Köhler: „Warum sollten wir ausgerechnet auf demokratische Selbstbestimmung verzichten, wenn’s um den Weg aus der Krise geht?“

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„Wir haben alle über unsere Verhältnisse gelebt“, behauptete Bundespräsident Köhler in seiner vierten Berliner Rede am 24. März und belegte damit einmal mehr, wie weit er von der Realität der Mehrheit in der Bevölkerung entfernt ist, die eher unter ihren Verhältnissen leben musste. Nun nimmt Köhler in einem Interview mit der Bild-Zeitung den Begriff der „demokratischen Selbstbestimmung“ in den Mund. Ein wahrhaft großes Wort. Aber müssen sich die Demokraten dadurch nicht erneut verhöhnt fühlen? Wolfgang Lieb

Hat der Bundespräsident nicht zur Kenntnis genommen, dass mehrere Umfragen aus der jüngsten Zeit übereinstimmend zu dem Befund kommen, dass ungefähr die Hälfte der Deutschen mit der Art und Weise, wie die Demokratie in Deutschland funktioniert, weniger oder gar nicht zufrieden sind? Wie sieht es mit der „demokratischen Selbstbestimmung“ aus, wenn eine demokratisch gewählte Regierung in zentralen Fragen – etwa der sozialen Sicherheit – dauerhaft gegen den Mehrheitswillen regiert? Das Pathos von der „demokratischen Selbstbestimmung“ muss bei einer Mehrheit der Bevölkerung wie Hohn in den Ohren klingen:

  • 56 % der Befragten meinen, dass es in Deutschland eher ungerecht zugeht (Deutschlandtrend)
  • 57 % sind reformskeptisch (Polis/Sinus)
  • 58 Prozent halten die Hartz-Reformen alles in allem für nicht gut (ZDF-Politbarometer August 2007)
  • 78 Prozent sind für die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns für alle Branchen (ebd.)
  • Gleichfalls 78 Prozent sind gegen die Rente mit 67
  • Nach einer Umfrage von 2009 von TNS Emnid glauben 73% nicht daran, dass durch die Lockerung des Kündigungsschutzes und eine Ausweitung der Probezeit auf 24 Monate in ihrem Betrieb neue Arbeitsplätze geschaffen würden
  • Zu vielen weiteren Reformen der Agenda 2010, etwa zur Rentenreform, zur Arbeitslosenversicherung etc., ist die Haltung der Bevölkerung gleichfalls mehrheitlich ablehnend
  • Nach der gewiss reformfreudigen McKinsey-Studie „Perspektive Deutschland“ (2006) hält die Hälfte der Teilnehmer die bisherigen „Reformen“ nicht für erfolgreich, und kaum jemand (15%) glaubt davon profitieren zu können
  • Eine große Mehrheit ist für den Sozialstaat und für mehr sozialen Ausgleich

Was hat, so muss man den Bundespräsidenten fragen, die reale Politik der letzten Jahre mit „demokratischer Selbstbestimmung“ zu tun?
Wo bleibt die „Selbstbestimmung“ bei denjenigen, die durch die Rezession ihren Arbeitsplatz verlieren, und bei den 5 Millionen Arbeitslosen, die im Gefolge der Wirtschaftskrise für die kommenden Jahre prognostiziert werden?

Oder: Wo bleibt die „demokratische Selbstbestimmung“, „wenn’s um den Weg aus der Krise geht?“ Da wird im Hau-Ruck-Verfahren ein Bankenrettungsschirm von fast 500 Milliarden durch das Parlament gepeitscht, um die Spielschulden des Banken-Casinos abzudecken, und nicht einmal die Volksvertreter dürfen mitentscheiden, an wen die Milliarden vergeben werden. Sogar das Parlament hat sich, wenn`s um den Weg aus der Krise geht, selbst entmachtet.

Der Weg aus der Krise ist damit gepflastert, dass der Steuerzahler für die Rettung der Banken haftet, dass er die Garantie für die in „Bad Banken“ auszulagernden „toxischen“ Papiere übernehmen soll, und dass er danach Opfer bringen soll, um die daraus resultierenden Staatsschulden wieder abzubezahlen. Was das mit „demokratischer Selbstbestimmung“ zu tun haben soll, müsste uns der Bundespräsident einmal erklären.

“Eng ist die Welt und das Gehirn ist weit. Leicht beieinander wohnen die Gedanken, doch hart im Raume stoßen sich die Sachen.” So heißt es in Schillers Wallenstein.

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