Frank-Walter Steinmeiers Mythomanie

Ein Artikel von:

Wie nach jeder der verlorenen Wahlen, lassen sich die Delegierten auf dem außerordentlichen SPD-Bundesparteitag in die Traumwelt vom nächsten Wahlsieg entrücken.
Der Parteitag erinnerte stark an die Wahlkonvente der amerikanischen Parteien, wo die Delegierten die Rolle einer Fan-Gemeinde einnehmen und jubelnd ihre Pappschilder schwenken. Da redet Steinmeier seine zurückliegende Politik schön und tut so, als müssten die Wählerinnen und Wähler nur noch davon überzeugt werden, dass sie sich bisher ständig geirrt hätten. Da wird die nächste Wahl als Richtungsentscheidung hochgespielt und gleichzeitig verkündet, dass man die Richtung gar nicht ändern will, sondern in die „Mitte“ strebt. Der Euphorie der Delegierten über eine einzige Rede dürfte bald die Ernüchterung folgen, wenn es darum geht die Wählerinnen und Wähler anzusprechen. Selbst die konservative Presse jubelt über Steinmeier, ob aus Mitleid oder aus der Gewissheit heraus, dass diese SPD keine Gefahr mehr für das „Weiter-so“ der kommenden Regierung darstellt. Wolfgang Lieb

Damit kein Missverständnis aufkommt: Ich verstehe es nur zu gut, dass eine Partei vor einer Wahl zusammensteht und dass sie sich in Siegesstimmung versetzen möchte, aber wenn man so tut, als könne eine einzige Rede alles Zurückliegende vergessen machen und als könne eine gute Rhetorik Vertrauen in die Zukunft schaffen, dann grenzt das an Realitätsverlust.

Partei als Fußballverein

Steinmeier: Der letzte Sonntag war kein guter Tag für uns! Das war Mist! Mich ärgert es wie Euch!

Aber heute ist ein neuer Sonntag. Heute sind wir hier, um auf die nächste Wegstrecke nach vorn zu blicken. Orientierung zeigen, Kräfte bündeln. Vor allen Dingen aber, um Grund zu legen für einen fulminanten Wahlkampf. Gemeinsam mit Euch, liebe Genossinnen und Genossen.

Europawahl ist das eine, Bundestagswahl ist was anderes. Nichts ist entschieden für den 27. September.

Wie ein Fußballtrainer einer Zweitliga-Mannschaft nach einer katastrophalen Niederlage gegen ein Erstliga-Team versuchte Steinmeier seiner Mannschaft Hoffnung auf einen unmöglich erscheinenden Sieg im Rückspiel einzureden. Er sprach nicht von seinen eigenen taktischen und strategischen Fehlern bei den bisherigen Niederlagen und schon gar nicht darüber, ob das spielerische Potential seiner Mannschaft ausreicht, dem Gegner beim nächsten Aufeinandertreffen Paroli bieten zu können.

Offenbar scheinen die Motivationskünste im fensterlosen Saal gewirkt zu haben, die Delegierten brachen wie die unerschütterlichen Fans eines Absteigers in Begeisterungsstürme aus, hielten ihre Jubelschilder in die Höhe und sangen abschließend das Vereinslied.

Die SPD übte mal wieder das, was sie seit Jahren am besten kann, nämlich Disziplin und Gefolgschaftstreue. Es gab kein kritisches Wort zum „einstimmig“ verabschiedeten „Regierungsprogramm“ , es herrscht „Ruhe in der Notgemeinschaft SPD“.

Steinmeier: Ein Signal der Geschlossenheit, ein Signal der Entschlossenheit, ein Signal des Aufbruchs. Das ist unsere Botschaft für den heutigen Tag.

Egal wie der (politische) Tabellenstand auch sein mag, egal wie viel Spiele hintereinander verloren wurde, egal ob das letzte Spiel geradezu katastrophal verloren wurde, das spielt alles keine Rolle: Wir werden es schaffen. Es ging wie in einer Fußballkabine ausschließlich darum, Mut zu machen, so als könnten Worte Flügel verleihen.

Der Kandidat als Mythomane

Steinmeier: Alles, was Deutschland in den letzten Jahren vorangebracht hat, alles was dieses Land vor der Krise gestärkt und in der Krise zusammengehalten hat, kam von uns.

Einen solchen Satz kann eigentlich nur jemand sagen, der sich seine eigene Traumwelt aufgebaut hat.
Da ist also die SPD auf „Investitionen in Bildung… gekommen“, obwohl die Bildungsausgaben in den letzten Jahren zurückgegangen sind. Da hat die SPD das „Schulstarterpaket vorgeschlagen und umgesetzt“, ohne dass dazu gesagt wird, wer eigentlich dafür verantwortlich war, dass es die Hartz IV-Familien gibt, die für ihre Kinder keine Schulbücher und Stifte mehr bezahlen können. Da hat die SPD die „Umweltprämie für Autos erfunden“, obwohl das eine Erfindung der Automobillobby war, mit der auch noch die umweltschädlichsten Spritfresser gefördert wurden. Da hat also die SPD „die Begrenzung der Managergehälter…durchgesetzt“, man fragt sich nur wo? Da hat die SPD „die Investoren für Opel…gesucht und gebracht“, gerade so als hätte Steinmeier Magma und der russischen Sperbank aufgetrieben und als hätten diese mit ihren gerade mal 100 Millionen Investitionszusagen Opel schon gerettet.

In der Medizin bezeichnet man ein eine derartige systematische Tendenz zum maßlos übertreibenden Fabulieren, wo es dem Betroffenen nicht mehr möglich ist, zwischen seinen realen Erlebnissen und seinen imaginären Vorstellungen zu unterscheiden, mit dem Krankheitsbild Mythomanie. Also einer narzistischen Persönlichkeitsstörung, die ein mangelndes Selbstwertgefühl gepaart mit einen übertriebenen Geltungsdrang verbindet.

Der Wähler muss sich geirrt haben

Steinmeier: Ohne uns sähe das Land heute anders aus. Leute, wenn wir das nicht sagen, sagt das keiner. Sagt es laut, sagt es täglich, sagt es überall. Sagt es mit Stolz. Dann werden wir auch andere überzeugen.

Gerade weil das Land heute anders aussieht und weil man das vor allem den Sozialdemokraten anlastet, haben die die Mitglieder geradezu fluchtartig die SPD verlassen und haben die Wählerinnen und Wähler die einstmalige Volkspartei abgestraft. Die Euphorie der Delegierten auf dem Parteitag dürfte rasch in Depression umkippen, wenn sie diese Botschaft „mit Stolz“ in „die Wohngebiete und Einkaufszonen, zu den Straßen- und Kinderfesten, zum Seniorennachmittag, vor die Betriebstore und in die Vereine, auf dem Arbeitsplatz oder im Bekanntenkreis“ zitieren.

Die SPD scheint offenbar die einzige Partei zu sein, die ihre Wähler davon überzeugen will, dass sie sich irren.

Steinmeier: Gerd, weil ich Dich hier sitzen sehe, ich werde seit September immer wieder gefragt, ob die SPD nicht jetzt eine andere Politik macht als mit Schröder. Natürlich wollen die hören, dass wir abschwören, der Reform von Arbeitsmarkt und Wirtschaft, die wir durchgekämpft haben; ja, auch mit viel schmerzhaftem Streit in den eigenen Reihen.

Steinmeier tut gerade so als habe Gerhard Schröder nicht die letzte Wahl verloren, er tut gerade so als hätte seine Politik nicht dazu beigetragen, dass die SPD in den Ländern und Kommunen eine Wahl nach der anderen verloren hat und eine Woche vor diesem Parteitag auf einem historischen Tiefpunkt angekommen ist.

Die Union braucht kein Programm, sie hat die SPD

Steinmeier: Die Union, die hat bis heute kein Programm. Nicht einmal einen Entwurf. Und das zeigt, wofür die Union und ihre Vorsitzenden stehen. Ihr Motto lautet: Abwarten, Abgucken, Draufsetzen.

Steinmeier scheint nicht zu erkennen, dass die Union gar kein Programm mehr braucht, solange sie solche Sozialdemokraten hat, die für das, was die Politik in den letzten Jahren für die Mehrheit der Menschen gebracht hat, die Verantwortung übernimmt und darauf auch noch stolz ist.

Steinmeier hat nicht begriffen, dass „Abwarten, Abgucken, Draufsetzen“ das Erfolgsrezept der CDU-Vorsitzenden und Kanzlerin ist. Ja, die CDU konnte „abwarten“, bis Schröder die Hartz-Gesetze durchgezogen, die gesetzliche Rente ruiniert und das Vertrauen in das Vertrauen in die Arbeitslosenversicherung zerstört hat. Sie konnte die Agenda-Politik „abgucken“ und dann noch einen „draufsetzen“, ohne dass die negativen Folgen für die Menschen der Union angelastet wurden. Die CDU konnte sich nach Gelb und nach Grün offen halten, während die SPD das Kanonenfutter für die Konservativen zur Abwehr eines politischen Kurswechsels und einer Politik links von der Mitte abgab.

Die Mitte als Richtung

Angesichts von elf Jahren sozialdemokratischer Regierungs(mit)verantwortung, zuletzt unter einer CDU-Kanzlerin will Steinmeier den Delegierten und den Wählerinnen und Wählern die Bundestagswahl zur „Richtungswahl“ erklären.

Steinmeier: Bei Richtungswahlen geht es um Richtungsfragen und Richtungsthemen…
Ich habe den Opelanern in die Augen geschaut. Ich habe ihre Angst gesehen, ihre Hoffnung. Ich sage niemandem in Not: “Du bist nicht systemrelevant.” Keiner von uns würde das tun. Das ist der Unterschied zur Union!

Hatte sich aber nicht die Kanzlerin bei Opel dafür feiern lassen, dass sie ihren Insolvenzminister in die Schranken gewiesen hat?

Steinmeier: Das ist der Unterschied zwischen mir und diesen Leuten: dass ich mich noch empöre! Mir macht das was aus! Ich nehme die Sorgen der Menschen ernst. Und ich weiß genau, worum es geht.

Ein empörter Steinmeier, ein Kanzlerkandidat, der Empathie zeigt, das hätte man sich schon lange gewünscht, statt diplomatischer oder bürokratischer Worthülsen und emotionsloser Betroffenheitsrhetorik. Doch auch auf diesem Feld dürfte er der zur „Mutter der Nation“ hochstilisierten Merkel kaum das Wasser reichen können.

Steinmeier: Zweite Richtungsfrage: Es geht um nachhaltige Industriepolitik, die gestaltet, statt ordnungspolitische Lehrbuchweisheiten. Volkswirtschaften wie die deutsche können nicht überleben, wenn wir uns nur gegenseitig die Haare schneiden. Wir brauchen Dienstleistungen. Wir brauchen sogar mehr Dienstleistungen. Ja. Aber in Großbritannien kann man gerade sehen, wohin das führt, wenn man allein auf Dienstleistungen und den Finanzsektor setzt.

Richtig erkannt, aber hätte es nicht zur Glaubwürdigkeit beigetragen, wenn er hinzugefügt hätte, dass man da aus Erfahrung klug geworden ist. Hat denn nicht bis vor einem Jahr der von Steinmeier in seiner Rede so hochgelobte Finanzminister Steinbrück verkündet: Was gut für den Finanzsektor ist, ist auch gut fürs Land. Und galt für ihn der Anteil des Finanzsektors am BIP in Großbritannien nicht bis vor kurzem noch als Zielgröße.

Steinmeier nennt noch drei weitere Richtungsfragen:

  • Es geht um soziale Gerechtigkeit oder marktradikale Ideologie.
  • Es geht um die Entscheidung, ob Deutschland eine sichere, erneuerbare Energiezukunft haben soll oder ob die Energiewende rückgängig gemacht wird.
  • Es geht um Teilhabe und Chancen für viele statt Privilegien für wenige.

Das wären durchaus Richtungsentscheidungen in unserem Land, doch um die von Steinmeier erkannte „Richtung der Mehrheit in unserem Land“ einzuschlagen bedürfte es eines Richtungswechsels der SPD selbst. Doch für Steinmeier ist und bleibt die politische Himmelsrichtung seiner Partei die „neue Mitte“ und eben nicht die linke Volkspartei, wie das noch im Hamburger Grundsatzprogramm entschieden wurde.

„Frank-Walter Steinmeier hat gestern an seinem Kurs keinen Zweifel gelassen, und dennoch ist es ihm gelungen, die verunsicherte Partei aufzurütteln… Steinmeier hat die SPD wieder stärker in der Mitte positioniert“, schreibt konservative „Die Welt“ geradezu erleichtert, denn sie weiß, dass die Mitte längst von der Union besetzt ist und für die SPD am Wahltag nicht mehr viel Platz in der Mitte übrig bleiben wird.

Siehe dazu auch das Interview mit Franz Müntefering im DLF

Die NachDenkSeiten sind für eine kritische Meinungsbildung wichtig, das sagen uns sehr, sehr viele - aber sie kosten auch Geld und deshalb bitten wir Sie, liebe Leser, um Ihre Unterstützung.
Herzlichen Dank!