„Die Frage der Ungleichheit muss stets auf der Tagesordnung sein“

Ein Artikel von Marcus Klöckner
Per Molander

Woher kommt Ungleichheit? Und wie kann man sie in den Griff bekommen? Diesen Fragen geht der Mathematiker Per Molander in seinem aktuellen Buch „Die Anatomie der Ungleichheit“ nach. Im NachDenkSeiten-Interview erklärt Molander, der sich für die schwedische Regierung an wohlfahrts- und haushaltspolitischen Reformprojekten beteiligt hat, wie soziale Ungleichheit entsteht und zeigt auf, wie die unterschiedlichen politischen Ideologien mit ihr umgehen. 
Den Sozialdemokraten stellt Molander kein gutes Zeugnis aus. „Wir haben gesehen“, so der Experte für Verteilungsfragen, „wie sozialdemokratische Parteien die Politik des konservativen Lagers in manchen Gebieten akzeptiert oder sogar übernommen haben.“
 Das Interview führte Marcus Klöckner.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Herr Molander, soziale Ungleichheit besteht, weil Menschen nun mal unterschiedliche Fähigkeiten haben und verschiedene Arbeitsleistungen erbringen. Ist mit diesen Gedanken auf den Punkt gebracht, warum es soziale Ungleichheit gibt?
 
Nein, die Unterschiede in Einkommen und Vermögen sind zu groß, um in dieser Weise erklärt zu werden. Eine kleine Gruppe von den reichsten Menschen in der Welt besitzt ebenso viel als die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung, und so große Unterschiede in Produktivität sind überhaupt nicht denkbar. Letzten Endes hat ein Tag nur 24 Stunden für uns alle.
 
Wie entsteht denn dann soziale Ungleichheit?

Gesellschaftliche Prozesse als Verhandlungen oder Marktaustausch weisen einen selbstverstärkenden Effekt auf. Wenn zwei Parteien über einen Kuchen verhandeln sollen und beide Parteien gleich stark sind, dann bekommt jeder die Hälfte. Aber wenn der eine stärker ist, bekommt er mehr als die Hälfte, und wenn die Verhandlung sich wiederholt, wird dieser Effekt jedes Mal stärker.
 
Und dieses Prinzip gilt auch in einer Marktökonomie?

Ja, man kann sich hypothetisch eine Gesellschaft vorstellen, wo alle Menschen dieselben Fähigkeiten und dieselbe Arbeitswilligkeit haben. Sie schaffen einen Überschuss, den sie im Finanzmarkt investieren. Im ersten Jahr haben einige Glück und andere Pech, sodass einige ein bisschen reicher und andere ein bisschen ärmer als der Durchschnitt werden. Die Reichen können ein größeres Risiko im Finanzmarkt eingehen und werden dafür im zweiten Jahr mit einem höheren Gewinn belohnt. So geht es weiter; man kann zeigen, dass in dieser theoretischen Gesellschaft ein einziger Mensch langfristig das ganze Vermögen besitzen wird.
Kurzum: Es gibt ein egalitäres Gleichgewicht, aber es ist nicht stabil. Es gibt keinen Mechanismus, der die Gesellschaft zu diesem Gleichgewicht zurückführt. In wirklichen Gesellschaften gibt es natürlich Unterschiede zwischen den Menschen, aber wegen der Instabilität stehen Unterschiede bezüglich Einkommen und Vermögen nicht in angemessenem Verhältnis zu Unterschieden in Fähigkeiten oder Arbeitswilligkeit.
 
Sie gehen in Ihrem Buch auf drei große Ideologien im Zusammenhang mit Ungleichheit ein. Liberalismus, Konservatismus und Sozialismus. Was ist Ihnen denn im Liberalismus besonders aufgefallen?

Die Liberalen erkennen im Allgemeinen die Ungleichheit als ein legitimes politisches Problem an, aber sie haben ein allzu optimistisches Bild dieses Problems, weil sie glauben, dass alle Unterschiede in Einkommen oder Status, die wir in wirklichen Gesellschaften finden, Unterschiede in Fähigkeiten oder Arbeitswilligkeit widerspiegeln. Ich habe gezeigt, dass das nicht der Fall ist.

Was noch?

Weil die Liberalen eine falsche Vorstellung des Ursprungs der Unterschiede haben, unterschätzen sie auch den Bedarf politischer Eingriffe im sozialen Geschehen. Man muss die Voraussetzungen ausgleichen, um jedem Kind dieselben Lebenschancen zu ermöglichen, vor allem mithilfe des Ausbildungssystems, aber das ist nicht genug. Wegen des selbstverstärkenden Effekts und der Instabilität der gesellschaftlichen Verhältnisse muss man auch die Ergebnisse ausgleichen – mithilfe Einkommensteuer, Erbschaftssteuer und Transfersysteme. In Ermangelung solcher Maßnahmen werden die Voraussetzungen langfristig auch nicht gleich sein.

Wie sieht es mit dem Konservatismus aus?

Das konservative Lager möchte am liebsten die Frage von der politischen Tagesordnung entfernen.

Werfen wir einen Blick auf die Sozialdemokratie.

Die klassische Sozialdemokratie hat ein richtiges Bild des Problems und hat auch die Forderung nach gleichen Voraussetzungen am ehesten ernstgenommen, besonders mittels einer allgemeinen und kostenlosen Ausbildung, aber auch mithilfe einer Reihe von anderen Maßnahmen – Gesundheitswesen, Steuer- und Transfersystemen usw.

Wo liegen hier noch Probleme?

Die klassische Umverteilungspolitik der Sozialdemokratie ist in Zeiten internationalisierter Märkte in vielerlei Hinsicht schwieriger geworden, da die Konzertierung von Gesetzgebung und Gewerkschaften über die Grenzen kompliziert und das Kapital weitaus flexibler ist. Gewisse traditionelle Instrumente der Ausgleichspolitik sind also heute schwächer. Wenn man sich zu denselben politischen Idealen wie zuvor bekennt, sollte man in der sozialdemokratischen Bewegung mit den anderen Instrumenten, über die man noch verfügt – Bildungspolitik, Sozialversicherungen, Einkommensteuer – intensiver arbeiten. Das Gegenteil aber ist der Fall. Wir haben gesehen, wie sozialdemokratische Parteien die Politik des konservativen Lagers in manchen Gebieten akzeptiert oder sogar übernommen haben.

Was sind Ihre Schlussfolgerungen?

Die Risse und die Spalten des Volksheims müssen restauriert werden. Insbesondere das Bildungssystem muss gestärkt werden, um damit Gruppen, die einen schwachen sozioökonomischen Hintergrund haben, Perspektiven für die Zukunft zu ermöglichen. Nur auf der Basis einer deutlich formulierten Linksalternative mit einer solchen allgemeinen Ausrichtung ist es möglich, die politische Unterstützung von marginalisierten Gruppen wiederzugewinnen und den Populismus in die Schranken zu weisen.



Was konkret kann unternommen werden, um Ungleichheit entgegenzutreten?

Es gibt keine einfache Lösung und keine einzige Maßnahme. Man braucht einen Staat, und dazu einen reichhaltigen Werkzeugkasten, der Instrumente für die Ausgleichung sowohl von Möglichkeiten als auch von Ergebnissen enthält. In der ersten Kategorie ist Ausbildung das wichtigste Werkzeug, in der zweiten Gesundheitswesen, Sozialversicherungen, Steuer- und Transferleistungen.

Wie sieht es denn mit Deutschland aus? Was läuft hier falsch?

Mit der deutschen Ökonomie steht es gut, aber ein positives allgemeines Bild ist keine Garantie dafür, dass es allen Menschen gut geht. Die Frage der Ungleichheit muss stets auf der Tagesordnung sein, damit die Früchte des ökonomischen Wachstums in angemessenem Maße verteilt werden. Das ist für das Niveau des Vertrauens in der Gesellschaft entscheidend.

Leseempfehlung: Per Molander. Die Anatomie der Ungleichheit. Woher sie kommt und wie wir sie beherrschen können. Westend Verlag.

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