Im Sumpf des neoliberalen Diktats

Norman Paech
Ein Artikel von Norman Paech

Das neue, gerade erschienene Jahrbuch der Nachdenkseiten ist wieder einmal ein nützliches Nachschlagewerk für kritische Leserinnen und Leser, um die besten Analysen zum politischen Geschehen noch einmal gebündelt nachlesen zu können oder vielleicht Freunden zu schenken. In diesem Jahr hat der Jurist und Politikwissenschaftler Norman Paech ein kluges Vorwort verfasst, das wir hier in gekürzter Form bringen.

Trump! Selbst beim Nachdenken über Deutschland kommt einem dieser Mann sofort in den Sinn und in die Quere. Ein Glücksfall für Karikaturisten, Kabarettisten, Comic-Schreiber und Spieltheoretiker, ein Albtraum für die Welt.

Er war unlängst in Hamburg zum Treffen der G20 und rief den Ausnahmezustand nicht nur bei den Medien und der rot-grünen Stadtverwaltung mit ihrem gesamten Sicherheitsapparat hervor. Er legte sich wie die Gullydeckel, die die Polizei vorsorglich versiegelt hatte, auf manche kritischen Geister in ihrer globalen Kritik, die ansonsten genau zwischen NATO und G20 zu unterscheiden wissen. Die Anwesenheit der einzig wirksamen Gegenspieler, Wladimir Putin und Xi Jinping, wurde nur dann wahrgenommen und erwähnt, wenn sie sich mit Trump trafen. Allerdings versäumten sie es auch, mit deutlichen Worten der Kritik auf sich aufmerksam zu machen, wie seinerzeit Putin auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2015. Das wäre nötig gewesen, um etwa bei dem Thema Afrika jene Probleme anzupacken, die dort brennen: Landraub, Rohstoffkriege, Börsenspekulation auf Grundnahrungsmittel, Entschuldung der ärmsten Länder dieser Welt. Dass nichts von alledem angesprochen wurde nimmt nicht wunder, schließlich war auch nur Südafrika vom ganzen Kontinent dabei. Der jahrzehntelange Raubbau an landwirtschaftlichen und mineralischen Rohstoffen, der unter den falschen Etiketten der Entwicklungshilfe und Wirtschaftspartnerschaftsabkommen (WPA) nichts zur Beseitigung der Armut und des Hungers wohl aber zur Versorgung der Industrien der imperialistischen Staaten beigetragen und zu zahllosen Kriegen geführt hat, wird weitergehen. Horst Köhler, der neue UN-Sonderbeauftrage für Westsahara, pflegte lange vor seiner Bundespräsidentschaft die Verträge der europäischen Staaten mit Afrika mit den Worten zu kommentieren: „Der Kolonialismus blüht noch.“ Er blüht immer noch, denn der sogenannte Pakt mit Afrika (Compact with Africa), der die neue G20-Partnerschaft mit Afrika begründen soll, verläuft in den alten Bahnen. Er orientiert sich vorwiegend an den Interessen der Industrieländer und deren Chancen für Großinvestitionen. Die von den G20 geplanten Freihandelsabkommen, die schon ihrer Struktur nach die starken Ökonomien gegenüber den schwachen bevorteilen, enthalten zusätzlich das Verbot der Diskriminierung internationaler Konzerne, denen der Zugang zu Rohstoffen und Märkten noch weiter geöffnet werden soll.

Zwei Tage im Juli, man hat sich getroffen, Beethovens „Ode an die Freude“ in Hamburgs neuem Stolz Elbphilharmonie gehört, ein nichtssagendes Schlusskommuniqué hinterlassen und den Spitzenhotels um die Alster einen kräftigen Gewinn beschert. Was Jean Ziegler als „illegitim und illegal“ beschimpfte, war nichts anderes als große Operette.

Während die Atommächte in Hamburg über Investitionschancen in Afrika berieten, schlossen gleichzeitig in New York 122 Staaten einen Vertrag über ein Verbot der Atomwaffen. Niemand regte sich über das Fernbleiben der Atommächte auf. Politik und Medien zeigten überwiegend Verständnis für diese Provokation und unterließen auch den Hinweis, dass es Obama und nicht Trump war, der die NATO-Staaten mehrfach nachdrücklich davor gewarnt hatte, an dieser Konferenz teilzunehmen und den Vertrag zu unterschreiben oder sich nur der Stimme zu enthalten. Alle Staaten gehorchten, außer der Niederlande. Es ist also nicht alles Trump, was diese Welt an den Abgrund treibt, aber dennoch genug, um sie endgültig in den Abgrund zu versenken. Trumps unverhüllte Drohung mit Atomwaffen gegen Nordkorea ließ selbst Mitglieder der „Grand Old Party“ erschauern. Man kann sich auch nicht mit dem zweifelhaften Satz, dass bellende Hunde nicht beißen, oder der Tatsache, dass praktisch alle Präsidenten der Nachkriegszeit direkt oder indirekt mit dem Einsatz von Atomwaffen gedroht haben, beruhigen. Ob Bush oder Obama, alle Administrationen haben das Angebot Pjöngjangs, auf ihr Atomprogramm zu verzichten, abgelehnt, weil sie nicht bereit waren, im Gegenzug einen Gewaltverzichtsvertrag mit Nordkorea abzuschließen oder einseitig auf Gewalt zu verzichten und die Großmanöver einzustellen. Sie haben ihre politischen Handlungsmöglichkeiten auf Sanktionen und Gewaltdrohungen reduziert, in dieser Zwangsjacke steckt jetzt auch Trump. Wer aber wie Trump innenpolitisch erfolglos und isoliert unter verstärktem Druck steht und plötzlich als Vergeltung für einen unbewiesenen Giftgaseinsatz entgegen allen Regeln des Völkerrechts einen Raketenangriff gegen den syrischen Luftstützpunkt Shayrat anordnet, sollte nicht über Atomwaffen verfügen. Niemand wird ihn dort einfangen können – schon gar nicht die deutsche Bundesregierung, die in ihrer Unterwürfigkeit nur noch von der Ukraine übertroffen wird, und dieses Kriegsverbrechen als „nachvollziehbar“ abhakte.

So unterhaltsam dieser Chaot auf Twitter sein mag, wo er seinen Rassismus und Chauvinismus offen ausleben darf und die USA wie seine 501. Firma als Familienunternehmen führt, Trump ist kriegsgefährlich. „Gefährlicher als der IS“, wie sein Landsmann Noam Chomsky meint, und die Republikanische Partei gleich mit einbezieht. Das Schlimmste komme noch – gleiches wird uns vom IS mit zunehmendem Verlust seines eroberten Territoriums vorausgesagt. Chomsky sieht Trump als logische Folge des neoliberalen Modells, dem das Land seit Jahrzehnten aufgesessen sei. Er hat eine interessante Erklärung für den unerklärlichen Wahlerfolg dieses Präsidenten: Verzweiflung. Er zitiert die Studie zweier Kollegen der Princeton Universität, Anne Case und Angus Deaton, die herausgefunden haben, dass es ein dramatisches Ansteigen der Sterblichkeit unter weißen Amerikanern mittleren Alters ohne Universitätsabschluss seit 1999 gebe. Dies sei eine bis dato unbekannte Erscheinung abgesehen von Krieg und Seuche. Sie führen das Ansteigen der Sterblichkeit auf Verzweiflung und den Statusverlust der arbeitenden Bevölkerung unter dem neoliberalen Wunder zurück, wo „der gleiche Sektor der Bevölkerung, der unter dieser erhöhten Sterblichkeit leidet, sich zur Rettung an ihren schlimmsten Klassenfeind wendet, aus verständlicher aber selbstzerstörerischer Verzweiflung“. Trumps Budget, das er im Mai 2017 vorstellte, hat tiefe Einschnitte in den Sozialprogrammen vorgenommen und wird sich als besonders schädlich für die Wähler und Wählerinnen der Arbeiterklasse erweisen. Das Gesundheitsversorgungsgesetz der Republikaner wird nach der Analyse der Haushaltsabteilung des Kongresses 23 Millionen Amerikanern ihre Versicherung für die nächsten zehn Jahre nehmen. Die Ernennung von Neil Gorsuch an den Obersten Gerichtshof wird der arbeitenden Bevölkerung weitere Schläge verpassen, da dieser Richter nach Chomskys Befürchtung mit seinen Entscheidungen wohl die Gewerkschaften im öffentlichen Sektor zerstören werde.

Wir können uns nicht damit trösten, dass dies ein internes Problem der Amerikaner sei, welches sie selbst zu lösen haben. Diese Strangulierung der arbeitenden Bevölkerung wird Schule machen und wie so manch andere „Errungenschaft“ aus den USA in der einen oder anderen Variante über den Atlantik kommen. Es wird keinen namhaften Widerstand der konservativen neoliberal gesonnenen Regierungen in England, Frankreich, Italien, Spanien und Deutschland geben. Denn diese Regierungen führen seit Jahren unter dem Dach der EU und der Fuchtel der deutschen Regierung einen gnadenlosen Finanzkrieg gegen Griechenland und die schwächeren Staaten in ihrer Europäischen „Gemeinschaft“, der große Teile der Bevölkerung in die Armut gestoßen hat. Und die Reformierung des Arbeitsrechts in Frankreich durch den jüngsten Hoffnungsträger in Europa, Emmanuel Macron, wird der Arbeiterklasse ebenfalls nicht gut bekommen.

Chomskys Erklärung sollte uns zu denken geben, wenn wir nach den Gründen für die Entstehung von Pegida und den Erfolg der AfD suchen, und uns in der falschen Sicherheit wähnen, dass Trump bei uns nicht möglich sei. Der französische Soziologe Didier Eribon geht in seinem Buch Rückkehr nach Reims dem rätselhaften Fahnenwechsel der kommunistischen Wählerschaft zum Rechtsextremismus des „Front National“ nach und sieht darin eine „soziale Gesetzmäßigkeit“. Die Verantwortung dafür sieht er bei den Linken und ihren Regierungen, die sich seit den achtziger Jahren von ihrer Kernwählerschaft entfernt und dem neoliberalen Mainstream angeschlossen haben. Ihre „notwendigen Reformen“ und ihr „neo-reaktionärer Diskurs“ antworten nicht mehr auf die sozialen und ökonomischen Forderungen derjenigen, die im Konkurrenzkampf des täglichen Lebens Arbeit und Status verloren haben, prekäre Arbeitsverhältnisse eingehen müssen, die sie nur kümmerlich ernähren, und die sich kollektiv im Stich gelassen fühlen, deklassiert in ihrem gesellschaftlichen Abstieg. Wer in den Begriffen „Arbeiterklasse“, „Ausbeutung“, „Unterdrückung“ und „Diskriminierung“ seine Realität noch zutreffend benannt sieht, kann in Parteien, die ihm mit der Forderung nach Mobilität und Eigenverantwortung sowie mit Reformen nach dem Muster der „Agenda 2010“ begegnen, keine politische Heimat mehr finden. Ihr Wechsel nach rechts ist daher eine Trotzreaktion, eine „Art politischer Notwehr“ (Eribon), obwohl sie dort keine Besserung ihrer Notlage erwarten können und in ein oft fremdenfeindliches und nationalistisches Milieu eintauchen. Wichtiger ist offensichtlich, wieder einen gesellschaftlichen Ort, eine politische Gemeinschaft zu finden, in der die eigenen Nöte und Sorgen gehört werden und der Protest gegen die kalte Deklassierung und Aussonderung lautstark und aggressiv artikuliert wird. Statistiken und Studien über steigende Armut und steigenden Reichtum gibt es genug, ohne dass die Politik irgendeine reale Chance aufzeigt, in diesem System die Kluft zu schließen. Die Enttäuschung und Verzweiflung über die offenbare Unabänderlichkeit dieser neoliberalen Gesetzlichkeit treibt die Gesellschaft auseinander und die politische Klasse immer weiter nach rechts.

Wenn 26 Jahre nach der Abwicklung der DDR und dem „Beutezug Ost“ der Treuhand die ehemaligen Bürgerinnen und Bürger der DDR ihr Schicksal nach der „Vereinigung“ in die Worte zusammenfassen: „… am Ende hatten wir keine Chance. Wir sollten vernichtet werden… Man hat uns damals nicht nur den Betrieb genommen, sondern auch unsere Würde“[1], müsste man blind sein, die Verbindung zu Pegida nicht zu sehen. Das Gefühl der Ohnmacht und Demütigung haben diese Zeit überlebt und das Vertrauen in die neuen Parteien und das demokratische System zutiefst beschädigt. Die Deindustrialisierung ganzer Landstriche oder die Übernahme der Reichsbahn durch die Bundesbahn und der anschließende Verkauf der Filetgrundstücke der Reichsbahn in Ostberlin, um mit dem Erlös die gähnend leere Pensionskasse der Bundesbahn aufzufüllen, während die Betriebsrenten der alten Eisenbahner „einfach weggewischt“ wurden, konnten durch keine Freiheit des Westens kompensiert werden. Die damaligen Demütigungen leben heute fort in Verbitterung, Feindlichkeit, Wut. Dies ist der Boden, aus dem Pegida und AfD wachsen.

Wenn es richtig ist, woran ich nicht zweifle, dass Trump ebenso wie weite Teile der abgehängten und verängstigten Arbeiter- und unteren Mittelklasse die Konsequenz des Neoliberalismus ist, dann darf die Schockerfahrung der Trump-Wahl uns nicht die Sicht auf die eigenen Verhältnisse verstellen. Dieser Neoliberalismus hat eine tiefe Abneigung gegen Politik und Demokratie. Er braucht die staatliche Macht nur zur Organisation des freien Marktes mit seinen autoritären Mitteln der Deregulierung, Privatisierung, Steuersenkung für die reiche Klientel und Militarisierung der Gesellschaft. Man erinnere sich nur an die heftigen Auseinandersetzungen um TTIP und CETA und die gegenwärtigen Rüstungspläne auch unabhängig von Trump. Die Empörung über das krude rassistische und nationalistische Auftreten seiner dominanten Figuren entlastet nicht von der dringlichen Aufgabe, diesen autoritären Neoliberalismus auf allen Ebenen und mit allen Initiativen zu bekämpfen. Das fällt schwer bei der Desorganisation und Parzellierung der Linken, denn sie hat kein gemeinsames Konzept zur Umwälzung der sozialen und politischen Verhältnisse. Die Überzeugung, dass der Kapitalismus in der Sackgasse steckt, ist stärker als die Vorstellung, wie wir ohne ihn daraus herauskommen können. Auch Syriza und Podemos, Bernie Sanders und Jeremy Corbyn geben außer ihren Sozialprogrammen, eindrucksvollen Persönlichkeiten und der Erfahrung von Niederlagen nicht viel mehr als das Hoffen auf bessere Zeiten her. Deshalb ist es umso notwendiger, an den Ideen der einst revolutionären Grundlagen der Gesellschaft von Demokratie, Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit und Gerechtigkeit, Frieden, Freiheit und Gleichheit festzuhalten, als sie noch nicht unter das gnadenlose Diktat der neoliberalen Ökonomie gefallen waren.

Des kritischen Jahrbuchs 2017/2018 "Nachdenken über Deutschland"

Albrecht Müller, Jens Berger: „Nachdenken über Deutschland. Das kritische Jahrbuch 2017/2018“, Westend Verlag, 224 Seiten, 4.10.2017


[«1] „Vom Ende der Sprachlosigkeit“, Faz.net, 5. August 2017