Besinnung auf Wurzeln und Grundwerte wie in Großbritannien und Portugal. Oder: Alles ist neu und die Therapie ziemlich beliebig?

Albrecht Müller
Ein Artikel von:

Nach Corbyn und Labour haben jetzt die portugiesischen Sozialisten mit Antonio Costa nach zwei Jahren Regierung im Land bewiesen, dass man mit der Besinnung auf die Wurzeln und die Grundwerte einer linken Partei Wahlen gewinnen kann. Siehe dazu einen Bericht in Anlage 1. Hierzulande wird hingegen kräftig daran gearbeitet, die Besinnung auf die in der Sache berechtigte und obendrein erfolgreiche Programmatik und die alten Grundwerte zu vermeiden. Diese Tendenz begegnet einem zum Beispiel in einer seltsamen neuen Organisation mit dem Titel „SPD++“ und in Äußerungen des Top-Vertreters einer Werbeagentur, die in den letzten 20 Jahren häufig für die SPD gearbeitet hat. Albrecht Müller

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Mit klaren fortschrittlichen Positionen kann man Menschen und Wahlen gewinnen. Das haben die Linken in Großbritannien und in Portugal bewiesen.

Die portugiesischen Sozialisten haben sich zusammen mit ihrem Vorsitzenden und jetzigen Ministerpräsidenten António Costa gegen das Austeritätsdiktat Deutschlands, der EU und der EZB gewehrt und ihre Politik selbst formuliert und an ihren Grundwerten orientiert.

Labour hat mit Corbyn an der Spitze Hunderttausende von Menschen mobilisiert und bei den letzten Wahlen deutlich zugelegt – um 9,5 % auf 40 %. Wider Erwarten und entgegen der teilweise verhöhnenden Kommentierung deutscher und internationaler Medien. Wenn man sich die Rede des Labour-Vorsitzenden vom 28.9.2017, die wir hier „Unser Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ – Jeremy Corbyns mitreißende Parteitagsrede im Original und in Übersetzung wiedergegeben haben, anschaut, dann wird man durchgehend finden: Hier verbindet ein politisch führender Kopf der Linken das Bedürfnis, Politik im 21. Jahrhundert zu machen, mit dem Rückgriff auf die bewährte Programmatik und die alten Grundwerte. Corbyn hat folgendes gesagt:

„Unser Wahlprogramm ist das Programm einer modernen, progressiven sozialistischen Partei, die ihre Wurzeln und ihren Sinn wiederentdeckt hat und sich damit gegen den europaweiten Trend stemmt.“

Besinnung auf die Wurzeln. Und den Sinn der alten Programmatik und Werte wiederentdecken – das ist neben der Aufgeschlossenheit für die moderne Zeit wichtig. Und noch etwas, Corbyn sprach von zwei Stars seiner Kampagne, und kommt hier auf den einen Star zu sprechen:

„Und, liebe Genossinnen und Genossen, der andere Star dieser Kampagne, das wart IHR. Unsere Mitglieder, unsere Unterstützer in den Gewerkschaften, unsere Leute im Haustürwahlkampf und in den sozialen Medien.“

Dieser Vertreter einer linken Partei hat verstanden, dass angesichts des überall erkennbaren Versuchs, mithilfe der etablierten Medien jedes linke Pflänzchen sofort und nachhaltig kaputt zu treten, Wahlen nur zu gewinnen sind, wenn man eine Gegenöffentlichkeit aufbaut. Diese Erfahrung haben wir in Deutschland schon vor 45 Jahren gemacht. Nichts daran ist veraltet.

Die Rede Corbyns enthält nahezu alle Elemente der Programmatik und Kampagne, die jede fortschrittliche Bewegung auch bei uns nutzen müsste:

  • aktive Beschäftigungspolitik, öffentliche Investitionen
  • hohe Löhne, und damit also keinesfalls ein Bekenntnis zum sogenannten Niedriglohnsektor,
  • kostenlose Bildung,
  • eine dynamische Rolle für den öffentlichen Sektor und Abkehr von der Privatisierungsideologie,
  • Politik für die vielen, nicht für die wenigen,
  • friedliche Lösungen internationaler Konflikte, und
  • selbstverständlich: Attacke auf die Konservativen.

Fazit: Corbyn in Großbritannien und Costa in Portugal haben gezeigt, dass die Linke nicht verloren ist, wenn sie sich programmatisch auf ihre Wurzeln und Werte besinnt und sie sich im Wahlkampf auf die eigenen Sympathisanten und ihre Stimme als Multiplikatoren abstützt.

Und was wird uns hierzulande empfohlen? Zwei Beispiele:

Ein Experte für die politische Werbung Frank Stauss, einer von drei Miteigentümern der Agentur Butter und seit 20 Jahren mit Werbung für die SPD beschäftigt, hat sich einschlägig geäußert. Er schrieb in einer Bewertung des Wahlergebnisses und des Wahlkampfes (an dem er und seine Agentur diesmal ausnahmsweise nicht beteiligt waren) von einem „immer noch herumspukenden Irrglauben, man könne die SPD mit den Rezepten von gestern und vorgestern neu aufstellen“.

Er wiederholte den Gedanken in einem Gespräch, das in der Berliner Morgenpost erschien. Wörtlich heißt es dort:

„Tatsächlich ist es so, dass manche in der SPD, aber auch in ihrem Umfeld, noch der Meinung sind, dass die SPD mit den Rezepten von 1998, manchmal sogar von 1968, heutzutage Wahlen gewinnen kann. Das ist aber falsch. Wir können uns nicht mehr nach dem traditionellen Wahlverhalten orientieren nach dem Motto „Die Arbeiter wählen dieses, die Jungen dieses, die Rentner wählen so, auf dem Land wählt man so und in der Stadt so“.

Der Mann macht Stimmung gegen den Rückgriff auf frühere Programmatik und Methoden, hat aber offensichtlich wenig Ahnung. Das von ihm skizzierte traditionelle Wahlverhalten gab es 1998 keinesfalls mehr und 1968 nicht in der unterstellten Art. Noch wichtiger: der 1968 angelaufene Wahlkampf für die Bundestagswahl 1969 enthält eine Reihe von Rezepten, die heute direkt wieder anwendbar wären. Offensichtlich plaudert Experte Stauss einfach so vor sich hin. Damals war der Wahlkampf geprägt einerseits vom Beginn der Friedenspolitik und von Leistungen für die Lohnabhängigen wie zum Beispiel der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall auch für Arbeiter und andererseits mit Leistungen für ein modernes Recht, einen modernen Strafvollzug, usw. Ein zentraler Slogan lautete: „Wir schaffen das moderne Deutschland.“

Zu den damals befolgten und heute genauso gültigen Rezepten gehörte der massive Konflikt mit dem politischen Gegner, der CDU/CSU. Damals war es der Vorschlag für eine Aufwertung der D-Mark. Da ich als Redenschreiber des zuständigen Ministers Karl Schiller an der Planung und Umsetzung dieses Konfliktes unmittelbar beteiligt war, weiß ich auch noch sehr genau, wie bewusst diese Auseinandersetzung geplant worden war.

Die Programmatik und der Konflikt zusammen haben damals schon, also schon 1969, sehr viele Menschen mobilisiert und zu Bekenntnissen ihrer Wahlentscheidung motiviert, die man bis dahin in Deutschland nicht kannte. Das von Frank Stauss verkannte und immer noch moderne Rezept – der Aufbau einer Gegenöffentlichkeit – wurde dann drei Jahre später perfektioniert. Nach Vorstellungen der modernen Wahlkämpfer ist das alles alter Kaffee.

Ähnlich wie der Vertreter der Agentur äußern sich die Initiatoren einer Neuerscheinung im Umfeld der SPD: SPD++

„Die SPD neu denken“ heißt die programmatische Unterzeile dieser neuen, erst im August 2017 gegründeten Organisation. Vermutlich haben die Initiatoren mit den beiden erfolgreichen linken Parteien Europas wenig am Hut. Darauf lässt ein programmatischer Text schließen, den Sie in Anlage 2 finden.

Der Text enthält ohne Zweifel auch einige richtige Feststellungen. Aber schon die erste Forderung nach „grundsätzlichen Änderungen“, die in vielen sozialdemokratischen Parteien Europas nötig sei, ist undurchsichtig. Die geäußerte Vermutung, politische Parteien seien unattraktiv, ist in Großbritannien und in Portugal widerlegt. Die Vorstellung, dass die Organisationsfrage für eine Partei wie die SPD eine entscheidende Rolle spiele, ist sonderbar. Entscheidend für den Niedergang war der Verlust an politischem Profil, der mit der Agenda 2010 und den Kriegseinsätzen verbunden war. Entscheidend für den Niedergang ist die Tatsache, dass die SPD ihre Werte verraten hat. Eine organisatorische Erneuerung bringt da nichts.

Die Initiative SPD++ wie auch die Einlassung des Werbefachmanns Stauss erinnern sehr an die Parole, die im Vorfeld der Agenda 2010 unter die Leute gebracht wurde, von Merkel und dem damaligen Bundeskanzler Schröder übrigens in gleicher Weise: „Alles ist neu“, so die damalige Behauptung. Die Globalisierung. Der demographische Wandel. Heute ist alles zusätzlich deshalb neu, weil es die Digitalisierung gibt.

Das ist ein abenteuerlicher Umgang mit gesellschaftlichen Veränderungen. Ich wollte Sie darauf aufmerksam machen, weil dieses „Alles ist neu“ schon einmal großes Unheil angerichtet hat. Bei allem Respekt für das Neue sollten wir den Blick für die richtige Programmatik und die notwendige Wertorientierung nicht aus dem Auge verlieren. Das ist eine Anmerkung, die nicht nur für die SPD, sondern für die gesamte Linke gilt. Die neu ausgebrochene Auseinandersetzung in der Linkspartei zeigt, dass es dort ähnlich zugeht.

Übrigens: Wir sollten beobachten, was aus dem neuen Netzwerk SPD++ wird. Es könnte die Neuauflage der sogenannten Netzwerker sein, im konkreten Fall unterstützt von solchen Kräften, die genau die Besinnung auf Programmatik und Werte wie in Großbritannien und Portugal verhindern wollen. – Lassen wir uns überraschen. Es könnte auch zu einem positiven Ergebnis führen.

Anlage 1:

Betreff: Wahlen in Portugal: Der portugiesische Sozialismus räumt in den Kommunalwahlen ab

Der NachDenkSeiten-Leser Jochen A. hat mit Hinweis darauf, dass er in deutschen Medien auf die Schnelle keinen Bericht gefunden habe, diesen Artikel von El Pais

ELECCIONES EN PORTUGAL
El socialismo portugués arrasa en las elecciones municipales

übersetzt. Danke vielmals:

Wahlen in Portugal
Der portugiesische Sozialismus räumt in den Kommunalwahlen ab

Die Partei von António Costa zieht auch Wählerstimmen der Mittepartei PSD an, die die Ablösung ihres Anführers Passos Coelho beschleunigen wird

Die Sozialistische Partei von Portugal hat die besten Ergebnisse ihrer Geschichte bei Kommunalwahlen erzielt, mit mehr als 38 Prozent der Stimmen, zwei Prozentpunkte mehr als 2013. Der Anstieg ist verbunden mit dem Abstieg des Koalitionspartners (Anm.: in der Regierung), der PCP, und der oppositionellen Sozialdemokratischen Partei (PSD) von Pedro Passos Coelho (Anm.: die PSD ist eine konservative Partei vergleichbar der CDU in Deutschland).

Nach Auszählung von 99 Prozent der Stimmen hat die PS 38 Prozent der Stimmen erhalten; der zweite Platz fällt, wie traditionell, an die PSD, mit 16 Prozent; die PC (Anm.: Kommunistische Partei, Koalitionspartner in der Regierung) folgt auf Platz drei mit 9,5 Prozent, 1,6 Punkte und zehn Bürgermeister weniger als vor vier Jahren, die sie an ihren sozialistischen Koalitionspartner, die Mehrheitspartei im Parlament, abgegeben haben; und mit großem Abstand folgen der Linksblock (3,3 Prozent) und CDS (2,5 Prozent). In einigen Gemeinden, wo sie eine Koalition bilden, haben PSD-CDS (Anm.: also die konservative Liste) weitere 9,5 Prozent der Stimmen erhalten.

“Die Sozialistische Partei von Portugal will in den 308 Kommunen des Landes gewinnen.” Dieser außerirdische Wunsch kam von António Costa, dem Premierminister des Landes, ausgesprochen Tage vor dem Urnengang. Er ging in der Kampagne von einer starken Position in den Gemeinden aus, mit 150 der 308 Bürgermeisterämtern des Landes; aber er hat noch eine Handvoll dazu erhalten. Seine zwei Jahre in der Regierung haben nicht nur sein Elektorat nicht untergraben, sondern dazu genutzt, seine Macht in den Kommunen zu vergrößern. “Das ist das beste Wahlergebnis der Geschichte der PS”, so Costa, überglücklich, gestern um Mitternacht.

Hier der spanische Originalartikel: 

ELECCIONES EN PORTUGAL
El socialismo portugués arrasa en las elecciones municipales

El partido de António Costa atrae también el voto del centrista PSD, que acelerará el relevo de su líder Passos Coelho

El Partido Socialista de Portugal ha conseguido los mejores resultados de su historia en unas elecciones municipales, con más del 38% de los votos, dos puntos más que en 2013. La subida va ligada al descenso de su socio de Gobierno, el PCP, y el de la oposición el Partido Social Demócrata (el PSD) de Pedro Passos Coelho. 
 
Con el 99% de los votos escrutados, el PS obtuvo 38% de los votos; en segundo lugar, como es tradicional, fue para el PSD, con el 16%; el PC en tercer lugar con el 9,5%, 1,6 puntos menos que hace cuatro años y diez alcaldías menos, que han pasado a poder de los socialistas, su socio de la mayoría parlamentaria; ya a mucha distancia siguen Bloco (3,3%) y CDS (2,5%). En coalición en algunos municipios, PSD-CDS han conseguido otro 9,5% de votos.
 
“El Partido Socialista de Portugal quiere ganar en los 308 municipios del país”. El deseo extraterrestre, era de António Costa, el primer ministro del país, pronunciado días antes de ir a votar. Partía en la campaña en una posición municipal fuerte, con 150 alcaldías de las 308 del país; pero ha obtenido un puñado más. Sus dos años en el Gobierno no solo no han minado a su electorado sino que han servido para aumentar su poder municipal. “Ha sido el mejor resultado de la historia del PS”, señaló Costa, exultante, en la medianoche pasada.

Quelle: El País

Anlage 2:

Einführungstext bei spdplusplus.de

SPD++

Die SPD steht, wie viele sozialdemokratische Parteien in Europa, vor großen Herausforderungen, die sie zwingen, Grundsätzliches zu verändern. Die Sozialdemokratie muss sich auseinandersetzen mit:

  • dem Vertrauensverlust etablierter politischer Parteien und Institutionen bis hin zu einer Verachtung demokratischer Prozesse;
  • der Digitalisierung aller Gesellschaftsbereiche, die politische Prozesse und demokratische Willensbildung außerhalb und innerhalb von Parteien verändert;
  • Fragen der Eigenorganisation, da politische Parteien trotz hohem bürgerschaftlichen Engagement als unattraktiv gelten;
  • einer Spaltung der kulturellen Milieus innerhalb des Wählerklientels der Sozialdemokratie.

Wir sind davon überzeugt, dass die Organisationsfrage für die SPD bei der Bewältigung dieser Herausforderungen eine entscheidende Bedeutung hat.