Rezension von Friedhelm Hengsbachs „Was ist los mit Dir, Europa?“

Ein Artikel von Thomas Trares
Friedhelm Hengsbach

Was ist los mit Dir, Europa?“ heißt das neue Buch des Wirtschafts- und Sozialethikers Friedhelm Hengsbach. „Was ist los mit Dir, Europa?“ fragte auch Papst Franziskus die Repräsentanten des Europäischen Parlaments, der Kommission und des Rates, als er 2016 im Vatikan den Aachener Karlspreis entgegennahm. Bei der Auswahl des Titels hat sich Hengsbach schon bei seinem Vorgängerwerk „Teilen, nicht töten“ vom Papst inspirieren lassen. Dieses bezog sich auf Franziskus´ Ausspruch „Diese Wirtschaft tötet“ und hatte die Themen soziale Ungleichheit und gesellschaftliche Polarisierung zum Inhalt. Nun beschäftigt sich Hengsbach mit dem Zustand Europas in Zeiten des Brexit, des Aufkommens nationalistischer Strömungen und der zunehmenden Entfremdung zwischen Regierenden und Regierten. Eine Rezension von Thomas Trares [*]

Hengsbach beackert in dieser, wie er sagt, „sozialethischen Reflexion“ fünf Themenfelder: erstens die sozialen Schieflagen, die sich innerhalb und zwischen den Mitgliedsländern aufgetan haben, zweitens die Frage, ob die EU eine Sozialunion ist, drittens die Asylpolitik und das „Wir schaffen das“ von Bundeskanzlerin Angela Merkel, viertens das Wirrwarr der Institutionen und Zuständigkeiten auf Ebene der Europäischen Union (EU) und fünftens die Frage, wie nach dem Brexit-Schock ein Neustart der EU aussehen könnte.

Allein schon die Aufzählung verdeutlicht: Hengsbach macht auf den rund 120 Seiten einen breiten Themenfächer auf. Er referiert über den Binnenmarkt, die Währungsunion, die Europäische Zentralbank (EZB), die Finanz- und die Eurokrise und geißelt die neoliberale Ausrichtung der EU. „Das marktradikale Erbgut, das in den vergangenen 30 bis 40 Jahren weltweit die wirtschaftliche und politische Arena beherrscht hat, ist in die Konstruktion des Europäischen Binnenmarktes und der Währungsunion eingeflossen und hat dort große Schäden verursacht.“ (S.10)

Weiter spricht er über Solidarität in Europa, die Deformation sozialer Grundrechte, Wettbewerbsföderalismus, das Dublin-Verfahren, die Rechte von Geflüchteten, einen „Camino Europe“, Europa als „Mehrebenen-Demokratie“ oder eine „schwingende Architektur“ bei den EU-Institutionen. Die Themenbreite ist freilich dem Umstand geschuldet, dass sich unter die Überschrift Europa viele Aspekte unterordnen lassen. Manchmal wirkt der Text dadurch aber auch etwas sprunghaft.

Vertreter der Katholischen Soziallehre

Hengsbach gilt als einer der wichtigsten Vertreter der Katholischen Soziallehre. Er studierte Ökonomie und Theologie, bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2005 war er Professor für Christliche Gesellschaftsethik an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt am Main und bis 2006 Leiter des Nell-Breuning-Instituts für Wirtschafts- und Gesellschaftsethik. Als Buchautor und Talkshow-Gast griff der inzwischen 80-Jährige immer wieder in die öffentliche Debatte ein. Seine Schriften kreisen meist um die Themen Verteilung, Arbeit, soziale Sicherung, Ethik und Kapitalismus. Das Thema Europa ist dagegen relativ neu.

Eines der großen Probleme der EU sieht Hengsbach in einem „Schlammassel der Strukturen und Verfahren“, die kaum einer mehr durchschaut. Da sind das europäische Parlament, die EU-Kommission und der Ministerrat einerseits, dann die verschiedenen Gipfel der Staats- und Regierungschefs und schließlich die zahlreichen völkerrechtlichen Verträge, die einzelne Mitgliedsländer untereinander geschlossen haben. Zwischen all diesen Institutionen herrschten Kompetenzgerangel, unklare Zuständigkeiten und Machtverhältnisse. „Im schleichenden Abschmelzen des politischen Profils der Union sehe ich die Ursache des Unbehagens, der inneren Distanz und Ablehnung eines großen Teils der Bevölkerung, die sich gegen einen monströs erscheinenden Apparat richtet, der von bürokratischer und finanzwirtschaftlicher Geschäftigkeit beherrscht wird“, schreibt Hengsbach (S.105).

Hengsbach widerspricht der Kanzlerin

Dem „Wir schaffen das“ der Kanzlerin kann Hengsbach indes nur wenig abgewinnen. Zwar findet er, dass sie im September 2015 eine historische Entscheidung getroffen habe, als sie den „menschlich unerträglichen Stau der Geflüchteten an der Grenze zu Ungarn oder im Budapester Bahnhof auflöste“. Vom Ende her gedacht habe sie aber mit der Ansage „Wir schaffen das“ einen vertikalen Riss zwischen den staatlichen Organen und der zivilen Gesellschaft sowie einen horizontalen Riss zwischen den europäischen Mitgliedsstaaten erzeugt. Und weiter kritisiert er: „Die deutsche Kanzlerin weiß, wie sie sich die Geflüchteten vom Hals schafft – nicht mit brutaler Gewalt, nein, man müsse nur ´genauso vorgehen, wie wir es auch im Zusammenhang mit der Türkei gemacht haben´, nämlich verhandeln und bezahlen, um andere die schmutzige Arbeit machen zu lassen.“ (S.54)

Und auch von Merkels Vorstellung von einer „EU der zwei Geschwindigkeiten“ hält Hengsbach nur wenig. Die Kanzlerin hatte dies im Anschluss an den Flüchtlingsgipfel auf Malta gesagt und als Beispiele den Schengenraum und den Euro genannt, an denen auch nur ein Teil der Mitgliedsstaaten teilnimmt. Hengsbach hingegen plädiert für ein „gemeinsames und solidarisches Vorgehen“ der Mitgliedsstaaten. Das schaffe Vertrauen im Gegensatz zum „Europa der zwei Geschwindigkeiten“.

Ferner widerspricht Hengsbach der Kanzlerin in der Aussage, dass Europa keine Sozialunion sei. Vordergründig habe sie damit sogar recht, denn die Sozialpolitik fällt in die Kompetenz der Mitgliedsstaaten. Hengsbach zufolge enthalten die europäischen Verträge aber durchaus zahlreiche sozialpolitische Erklärungen, und auch bei der EU sei ein wachsender Anspruch auf sozialpolitische Einflussnahme erkennbar. Allerdings ließen sich daraus noch keine einklagbaren sozialen Grundrechte ableiten.

„Für mehr Gerechtigkeit, Frieden und Solidarität“

Doch wie könnte nun ein Europa „für mehr Gerechtigkeit, Frieden und Solidarität“ aussehen, wie es Hengsbach vorschwebt? Der „Primat des Politischen gegenüber der fiskalischen und monetären Dimension“ müsse wiedergewonnen werden, fordert er, und empfiehlt den Euro nach dem Muster des Finanzregimes von Bretton Woods zu verankern. Ferner sollten sich die „Institutionen und Verfahren der EU ernsthaft auf die Ebene der Nationen, Regionen und Lebenswelten der Bürger ausrichten und sie beteiligen“. Und zwischen den souveränen Nationalstaaten und den EU-Organen müsse es zu einem Ausgleich kommen. Es könne nicht angehen, dass die Kommission den nationalen Parlamenten vorschreibe, wie sie ihre Haushalte zu gestalten haben. Auch sei mehr Transparenz bei den Institutionen und Verfahren unvermeidbar.

Das alles ist sicherlich richtig, allerdings wird bei der Lektüre des Buchs auch deutlich, dass es eine einfache Lösung für Europa nicht gibt. Europa ist ein komplexes Gebilde, entsprechend komplex sind die Probleme und Interessenlagen. Deswegen wird sich auch so mancher Leser auch nach der Lektüre des Buchs noch fragen: „Was ist los mit Dir, Europa?“


[«*] Thomas Trares ist Diplom-Volkswirt. Studiert hat er an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Danach war er Redakteur bei der Nachrichtenagentur vwd. Seit über zehn Jahren arbeitet er als freier Wirtschaftsjournalist in Berlin.