre seine Titelstory mit der Überschrift:

„Auf dem Weg zum Überwachungsstaat“ (2/1983): Die Gefahren des ‚großen Bruders’ sind nicht mehr bloß Literatur. Sie sind nach dem heutigen Stand der Technik real.“

Der Fall Andrej Holm ist ein Grund mehr, mit der Vergangenheit und ihrem Ranking offensiv umzugehen und endlich die Mär vom Unrechtstaat DDR und vom Rechtsstaat BRD durchzubuchstabieren.

Man braucht die Generation „Flakhelfer“ und die angebliche „Stunde Null“ in Westdeutschland nicht in Erinnerung zu rufen, um diese Infamie anzugreifen, mit der Andrej Holms Vergangenheit für untragbar gehalten wird.

Andrej Holm hat mit seiner oppositionellen Haltung hier, in diesem Deutschland, mehr aus seiner Jugend gemacht, als alle jene, die bis heute die „Weltherrschaft der Spitzel“ (FR vom 28. Juni 2013) decken und tragen.
Und genau diese nicht angepasste Haltung, die Bereitschaft, kein Systembückling zu sein, haben Andrej Holm keine Lorbeeren eingebracht, sondern Überwachung, Bespitzelung und Einzelhaft. Im real existierenden Deutschland.

Andrej Holm wurde über mehrere Monate überwacht und am 31. Juli 2007 inhaftiert. Der Vorwurf lautete, Mitglied einer militanten Gruppe (mg) zu sein, die sich u.a. zu mehreren Anschlägen auf Immobilienfirmen bekannt hatte. Das Bundeskriminalamt fand heraus, dass es zwischen einem Text von Andrej Holm und Bekennerschreiben der ›mg‹ eine »Vielzahl« von Übereinstimmungen gäbe: Wörter wie ›Reproduktion‹, ›implodieren‹, ›Prekarisierung‹, ›Bezugsrahmen‹, ›politische Praxis‹ oder das nicht ganz leichte Wort ›Gentrifizierung‹[1] würden in beiden Texten auftauchen. Außerdem habe er sich der Überwachung dadurch entzogen, indem er an Treffen beteiligt gewesen sei, ohne sein Handy mitzuführen.
Ende August 2007 wurde der Haftbefehl aufgehoben, im Jahr 2010 wurde das „Verfahren“ eingestellt.

Fangen wir also an, mit der Vergangenheitsbewältigung, mit der Beantwortung der Frage: Was ist ein „Unrechtsstaat“, was ist ein „Rechtsstaat“?


[«*] Wolf Wetzel
Häuserkampf I | Wir wollen alles – der Beginn einer Bewegung (1970-1985), Bibliothek des Widerstands, Band 21, LAIKA Verlag Hamburg, 2012

[«1] Die Initiative „Kotti und Co“ haben dazu eine Erklärung verfasst: Offener Brief an den Berliner Senat aus SPD, Grünen und Linken und die Koalitionsfraktionen

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