Untenrum freimachen

Jens Berger
Ein Artikel von:
Florian Horn

Der Wirtschaftswissenschaftler Dani Rodrik hat neulich eine Studie vorgelegt, in der er den Zusammenhang zwischen fortgeschrittener Globalisierung, wachsender gesellschaftlicher Spaltung und dem Erstarken populistischer Parteien untersucht. Laut Rodrik ist die politische Linke dort erfolgreich, wo die soziale Dimension der Globalisierung sichtbar werde und die politische Linke entsprechend Klassenpolitik betreibt. Die politische Rechte hingegen sei dort erfolgreich, wo die kulturellen Auswirkungen der Globalisierung in den Vordergrund rücken und die politische Rechte Identitätspolitik betreibe. Für Ersteres nennt Rodrik Lateinamerika sowie Teile Südeuropas als Beispiele, für Letzteres insbesondere Europa. Unter welchen Vorzeichen die Globalisierungsdebatte in Europa derzeit geführt wird und was das für die politische Linke bedeutet, soll im Folgenden erörtert werden. Von Florian Horn[*].

Rodrik schreibt in seiner Studie:

„Die Globalisierung hat mehrere, zum Teil überlappende Keile in die Gesellschaft getrieben: Zwischen Kapital und Arbeit, gelernte und ungelernte Arbeiter, Arbeitgeber und Arbeitnehmer, global mobile Berufstätige und lokale Produzenten, zwischen Industrien und Regionen mit Wettbewerbsvorteilen und solchen ohne, zwischen Stadt und Land, Kosmopoliten und Kommunitaristen, Eliten und gewöhnliche Leute. Sie hat viele Länder verwüstet von Finanzkrisen und der darauf folgenden Austeritätspolitik zurückgelassen“

Zu dem Zitat ist anzumerken, dass natürlich nicht die ominöse Globalisierung politische Entscheidungen getroffen hat, sondern Politiker vieler Parteien, die Globalisierung als Argument für ihre angeblich alternativlosen Entscheidungen genannt haben.

Handels- und Investitionsabkommen sind ein zentraler Pfeiler fortgeschrittener Globalisierung. Durch sie werden Regeln für die globale Wirtschaft festgeschrieben. Regeln, die inzwischen weit über klassische Maßnahmen zur Handelsliberalisierung, wie zum Beispiel den Abbau von Zöllen, hinausgehen, und stattdessen den Abbau von Arbeitnehmerrechten, Umweltstandards und politischen Steuerungsmöglichkeiten auf regionaler sowie nationalstaatlicher Ebene ermöglichen. Deshalb sind Handelsabkommen ein zentrales Element in der Diskussion über die Auswirkungen von Globalisierung.

Für viele Diskussionen sorgte zuletzt das geplante TTIP-Abkommen zwischen den USA und der EU. Es stieß insbesondere in Teilen Europas auf breite Ablehnung und die linke kapitalismus- und globalisierungskritische Bewegung in Europa wurde im Widerstand gegen TTIP zunächst gestärkt.

2017 ist TTIP als Symbol des Widerstands gegen fortgeschrittene Globalisierung abhandengekommen. Dies zeigte sich zuletzt bei dem G20-Gipfel in Hamburg, wo ein gemeinsamer Adressat, an den sich der Protest richtete, kaum zu erkennen war. Globalisierungskritiker sind mit ihren konkreten Botschaften nicht durchgedrungen, obwohl das Thema Freihandel weit oben auf der Agenda des Gipfels stand.

Stattdessen „verspeist die extreme Rechte inzwischen unser Mittagessen“, wie es Walden Bello bei einer Konferenz der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Brüssel zu Freihandelsabkommen der EU mit Lateinamerika ausgedrückt hatte. Gemeint ist, dass die extreme Rechte in Europa versucht, sich die jahrelange Arbeit der linken globalisierungskritischen Bewegung zu eigen zu machen. Das erreicht sie, indem sie Globalisierungskritik mit identitätspolitischen Forderungen verbindet und zum Teil auch den klassenpolitischen Diskurs damit verknüpft. Diese Entwicklung wird wiederum von den Verfechtern der Freihandelsideologie wohlwollend aufgegriffen, die darin eine Chance sehen, die Kritik an neoliberaler Globalisierung zu diffamieren und zu schwächen.

Dabei machen sich die Spin-Doktoren des Freihandels eben jene Keile zunutze, welche ihre eigene Politik in den vergangenen Jahren in die Gesellschaften getrieben hat. Sie ziehen imaginäre Linien, entlang welcher sie eine Positionierung zum Freihandel erzwingen möchten. Diese Kommunikationsstrategie der Neoliberalen zeigt sich zum Beispiel in der Darstellung von wichtigen Abstimmungen der letzten Zeit, bei denen Globalisierung und Freihandel eine große Rolle spielten: Beim Brexit-Votum sowie bei den Präsidentschaftswahlen in den USA und in Frankreich.

Die EU ist vor allem eine Freihandelszone, die den freien Fluss von Kapital, Waren, Dienstleistungen und Personen garantieren soll. Beim EU-Referendum in Großbritannien ging es daher auch um Freihandel und Globalisierung. Die extreme Rechte stellte die angebliche Gefahr durch den Zustrom von EU-Migranten in das Zentrum ihrer „Leave“-Kampagne. Die politische Linke war hingegen verunsichert und schloss sich in weiten Teilen dem „Remain“-Lager an. Was letztlich ausschlaggebend für die Mehrheit zum Brexit war, darüber wird seitdem viel gestritten. Fest steht allerdings, dass sich das Votum entlang vieler der Keile entschied, welche von Rodrik eingangs genannt wurden. Interessant ist auch, dass sich die Leave-Kampagne mit Haut und Haaren dem Freihandel verschrieben hatte und das Stocken der EU-Verhandlungen beim Freihandel als einen Grund für einen Austritt aus der EU aufführte. Die extreme Rechte stand in Großbritannien also an der Seite der extremen EU-Freihandelsideologen. Dies wurde jedoch, zumindest international, kaum berichtet. Stattdessen werden Freihandelskritiker, die die von der EU nach innen und außen vorangetriebene Freihandelsagenda kritisieren, gerne als Anti- Europäer diffamiert.

Vor dem Hintergrund der Erfahrung mit dem nordamerikanischen NAFTA-Abkommen war im US-Wahlkampf mit dem Bekenntnis zu Freihandelsabkommen nicht zu punkten. Denn die verheerenden Auswirkungen des NAFTA-Abkommens auf Teile der US-amerikanischen Bevölkerung waren nicht schönzureden. Nicht zuletzt die Unglaubwürdigkeit von Hillary Clinton bei ihrer Ablehnung von TPP, dem transpazifischen Freihandelsabkommen, und das Versprechen von Donald Trump, NAFTA korrigieren zu wollen, trug zu Clintons Wahlniederlage bei.

Entsprechend seiner Ankündigung, die anhaltende Deindustrialisierung und damit verbundene Arbeitsplatzverluste in den USA zugunsten „wettbewerbsfähigerer“ Länder zu verhindern, ist es nun paradoxerweise Trump zu verdanken, dass TTIP derzeit gestoppt ist. Ebenso sind die USA aus dem transpazifischen Handelsabkommen TPP ausgestiegen. Und TiSA, das Freihandelsabkommen des Dienstleistungssektors, macht derweil ein Nickerchen. Diesen von Trump angedeuteten Kurswechsel der US-Regierung (wie es mit all diesen Abkommen weitergeht, bleibt derzeit unklar) nutzen die Freihandelsfanatiker der EU nun propagandistisch aus. Die EU-Eliten hoffen in jedem Fall, dass jegliche Kritik an ihrer Handelspolitik verstummt, um bei Freihandelsabkommen mit Japan (JEFTA), Kanada (CETA), Mexico und dem Mercosur- Raum mit großen Schritten zügig voranzukommen.

Dafür wird eine weitere imaginäre Linie gezogen, zwischen Trumps angeblichem „Protektionismus“ und dem „Freihandel“ der EU. Wenn Trump dagegen ist, müssen wir dafür sein. Ein Bauerntrick, auf den insbesondere naive Trump-Gegner hereinzufallen drohen. Dabei wird gerne unterschlagen, dass sich Trump für Freihandel ausspricht, und lediglich betont, dass er diesen unter angeblich „fairen“ Bedingungen austragen möchte. Vergessen wird auch, dass Angela Merkel und Sigmar Gabriel zuletzt auch gerne von fairem Handel gesprochen haben, wenn es darum ging, CETA zu verteidigen. „Fairer und freier Handel“, wie Trump es ja selbst sagt, sind aber Teil derselben trüben Brühe. Trumps Protektionismus ist eher als ein Strategiewechsel in der internationalen Politik insbesondere hinsichtlich China zu verstehen. Anstelle sich an die EU zu binden und mit TTIP gemeinsam gegen China vorzugehen, kündigt er Strafzölle gegen China an. Ähnlich geht auch die EU vor, wenn sie Strafzölle auf „unfaire Dumping-Handelspraktiken“ erheben will. Dennoch werden Freihandelskritiker in den Mainstream-Medien gerne als Partner im Geiste von Trump diffamiert.

Im französischen Präsidentschaftswahlkampf sprachen sich sowohl Jean-Luc Mélenchon von der französischen Linken als auch Marine Le Pen von der extremen Rechten gegen die EU-Freihandelsabkommen CETA und TTIP aus. Während Mélenchon sich an den Diskursen der globalisierungskritischen Linken orientierte und diese mit der Ablehnung der inneren und äußeren EU-Freihandelspolitik verband, griff Le Pen diese Kritik zum Teil auf, aber verband sie mit rassistischer Identitätspolitik. Ungeachtet der Tatsache, dass sich zahlreiche weltbekannte Ökonomen sehr kritisch gegenüber diesen Abkommen äußerten und zum Teil auch grundsätzliche Kritik an der Freihandelstheorie übten, wurde in der internationalen Berichterstattung die Kritik der Linken an Globalisierung mit jener der extremen Rechten oft vermischt oder gar gleichgesetzt. Und im Geiste der Extremismustheorie wurde das gemeinsame Übel des sogenannten Linkspopulismus und Rechtspopulismus heraufbeschworen. Eine Linie zwischen „populistischen“ Parteien und „nicht-populistischen“ Parteien wurde dabei gezogen, wobei die Freunde von TTIP und CETA sich natürlich auf der angeblich nicht- populistischen Seite einordneten. Trotz dieser enormen Kampagne schnitt Mélenchon unerwartet gut ab und vermied auch nach der ersten Runde der Wahl ein schädliches Bekenntnis zu dem Kandidaten des fortgeschrittenen EU-Freihandels, Emmanuel Macron.

In dieser Gemengelage werden die Kräfte der Anti-Freihandelsbewegung zu einem großen Teil in Abgrenzungskämpfen gegenüber der Freihandels- und Globalisierungskritik der extremen Rechten gebunden. Über dieses Stöckchen sollten Linke aber nicht springen, denn die Keile der fortgeschrittenen Globalisierung werden die Spaltung der Gesellschaft weiter vorantreiben. Schließlich wird der Wohlstand, den der Freihandel verspricht, auch weiterhin nur bei einem kleinen Teil der Gesellschaft ankommen, während mittlere und niedrige Einkommensschichten auch weiterhin über kurz oder lang verlieren werden. Sehr fragwürdig ist auch die Idee mancher Linker, das herrschende Freihandels-Modell mitzutragen, sich aber zugleich für Kompensationen für Freihandelsverlierer auszusprechen. Marx hat bereits in seiner Brüsseler Rede von 1848 zum Freihandel davor gewarnt, sich darauf auszuruhen, dass die Arbeiterklasse durch Freihandel „zeitweilig glücklicher“ werden möge. Denn Freihandelsabkommen und die damit verbundene massenhafte globale Verschiebung von Arbeitsplätzen schwächten die Position der Arbeiterinnen und Arbeiter. Und eine Schwächung der Arbeiterklasse gehe nun mal nicht mit einer Stärkung ihrer Position im Klassenkampf einher. Soweit, so logisch. Marx schloss seine Brüsseler Rede mit einer gehörigen Portion Marx’schen Humor:

„Mit einem Wort, das System der Handelsfreiheit beschleunigt die soziale Revolution. Und nur in diesem revolutionären Sinne, meine Herren, stimme ich für den Freihandel.“

Eine überzeugende politische Strategie für die Linke zeigt der Satz natürlich nicht auf. Deshalb gilt: Die politische Linke sollte nicht darauf vertrauen, dass Marx Recht behält, sondern aktiv gegen Freihandel vorgehen. Ein klares „Nein“ zu Freihandelsverträgen ist derzeit auch das einzige verbindende Element, welches weite Teile der Zivilgesellschaften zum gemeinsamen Handeln zusammenbringt, wie der weite Protest gegen TTIP gezeigt hat. Die politische Linke sollte hier jene Stimmen unterstützen, die einen klaren Bruch mit dem „weiter so“ der inneren (Binnenmarkt) und äußeren EU-Freihandelspolitik fordern, anstatt sich in einen scheinbaren Widerspruch zwischen Freihandel und Protektionismus zu verheddern. Übrigens haben sich obere Einkommens- und Berufsgruppen, also jene, die am lautesten den Freihandel predigen, seit jeher ausreichend Schutzmechanismen geschaffen, um ihre Branchen vor den Auswirkungen des Freihandel zu schützen und so ihr Stück vom Kuchen nicht zu gefährden. Das hat Dean Baker vom amerikanischen Center for Economic and Policy Research (CEPR) ausführlich dargelegt. Dafür möchte sich die Kapitalseite den Protektionismus, zum Beispiel Investorenschutz genannt, direkt in Freihandelsabkommen einschreiben lassen. Egal, ob Trump oder die EU, es gilt derzeit also: Protektionismus für die da oben, untenrum freihandeln. Aber nur, solange wir nicht dagegen vorgehen.


[«*] Florian Horn ist Projektmanager im Büro Brüssel der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Im letzten November interviewten die NachDenkSeiten Horn zum Thema „Wer vom Freihandel nicht reden will, sollte auch von Fluchtursachen schweigen

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