Schon 2003 und in Kenntnis der heraufziehenden Finanzkrise hat eine große CDU/CSU/SPD/FDP/Grüne-Koalition mit der Förderung des Finanzkasinos weitergemacht (Finanzkrise XXV)

Albrecht Müller
Ein Artikel von:

Die Bundeskanzlerin, der Bundesfinanzminister und andere wichtige Personen in Politik und Finanzwirtschaft erwecken immer wieder den Eindruck, sie seien 2008 von der Finanzkrise überrascht worden und Deutschland habe mit den Ursachen wenig zu tun, sie sei aus den USA über uns gekommen. Wir haben diese Behauptungen in den NachDenkSeiten (die Serie zur Finanzkrise siehe hier) und in den Jahrbüchern hier und hier vielfach und mit Fakten widerlegt. Jetzt sind wir von einem Nachdenkseiten-Leser auf drei weitere einschlägige Dokumente aus dem Jahr 2003 aufmerksam gemacht worden. Albrecht Müller

Ein kurzer Blick zurück: Am 16. Februar 2003 trafen sich in Berlin der damalige Bundeskanzler Schröder, sein Wirtschaftsminister Clement und Bundesfinanzminister Eichel mit den Spitzen der Banken und Versicherungen (wir hatten am 19.11.2008 darüber berichtet). Thema der Geheimsitzung waren die hohen Verluste und Risiken einiger Finanzinstitute und der Vorschlag, eine Auffanggesellschaft für unsichere, faule Kredite zu gründen. Heute nennt man das Bad Bank. „Die “Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung” hatte im Februar 2003 berichtet, dass in der Bad Bank zunächst die Kreditrisiken von Dresdner Bank, Commerzbank und Hypo-Vereinsbank in deren Mittelstandsgeschäft gebündelt werden sollen. Es kämen leicht 7 Mrd. zusammen“, berichtete das Handelsblatt am 24.2.2003. Schon damals sollte sich der Bund beteiligen.

Nachdem das Projekt durch die Veröffentlichungen in der FAS und wenigen anderen Medien ruchbar geworden war, wurde es offiziell nicht weitergeführt. Aber inoffiziell wurde ähnliches unternommen – so zum Beispiel mit der Gründung der Hypo Real Estate (HRE) durch die HypoVereinsbank und auch durch Ausgründung von Zweckgesellschaften der Industriekreditbank, einiger Landesbanken und anderer Banken.

Unbeeindruckt von den für die verantwortlichen Politiker sichtbar gewordenen Risiken, die aus hoch spekulativen und hoch riskanten Geschäften im Finanzsektor folgen, fuhren verantwortliche Politiker aller Parteien fort mit der Förderung von solchen Finanzgeschäften. Im Bundestag wurde am 8.5.2003 über zwei Anträge beraten, der eine von CDU/CSU mit dem Titel „Förderung des Finanzplatzes Deutschland“, der andere von SPD und Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Finanzplatz Deutschland weiter fördern“ (Hier sind die Links auf erstens den Antrag der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN [PDF] und der CDU/CSU [PDF] sowie zweitens auf das Protokoll des Deutschen Bundestags, Stenografischer Bericht 43. Sitzung, dort Seite 3569 bis 3580 [PDF])

Der Antrag und die Reden der genannten Parteien im deutschen Bundestag zeugen von bemerkenswerten Fehleinschätzungen und Denkweisen:

  1. Zunächst ist bemerkenswert, dass CDU, CSU, SPD, FDP und BündnisGrüne übereinstimmend im Finanzmarkt etwas besonderes sehen. Sie reden geradezu schwärmerisch vom „Finanzplatz“ Deutschland.

    Der Finanzmarkt habe eine hohe volkswirtschaftliche Bedeutung, meinte der CDU-Abgeordnete Dautzenberg. Warum seine Bedeutung höher eingeschätzt werden soll als die Bedeutung der anderen Wirtschaftszweige, bleibt schleierhaft. Aber es ist so. Die genannten Parteien sind damals offensichtlich in einen Wettbewerb darüber eingetreten, wer den „Finanzplatz Deutschland“ und zu diesem Zweck auch so genannte neue innovative Finanzprodukte noch mehr fördern könnte. CDU und CSU sind stolz darauf, mit ihrem Antrag mehr zu bieten. Offensichtlich haben sich damals alle etablierten Parteien an den großen Gewinnen, Boni und sonstigen Vergütungen orientiert und begeistert, die am Finanzplatz London und am Finanzplatz New York gemacht und eingestrichen worden sind. Alle haben auch offensichtlich diese Gewinne als volkswirtschaftlich bedeutsam betrachtet, obwohl der volkswirtschaftliche Gewinn höchst fragwürdig ist und damals auch schon war. Wenn ein Finanzmarkt nämlich nicht mehr im wesentlichen darauf ausgerichtet ist, den Finanzbedarf von Unternehmen zu decken, also Sparende und Investierende zusammenzubringen, wenn stattdessen der Betrieb von Wetten, von Spekulation und Kettenbriefsystemen gefördert wird, dann kann dies zwar den einzelnen Partnern auf diesem Markt riesige Gewinne einbringen, wie wir immer wieder lesen, volkswirtschaftlich betrachtet sind diese Tätigkeiten jedoch großenteils als Ressourcenvergeudung zu werten.
    Auf dem Höhepunkt der Spekulation sind am Finanzplatz Großbritannien ca. 10 % des Bruttoinlandsproduktes des Landes „erwirtschaftet“ worden, auf dem Finanzplatz USA 8 %. Tatsächlich dürfte in der Tat in dieser Größenordnung Volkseinkommen an die auf den Finanzmärkten Tätigen geflossen sein. Über ihre Einkommen wird der Wert ihrer Dienstleistung gemessen. Das sagt aber nichts über die echte volkswirtschaftliche Wertschöpfung. Wenn man beachtet, dass ein beachtlicher Teil der dort eingesetzten Ressourcen in einem gigantischen Casinobetrieb tätig waren und noch dazu oft auf quasi kriminelle Weise Einkommen abgeschöpft wurden, dann muss man an der volkswirtschaftlichen Vernunft der Tätigkeiten auf diesen Finanzplätzen zweifeln.

    Die Abgeordneten der genannten Parteien waren von keinerlei Zweifeln angefochten. Man spürt in den Reden wie auch in den Antragstexten, mit welch großer Bewunderung nach London und NewYork geblickt wurde. Und dies alles, obwohl knapp drei Monate vorher die eigene Regierung von der Finanzwirtschaft über die Existenz hoher fauler Kredite und die damit verbundenen Risiken unterrichtet worden war und um Unterstützung bei der Auslagerung auf eine Bad Bank gebeten worden war. Übrigens: wenn die Bundesregierung solche Anträge und eine solche Debatte laufen ließ, ohne die Abgeordneten auf die vorliegenden Risiken aufmerksam zu machen, ist das leichtfertig. Wenn die Abgeordneten um die Sitzung vom 16.2.2003 wussten, was nach den zitierten Veröffentlichungen angenommen werden kann, dann lassen ihre Anträge und ihre Redensarten darauf schließen, dass sie bewusst im gleichen Takt weitermachen wollten.

  2. Den antragstellenden und debattierenden Abgeordneten ist auch nicht andeutungsweise gegenwärtig, dass der Finanzsektor schon damals weit überdehnt war und wir ein handfestes Konversionsproblem haben.

    Im ersten Beitrag zur Serie Finanzkrise vom 7. Januar 2009 habe ich dieses Problem zu erläutern versucht. Um das existierende Konversionsproblem müssten sich unsere Abgeordneten auch im Interesse der Beschäftigten bei Banken, Finanzdienstleistern und Versicherungen kümmern statt weiterzumachen wie bisher.

  3. Deregulierung und die Entwicklung neuer Finanzprodukte standen am 8. Mai 2003 auf der Tagesordnung des Deutschen Bundestags, obwohl die Risiken erkennbar waren.

    Trotz der erkennbaren Risiken wurden in den Anträgen und Reden die Förderung von Verbriefungen, die Zulassung von Hedgefonds und ausländischen Investmentfonds sowie die steuerliche und rechtliche Förderung der riskanten Geschäfte auf dem Finanzmarkt gefordert und versprochen. Die Rahmenbedingungen für die Emission von ABS, von Asset Backed Securities, sollten verbessert werden.

    Auch an dieser Debatte sieht man wieder, dass die Verantwortlichen von Rot, von Grün, von Schwarz und Gelb von der Finanzkrise nicht überfallen worden sind, sondern an der Entwicklung der so genannten modernen Finanzprodukte und Innovationen direkt beteiligt waren und „mitgestrickt“ haben.

    Im Lichte der Forderungen nach Deregulierung vom Mai 2003 erscheint auch die jetzt vor allem von der Bundeskanzlerin geforderte stärkere Regulierung ziemlich fragwürdig. Die politisch handelnden Personen sind in die Deregulierung verstrickt. Ist von ihnen dann glaubhaft die notwendige Neuregulierung zu erwarten?

  4. Es wird nicht nur vom Finanzplatz geschwärmt. Auch sonst gebrauchen die Abgeordneten den Jargon, den sich die Public Relations-Agenturen der Finanzwirtschaft ausgedacht haben:

    Da ist von „Aktienkultur“ die Rede. Selbst der Vertreter der Grünen schwärmt davon. Es wird als Erfolg und als Ziel hervorgehoben, dass die Menschen ihre Ersparnisse in Aktien und Fonds anlegen. So als wäre das gesamtgesellschaftlich oder gesamtwirtschaftlich von Bedeutung. Es wird schwärmerisch empfohlen, die Kapitalmärkte auch in ihrer riskanten Ausprägung für die Altersvorsorge zu nutzen.
    Wenn man die Anträge und das stenografische Protokoll studiert hat, gewinnt man den Eindruck, dass die Personen, die im deutschen Bundestag mit diesem Sujet beschäftigt waren, nicht im Auftrag von uns Bürgerinnen und Bürgern sondern in Verbindung mit der Finanzwirtschaft tätig sind.

  5. Es wird mit positivem Unterton behauptet, das Investmentgeschäft werde in den nächsten Jahren eine größere Rolle spielen.

    Was wir als Volkswirtschaft davon haben, wird nicht debattiert. Welche Risiken der Ausverkauf deutscher Unternehmen an Investoren mit sich bringt, die gar keine echten Investoren sind, weil sie sich häufig nur mit 20 % beteiligen, den betroffenen Unternehmen hohe Schulden aufbürden und sie gleichzeitig über Beratungsverträge und hohe Zinsen aussaugen, wird nicht einmal andeutungsweise erwähnt.

  6. In der Debatte wird von den Ratingagenturen geschwärmt.

    Es wird behauptet, „wir täten gut daran, schon jetzt zu prüfen, wie wir denen die Türen nach Deutschland öffnen und dafür sorgen können, dass sie ihre Arbeit hier unter bestimmten Bedingungen machen können. Das ist ein Markt, indem wir noch nicht gut vertreten sind. Das gehört aber zu einem Finanzplatz.“ So die SPD-Abgeordnete Nina Hauer (Seite 3572 des Bundestagsprotokolls [PDF]) So blauäugig waren und sind unsere Abgeordneten.

  7. Damals wurde weitergemacht, als gäbe es keine Probleme. Und heute wird offenbar von den gleichen Personen so weitergemacht. Der Vorgang von damals wirft ein grelles Licht auf den Untersuchungsausschuss zur HRE.

    Mit dem Obmann der Unionsfraktion, Leo Dautzenberg und der Obfrau der SPD, Nina Hauer sind im Ausschuss zur Untersuchung der Machenschaften um die HRE genau die gleichen Personen tätig und hauptverantwortlich wie sechs Jahre vorher in der Debatte vom 8. Mai 2003. Damit ist schon personell gewährleistet, dass es weitergeht wie bisher. Auf einen konkreten Beleg dafür haben wir am 9. Juli 2009 in den NachDenkSeiten aufmerksam gemacht, auf das Protokoll der Sitzung des Untersuchungsausschusses vom 4.6.2009 nämlich. Dazu war angemerkt:

    „Wir werden auf dieses Protokoll [PDF – 1.0 MB] insbesondere auf die Seiten 172-181, die Vernehmung von Herbert Ernst Groh, hingewiesen. Man gewinnt den Eindruck, dass die Abgeordneten kein sonderliches Interesse an Informationen über die Gründung der HRE durch die HypoVereinsbank im Jahr 2003 haben. Das fällt insbesondere bei den Abgeordneten der CDU/CSU und vor allem auch der SPD auf.“

    Wenn jetzt im Untersuchungsausschuss wirklich recherchiert worden wäre, was im Falle der HRE und der HypoVereinsbank schon im Jahre 2003 bekannt und erkennbar war, dann würde die Behauptung, die Finanzkrise sei aus den USA und quasi über uns gekommen, noch hohler erscheinen. Es ist schlicht nicht die Wahrheit, wie die Debatte vom 8. Mai 2003 und die dafür gestellten Anträge zeigen. Die hierzulande Verantwortlichen haben sich aktiv an der Entstehung und Verschärfung der Finanzkrise beteiligt. Von ihnen eine Heilung zu erwarten, ist zu viel verlangt.

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