Die Legende des „umstrittenen“ Kölner Kardinals Joachim Meisner. Ein realistisches Porträt von Werner Rügemer.

Werner Rügemer
Ein Artikel von Werner Rügemer

Das gegenwärtige Deutschland braucht in seiner geistigen Not Legenden – auf Teufel komm raus. Wenn Prominente sterben, entfesseln die herrschenden Medien einen Legenden-Furor: Adenauer, Kohl, jetzt der Kölner Erzbischof und Kardinal Joachim Meisner. Der erzreaktionäre Theologe, vom polnischen Papst Wojtyla berufen, hetzte bis in seine letzten Tage, schon nicht mehr im Amt, gegen den Reformpapst Franziskus. Seine Stiftung mischte auf dem Maidan in der Ukraine mit. Aber der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Reinhard Marx, macht ihn zum „mutigen Kämpfer gerade wegen seiner Erfahrungen in der DDR“. Albrecht Müller.

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Den Leitmedien, die seine Sprüche gegen Homosexuelle und Abtreibung gern zur Unterhaltung aufgriffen, gilt er als „umstritten“, „streitbar“, „konservativ“. Außenminister Gabriel betrachtet ihn als „bleibende Mahnung auch für mich als lutherischer Christ“ und würdigt ihn als „prägende Gestalt der deutsch-deutschen Geschichte“.

Werner Rügemer hat bei Meisners Rücktritt 2014 ein realistisches Porträt verfasst. NachDenkSeiten-Leserinnen und -Leser sind vermutlich offen und tolerant genug, ein solches Porträt zu würdigen, jedenfalls wahrzunehmen:

Un-Heiligsprechung des Kardinal-Erzbischofs

Ende Februar 2014 trat der Kölner Erzbischof und Kardinal Joachim Meisner nach 25 Jahren von seinem Amt zurück. Der enge Freund der Päpste Karol Wojtyla (Johannes Paul II) und Josef Ratzinger (Benedikt XVI) wurde in den Medien bekannt als Schwulenhasser und Abtreibungsgegner. „Er war umstritten, aber nie langweilig“, beschönigt Die ZEIT. Seine zugespitzten Formulierungen auf diesem Gebiet sorgten für sichere Unterhaltung. Der bekennende Schwule Volker Beck, Geschäftsführer der Grünen im Bundestag, titulierte ihn als „Hassprediger“ wegen seiner Ausfälle gegen Homosexuelle. Die alternativen Kölner Karnevalisten von der Stunksitzung riskierten die Bezeichnung „Sakralstalinist“. Muslimen-Verbände kritisierten ihn wegen anti-muslimischer Sprüche. Die kritische „Kölner Kirchen-Initiative“ verzichtet ausdrücklich auf eine Bilanz seiner Amtszeit. Meisner hatte es also sehr leicht mit seinen „Kritikern“. Eine gewiss unvollständige Bilanz wird hier nachgereicht.

Beten und schießen

Sie verstanden sich prächtig: Der gegelte CSU-Hoffnungsträger Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg und der Kölner Erzbischof Kardinal Joachim Meisner. Der hatte 1.500 Soldaten, Offiziere, Generäle aus Bundeswehr und anderen NATO-Armeen und den deutschen Verteidigungsminister 2011 in den Kölner Dom eingeladen, zur jährlichen Soldatenmesse. Der Kardinal predigte, dass die Religionsfreiheit „das fundamentalste aller Menschenrechte“ ist.

Nach der Messe würdigte der freiherrliche Wehrführer, dass die kirchliche Militärseelsorge bei den Auslandseinsätzen „Großartiges leiste“. Unter Guttenberg, der als erster Verteidigungsminister von Krieg sprach, den die Bundeswehr in Afghanistan führe, war die allgemeine Wehrpflicht abgeschafft worden. Meisner fragte scherzhaft, ob sein Dom auch bei zukünftigen Soldatenmessen noch voll werde. Der junge Kriegsminister: Er werde die Soldaten dafür notfalls „persönlich rekrutieren“.

Das braucht der Plagiator nach unfreiwillig beendeter Dienstzeit nun nicht zu tun. Trotzdem war im Januar 2012, 2013 und auch 2014 der Dom zur Soldatenmesse natürlich wieder voll. Kirchgang ist Dienstpflicht. Der selbsternannte geistliche NATO-Oberkommandierende aktualisierte seine letzte Soldaten-Predigt zeitgemäß. Im Gleichklang mit Bundespräsident Gauck und Bundesregierung sprach er vor den 1.500 Militärs und den vier niederknienden Staatssekretären: „Liebe Schwestern und Brüder!“ Dank gebühre Gott für den Fall des Eisernen Vorhangs! Westeuropa trage nun „eine globale Verpflichtung für den Frieden“. „Aktive Zuwendung“ sei das Gebot der Stunde: So orakelte er ebenso dunkel wie unmissverständlich. „Aktive Zuwendung“! Fast schleimiger und noch zynischer als des anderen, des evangelischen Oberpfaffen Botschaft, Deutschland müsse sich nachhaltiger in die Welt „einbringen“!

Schon Vorgänger Joseph Höffner richtete 1977 den Internationalen Soldatengottesdienst im Kölner Dom ein. Dafür wurde eigens das Katholische Militärdekanat Köln eingerichtet. Die Weihe findet, so berichten es auch die journalistischen Hofschranzen des Kölner Stadt-Anzeigers, am „Weltfriedenstag“ statt. Weltfriedenstag? Es gibt mindestens drei: 1. September (Bundesrepublik Deutschland), 21. September (UNO), der 1. Januar ist der selbsternannte katholische „Weltfriedenstag“, bei möglicher Abweichung um einige Wochen.

Meisner führte also eine Tradition fort. Dafür war er von seinem Protektor Karol Wojtyla 1989 der Erzdiözese Köln gegen (lauen) Widerstand aufoktroyiert worden. 2012 schickte er vom Soldatengottesdienst eine „Weltfriedenstagskerze“ zur Bundeswehr nach Afghanistan. Er verschärfte wie sein Mitbruder im allerrechtesten Glauben, Militärbischof Johannes Dyba, den Ton: „Einem gottlobenden Soldaten kann man guten Gewissens die Verantwortung über Leben und Tod anderer übertragen, weil sie bei ihm gleichsam von der Heiligkeit Gottes abgesegnet wurde.“ Oder präziser: „In betenden Händen ist die Waffe vor Missbrauch sicher.“ Beten und Schießen!

Adenauer: ein Geschenk Gottes

So gehörte Konrad Adenauer, der heimlich und gegen alle Friedensschwüre die bundesrepublikanische Wiederbewaffnung durchdrückte, zu Meisners Lieblingen. Er predigte im Dom beim Pontifikalamt zum 125. Geburtstag Adenauers:

„Wir danken heute Gott, dass er uns Konrad Adenauer geschenkt hat.“

Er fügte für die fromm lauschenden Fans aus CDU, Industrie- und Handelskammer, sowie der Stadtverwaltung und Vertretern der Landes- und Bundesregierung hinzu:

„Ein Volk kann sich glücklich preisen, das von einem Kanzler regiert wird, über dessen Bett wie in Adenauers Schlafzimmer das Jesus-Kreuz hängt.“

Ich hatte damals dem intimen Kenner von des Bundeskanzlers Schlafzimmer einen Brief geschickt mit Belegen, wie sich Adenauer als Oberbürgermeister von Köln hemmungslos aus der Stadtkasse bedient hatte und wie er auch als Bundeskanzler und Vorsitzender einer christlichen Partei bekanntlich schwarze Kassen geführt habe, gefüllt mit Unternehmensspenden, mit denen die CDU gekauft wurde. Sodass also wohl die Bezeichnung Adenauers als Geschenk Gottes doch wohl eine Gotteslästerung bedeute?

Meisner antwortete, dass die Kirche nicht die eventuellen Sünden der Menschen beurteilen könne, sondern dies Gott überlasse. Und Gott werde schließlich alle Sünden vergeben. Der Nachfrage nach der dann ja auch logisch notwendigen Vergebung der Sünden eines gewissen Adolf Hitler wich er aus. Meisner umging die Aufgabe jeder Philosophie und Religion, das Verhältnis von Gut und Böse zu thematisieren. Da entstand notwendigerweise ein ungelöster Widerspruch: Wie konnte dann Meisner gnadenlos zum Beispiel Homosexuelle als Sünder beurteilen? Meisner hat aus seiner DDR-Zeit einen Doktortitel in Theologie; m.E. müsste der ihm aberkannt werden, wegen Verhunzung der Dialektik.

So verdrängt der fragwürdige Theologe auch den kirchlichen Widerstand gegen das Hitler-Regime. 2001 sollte das im Krieg beschädigte und nur provisorisch reparierte Südfenster des Doms erneuert werden. Die ursprüngliche Idee war, hier sechs Kölner katholische Märtyrer darzustellen, die Widerstand gegen die Nazis praktiziert hatten, übrigens ohne Unterstützung der Kirche. Doch unter Meisners Episkopat verschwanden die bereits fertiggestellten Entwürfe in der Versenkung. Er war wohl inspiriert von der gleichzeitigen Seligsprechung von Klerikalfaschisten aus Franco-Spanien und Kroatien durch Bruder Benedikt XVI.

Stattdessen durfte der teuerste Maler der Gegenwart, der den Katholizismus lobende Gerhard Richter, ein hübsches, nichtssagendes Fenster gestalten: Es besteht, vom Zufallsgenerator zusammengewürfelt, aus 11.263 quadratischen Glasplättchen unterschiedlicher Farbe. Finanziert wurde es von Kölner Banken und Geschäftsleuten. (Siehe das Kapitel Göttliches Licht und kapitalistischer Realismus – Gerhard Richters Domfenster, Seite XXX)

Schwule, Drogen, Antibaby-Pille

Wie gesagt, die christliche Milde galt nur eingeschränkt. Homosexualität dagegen sei „im Kern verderblich“, die Menschheit richte sich damit „selbst zugrunde.“ Ebenso gnadenlos und fundamentalistisch hetzte der Kardinal gegen abtreibende Frauen und gegen Drogen.

„Im Mittelalter hatten wir viel Religion und keine Drogen – heute haben wir keine Religion und viele Drogen“

Das ist eine seiner beliebten Diagnosen. Die europäische Werteordnung sei in gleicher Weise noch durch Terroristen und Wissenschaftsgläubige bedroht: Überall fehle der Gottesbezug.

Das Mittelalter dagegen liebt er: Da herrschten nach Gottes Gnaden eine reiche Kirche und kriegführende Feudalherren über Bauern und Städter. Die Herzöge von Jülich und die Grafen von Berg lieferten sich blutige Kriege, um Bischof im reichen Kölner Erzbistum zu werden. Es war eng mit dem Adelsclan der Staufer verbunden. Da konnte der Kölner Erzbischof Rainald von Dassel, zugleich Kanzler des antiislamischen Kreuzzüglers Kaiser Barbarossa, im Mailänder Dom die Gebeine der Heiligen Drei Könige rauben und damit Köln zur reichsten Pilgerstätte Europas machen.

Meisner verglich die Abtreibung mit dem Judenmord unter Hitler. „In unserer Zeit werden ungeborene Kinder millionenfach umgebracht. Abtreibung und Euthanasie heißen die Folgen dieses anmaßenden Aufbegehrens gegen Gott“. Seine Kritik am NS-Regime war aber nicht besonders glaubwürdig, denn er rutschte schon mal selbst in dessen Sprachgebrauch: Ohne Gottesbezug sei heute die Kultur „entartet“.

Natürlich wetterte der sexuell Obsessive auch gegen die Anti-Babypille. Die Ehe zwischen Mann und Frau mit möglichst vielen Kindern sei die „Keimzelle des Staates“. In Ostdeutschland sei die Geburtenrate sogar noch niedriger als in Westdeutschland, klagte er und fantasierte: Das komme, weil es im gottlosen Osten zu viele Kinderkrippen gebe, als sozialistisches Erbe sozusagen.

Und wenn schon keine Kinder, so müssten Mann und Frau zumindest kirchlich verheiratet sein. So konnte er in die CDU hineinregieren: Er zwang Angela Merkel, ihre „wilde Ehe“ zu verlassen, bevor sie nach ihrem Förderer Helmut Kohl CDU-Vorsitzende werden durfte. (Merkel war auch hier folgsam)

Durch diese Zwänge wollen Meisner und seinesgleichen das schlechte Gewissen der kirchlichen Schäfchen zur Gewohnheit machen – so bleiben sie folgsam und beherrschbar, nicht nur in der Kirche selbst. Dazu gehört Meisners extrem autoritärer Führungsstil. Den gottgewollten „Gehorsam“ begründet er mit einem seiner Lieblingssprüche: Die Menschen haben zwei Ohren, aber sie haben nur einen Mund! Will sagen: Die Menschen sollen ihren Oberen gut zuhören, aber ansonsten die Klappe halten!

McKinsey, Immobilien, Rüstungsaktien

Meisner, gelernter Bankkaufmann, predigte seinen Schäfchen und auch immer wieder den Militärs das Leben in Einfachheit. Der mit einem Generalsgehalt alimentierte Prediger der Einfachheit, der sich im 7erBMW bis knapp vor das Domportal chauffieren ließ, hat dagegen ein inniges, weitgehend geheimes Verhältnis zum Reichtum.

Dass er seinen Bruder im Geiste, den meineidigen Protzbauten-Bischof von Limburg, Tebartz van Elst, unterstützte („Er ist der ärmste Hund unter den Bischöfen“), war selbstverständlich. Zur Umstrukturierung der Verwaltung – das größte deutsche Bistum hat 50.000 hauptamtlich Beschäftigte – engagierte Meisner die Unternehmensberater von McKinsey. Arbeitsplätze in Schulen, Caritas und Kindergärten waren abzubauen. Zum Ausgleich sprang der Protzbau des bischöflichen Kolumba-Museums heraus – mit 43 Millionen teurer als Tebartz’s Palastanlage.

Unter Meisner explodierten die Geldanlagen des Erzbistums, getarnt durch Briefkastenfirmen. Hochpreisige Seniorenresidenzen wie die neben dem Dom, Luxus-Immobilien auf der Düsseldorfer Königsallee, am Hamburger Neuen Wall und im Kölner Einkaufszentrum bringen hohe Renditen. Die Mieter Gucci, Armani, Mediamarkt, C&A, H&M und Tamaris zahlen hohe Mieten. Die „BRD Domkloster Cologne B.V.“ wird vom Briefkasten-Treuhänder TMF in Amsterdam verwaltet, wo auch die US-Investmentbanken J.P. Morgan und Morgan Stanley ihre Steuern hinterziehen, pardon „gestalten“. Das nutzt auch das Kölner Erzbistum, einer der großen Abgreifer von Steuermitteln in Deutschland.

Die traditionelle Bank des Bistums, die PAX-Bank, genügt seit Meisners Regiment den Anforderungen nicht mehr. Sie arbeitet zusammen mit einem global player, der Privatbank M.M Warburg – natürlich nach den „ethischen und moralischen Normen der katholischen Kirche“. Danach sind Pornoshops als Mieter ausgeschlossen. Die Moral sieht dann so aus: Die diversen Fonds, gemanagt von einem Ex-Deutschbanker, sind gefüllt u.a. mit Aktien des US-Rüstungskonzerns Lockheed Martin, der Bank of America und der Allianz (Rohstoff- und Agrarspekulationen), von McDonald’s, VW und Daimler. Auch Aktien der Pharmakonzerne Novartis und Sanofi gehören schon mal zum Portfolio: Sie stellen die so verteufelten Antibaby-Pillen und die „Pille danach“ her.

Mit dem Papst empfangen von der Bankiersfamilie Oppenheim

Wohin fließen die Erträge? In die vielen Stiftungen des Erzbistums? Der veröffentlichte Haushalt des Erzbistums ist vom nicht veröffentlichten Haushalt des „Bischöflichen Stuhls“ getrennt: Der ist zuständig z.B. für Stiftungen und Erbschaften. Da geht’s wohl ähnlich zu wie in der Vatikanbank: Seit 1991 war Meisner Mitglied der Präfektur für die ökonomischen Angelegenheiten des Heiligen Stuhls.

Bei Multimillionären verzichtet die von McKinsey aufs Kürzen getrimmte Kirche gern auf Einnahmen. Klaus Esser, Ex-Vorstandschef des Mannesmann-Konzerns, hatte durch seine Verhandlungsführung dem Käufer von Mannesmann, dem Vodafon-Großaktionär Li Kascheng aus Hongkong, einen Gewinn von 8 Milliarden verschafft. Der gute Li zeigte sich mit einem 30 Millionen-Bonus an Esser erkenntlich. Da Esser auch ein treues Mitglied der Kirche ist, wurde ihm – zunächst – darauf auch die Kirchensteuer abgezogen, 500.000 Euro. Er empfand das aber als Ungleichbehandlung, denn entlassene Verkäuferinnen bei Karstadt bekämen auf ihre Abfindungen einen Kirchensteuer-Rabatt, so Esser.

Sofort ließ der Kirchensteuer-Rat des Erzbistums Esser die Hälfte rückerstatten, 250.000 Euro. Das hätte mehreren Erzieherinnen zu einem Arbeitsplatz verholfen. Aber wesentlich war: Es verhalf dem mit der Karstadt-Verkäuferin nun Gleichgestellten zum öffentlich vor Gericht geäußerten Bekenntnis (er stand zusammen mit Deutschbanker Josef Ackermann wegen Untreue unter Anklage):

„Ich bin mit mir und dem lieben Gott im Reinen.“

Als Papst Benedikt in Köln den Weltjugendtag feierte, gab das Bistum den Empfang im Schloß des Gestüts Schlenderhahn bei Köln. Dort züchtet die Familie der damals noch nicht vor Gericht stehenden Bank Sal. Oppenheim seit 150 Jahren erfolgreiche Rennpferde. Einen Teil des erzbistümlichen Vermögens ließ Meisner bei der Bank verwalten.

Und als der langjährige Chef der Bank, Alfred Freiherr von Oppenheim, 2005 starb, stellte Meisner der Familie den Dom für eine üppige Trauerfeier zur Verfügung. Ansonsten verbietet er ökumenische Feiern grundsätzlich. Dabei war der Bankier nicht einmal evangelisch, vielmehr war er schon vor Jahren aus der evangelischen Kirche ausgetreten, und zwar wegen des Engagements seiner Kirche in der Friedensbewegung. Sowas gefiel dem Meisner.

Ausweg: Elitenkirche

Meisner tat gern volksnah. Kein Kind in erreichbarer Nähe konnte sich vor dem Tätscheln des Hinterkopfs retten. Die Kölner Karnevalistenvereine ließ er im Dom – trotz Verbots jeglicher Kopfbedeckung und auffälliger Kleidung – in vollem Jecken-Wichs antreten, mit Narrenkappe und kurzröckigem Tanzmariechen.

Doch Meisner wußte, dass die Kirche, wie sie ist, auf einem sterbenden Ast sitzt. Das Befragungsinstitut Sinus Sociovision stellte fest: Das untere Drittel der Bevölkerung hat sich von der Kirche ganz verabschiedet. Getragen wird sie von Menschen, die irgendwie konservativ, meist akademisch gebildet und einigermaßen vermögend sind, dazu über 50 und vor allem über 60 Jahre alt. Mit anderen Worten: missmutige CDU-Stammwähler.

Der Kölner Dom lebt vor allem als Marketing-Symbol der Stadt und ihrer Unternehmen. Die umworbenen täglich etwa 10.000 Touristen aus christlichen und unchristlichen Weltregionen bringen Geld. Mit Hund, Currywurst, Eistüte und klingelnden Handys latschen sie respektlos und hastig fotografierend im Dom herum. Die Einnahmen gefielen dem Kardinal, aber er wußte: Die Zukunft der von ihm, Wojtyla und Ratzinger erstrebten Christlichkeit liegt woanders.

Seit seinem Antritt organisierte er die Gegenbewegung. Wer nicht aktiv der neuen Linie diente, musste raus. Er nahm das Katholisch-Soziale Institut (KSI) an die Kandarre, nachdem dort vorsichtige Kritik an der Kluft zwischen arm und reich geäußert wurde. Er sperrte der lammfrommen Katholischen Arbeitnehmer-Bewegung das Geld ebenso wie der betulichen Karl Rahner-Akademie.

Der schon von seinen Vorgängern aufgenommenen Elitentuppe Opus Dei wies der populistische Elitenchrist eine große Kölner Kirchengemeinde mit einer der schönsten romanischen Kirchen zu: St. Pantaleon. Inzwischen werden 30 kleinere fundamentalistische „Gemeinschaften“ aus Bistumsgeldern üppig gefördert: Monastische Gemeinschaft von Jerusalem, Omnia Christo/Legio Mariens, Legionäre Christi, Regnum Christi, Neokatechumenaler Weg, Laienspiritaner, Kapuziner-Terzianerinnen, Fokolar-Bewegung, Nightfever, Gemeinschaft Emmanuel und andere.

Sie bestehen vielfach aus Laien, sind aber direkt der rechten, sehr rechten Hand Meisners, Weihbischof Dominikus Schwaderlapp, unterstellt. Sie leben entweder in mönchischer Gemeinschaft oder konkurrieren als Ehepaare um die höchste Zahl der Kinder. Gemeinsam ist ihnen: Sie feiern die mystische Verwandlung des Leichnams Christi und das Bußsakrament und pflegen den Marienkult: Gottesmutter Maria, die von keinem Manne „berührt“ und somit ohne Sünde ist („unbefleckte Empfängnis“), wird bei den Ritualen von Opus Dei & ähnlichen ohne das Jesulein dargestellt. Bei einer Feier des Neokatechumenalen Wegs gab Meisner das Programm bekannt:

„Eine Familie von Euch ersetzt mir drei muslimische Familien.“

Beten auf dem Maidan

Auch auf andere Weise setzt das Erzbistum Meisners Erbe fort. Seit zwei Jahrzehnten organisiert es den katholischen Ritt nach Osten. Dafür bekam er die Ehrenplakette des Bundes der Vertriebenen und wurde Ehrenritter des Deutschen Ordens. 2013 gründete das Erzbistum die Kardinal Meisner-Stiftung. Sie soll die Priesterausbildung in Osteuropa finanzieren.

Meisner leitete seit 1993 die Katholische Stiftung RENOVABIS (Psalm 104: Renovabis faciem terrae = du wirst das Gesicht der Erde erneuern). Sie wurde vom Zentralkomittee (!) der deutschen Katholiken gegründet, Ziel: „christlicher Neuanfang“ in den ex-sozialistischen Staaten. Bisher wurden 19.000 Projekte mit gut 500 Millionen Euro finanziert.

Am 9.12.2013 schickte RENOVABIS eine Solidaritätsadresse an die katholischen Bischöfe in der Ukraine: Der „Weg nach Europa“ müsse offenbleiben. Am 19.12.2013 verbreitete RENOVABIS den bedauernden Bericht ihres ukrainischen Korrespondenten: „Maidan verliert an Schwung.“ Am 20.2.2014 die Wende: „Kirchen sind auf dem Maidan sehr präsent – Interview mit Erzbischof Vijtyshyn zur aktuellen Situation in der Ukraine“. Der Bischof teilte begeistert mit, seine Kirche unterstützte die Demonstranten, die Priester beteten mitten unter ihnen. Von neofaschistischen und antisemitischen Demonstranten sagte der westlich subventionierte Erneuerungschrist nichts.

Dass der Rabbi von Kiew die Juden aufruft, so schnell wie möglich zu flüchten – das soll RENOVABIS‘ Ostritt nicht aufhalten.

Nachsatz: Nach eigenem Bekunden geht Meisner alle vier Wochen zur Beichte. Seinen Beichtvater hat er selbst ausgewählt. Wenn wir uns vergegenwärtigen, was er selbst als Sünde bezeichnet – was beichtet er dann wohl? Und was nicht? Und warum so oft?

Aus: Werner Rügemer: Bis diese Freiheit die Welt erleuchtet. Papyrossa Verlag, Köln 2017, 2. Auflage