„Die meisten Menschen haben auch früher nicht begriffen, was es heißt, unter der Bombe zu leben“

Ein Artikel von Marcus Klöckner
Matthias van der Minde

Viele Menschen erkennen die atomare Gefahr nicht – dabei ist sie real. Das sagt Matthias van der Minde im Interview mit den NachDenkSeiten. Van der Minde, der als Lehrer Englisch, Politik und Wirtschaft an den beruflichen Schulen Korbach und Bad Arolsen unterrichtet, setzt sich seit vielen Jahren mit der atomaren Bedrohung auseinander und verweist darauf, dass die Existenz von Atombomben auch die Wahrscheinlichkeit ihres Einsatzes beinhaltet. Ein Interview über Auf- und Abrüstung und die, wie van der Minde es nennt, „drei Haken des Atomzeitalters“. Das Interview führte Marcus Klöckner.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Herr van der Minde, es gab eine Zeit, da hat die Atombombe in der öffentlichen Wahrnehmung eine große Rolle gespielt. Heute scheint das ganz anders zu sein – obwohl die nukleare Gefahr alles andere als gebannt ist. Wie sehen Sie das?

Da stimme ich zu, die nukleare Gefahr ist ganz und gar nicht gebannt, im Gegenteil. Zahlenmäßig schrumpfen die atomaren Arsenale zwar, zumindest in den USA und Russland, doch gleichzeitig modernisieren diese und andere Atomwaffenstaaten ihre Raketen und Sprengköpfe.

Was die öffentliche Wahrnehmung betrifft, so klagen heute viele – ich auch – dass die Leute früher für Abrüstung auf die Straße gegangen sind, sich sogar auf die Straße gelegt haben vor amerikanischen Pershing-2-Transportern, wir heute aber Trumps und Kims Gebaren achselzuckend zur Kenntnis nehmen. Mehr und mehr aber glaube ich, dass die meisten Menschen auch früher nicht wirklich begriffen haben, was es heißt, unter der Bombe zu leben. Es mag etwas anders ausgesehen haben, 1958, als Adenauer Atomwaffen für Deutschland wollte, oder Anfang der 1980er, als sich auf deutschem Boden Pershing 2 und SS-22 gegenüberstanden. Doch in beiden Fällen verebbte der Protest schnell wieder, hatte insofern viel mit der konkreten Situation vor Ort zu tun, weniger mit der abstrahierten globalen und permanenten Bedrohung durch Atomwaffen. Abstrahiert dahingehend, dass wir die US-amerikanischen und russischen U-Boote und Raketensilos damals nicht sahen und heute nicht sehen, die Tag und Nacht unter Wasser und unterirdisch auf ihren Einsatzbefehl warten. Sie sind immer da, haben insofern keinen Nachrichtenwert, wir haben uns an sie gewöhnt. Schlimmer noch, uns allen wurde in Elternhaus, Schule und Gesellschaft beigebracht oder durch Nichtansprechen unbewusst vermittelt, dass eine Welt voller apokalyptischer Waffen irgendwie der Normalzustand sei, der dem wölfischen Wesen des Menschen nun mal am ehesten entspreche. Darum sehe ich keinen Bruch zwischen früher aktiver und heute passiver Zivilgesellschaft, sondern eher eine Kontinuität von kleiner, engagierter Friedensbewegung und großer, langfristig wenig handlungsbereiter Masse.

Sie schreiben in Ihrem Buch, dass die Bombe „die größte Bedrohung für die Fortexistenz der Menschheit“ darstelle. Wie meinen Sie das?

Jacqueline Cabasso von den Mayors for Peace, den Bürgermeistern für den Frieden, schreibt, eine Atomwaffe sei wie ein Holocaust. Explodierte sie über einer Stadt wie Mumbai, könne sie acht Millionen Menschen töten. Auf der Internetseite des US-Historikers Alex Wellerstein können wir den Vernichtungsradius heutiger Atombomben über Berlin, London oder New York legen und ansatzweise begreifen, dass nichts von solchen Städten übrigbliebe. Und als ob das nicht schon genug wäre: Eine Atombombe kommt womöglich nicht allein. Auch „nur“ ein sogenannter begrenzter Atomkrieg, etwa zwischen Indien und Pakistan, in dem einige Dutzend Atomwaffen auf dem Subkontinent explodierten, würde durch Staubaufwirbelungen das Weltklima massiv beeinflussen, sicherlich mit hochgradig negativen Konsequenzen für uns alle. Davor warnen amerikanische, aber auch deutsche Wissenschaftler seit Jahren. Bedenken Sie, was 1816 passierte, als der Tambora in Indonesien ausbrach: Ernteausfälle, Hungersnöte, auch in Europa. Und ein heutiger Atomkrieg würde mehr als nur ein bis zwei Jahre ohne Sommer nach sich ziehen.

Sie spielen auf einen andauernden nuklearen Winter an.

Ja, ein rapide abgekühltes Weltklima, Hungerkatastrophen von nicht gekannten Ausmaßen, Migrationsbewegungen, die wir uns nicht mehr vorstellen können, Folgekriege, Massensterben, alle zivilisatorischen Schranken würden fallen. Und was ist, wenn es nicht „nur“ um Indien und Pakistan ginge, sondern um NATO gegen Russland? Beide Seiten haben jeweils mehrere Tausend Atomsprengköpfe, von denen pro Seite über Tausend jederzeit einsatzbereit sind. Und sie alle sind um ein Vielfaches gewaltiger als die Hiroshimabombe.
Noch ein Wort zur Frage, inwiefern dies nun die größte Bedrohung sei, noch vor allen anderen: Wenn wir unsere heutige Art zu leben linear in die Zukunft ausdehnen und davon ausgehen, es gebe keine eruptiven Entwicklungen wie einen Atomkrieg, dann – so schreibt etwa der US-Politikwissenschaftler Ted Daley – sei die größte Menschheitsbedrohung sicherlich der selbstverschuldete Klimawandel. Ein Atomkrieg hingegen wäre allerdings diejenige Bedrohung, die, wenn sie eintritt, zu einer unmittelbaren, plötzlichen und unumkehrbaren Gefahr für die Fortexistenz der Menschheit werden würde.

Wir wissen, was Atombomben in Hiroshima und Nagasaki angerichtet haben. Aber das ist alles lange her. Kann es sein, dass den heutigen Generationen einfach ein grundlegendes Bewusstsein für die Gefahren der atomaren Bedrohung fehlt?

Ja. Ich selbst kann es mir ja kaum vorstellen, wie hoch das Risiko einer Atombombenexplosion oder eines Atomkrieges ist, geschweige denn, wie sich die Konsequenzen davon anfühlen würden. Wie jedoch bereits angedeutet, denke ich mittlerweile, dass es weniger eine Generationenfrage, sondern vielmehr eine grundsätzliche Menschheitsfrage ist, inwiefern wir uns dieser Gefahr überhaupt bewusst werden können. Der Science-Fiction-Autor Robert Heinlein äußerte einmal über die unmittelbare Zeit nach Hiroshima 1945, dass 99,9 Prozent der US-Amerikaner überhaupt keine Einstellung dazu gehabt hätten. Robert Jungk wertete Umfragen unter Amerikaners aus und kam zu ähnlichen Ergebnissen: Die Leute nähmen die Bombe hin, so wie sie die Gefahr von Erdbeben hinnähmen. Günther Anders spricht von menschlicher „Apokalypse-Blindheit“, wir seien ja kaum in der Lage, zehn Ermordete zu denken und zu beklagen. Wenn es um mehr gehe, streike die menschliche Seele. Oder wie der Hiroshima-Überlebende seiner französischen Geliebten im Film „Hiroshima Mon Amour“ (1959) entgegnet: „Du hast nichts gesehen in Hiroshima.“ Du kannst es nicht verstehen, auch wenn Du hier vor Ort bist und die Geschichte seiner Verwüstung studieren willst.
Heute stößt der Umstand hinzu, dass kaum noch jemand einen Atompilz mit eigenen Augen gesehen und seine Gewalt gespürt hat. Der letzte stieg 1980 in China auf. Immerhin können wir seit diesem Jahr ein paar US-Atompilze auf dem YouTube-Kanal des Lawrence Livermore National Laboratorys anschauen, was allerdings anstatt zur Aufklärung auch zur Mystifizierung der Bombe beitragen kann. Positiv fällt mir in den letzten Jahren jedoch auf, dass ich immer wieder auf einzelne Schüler treffe – es sind häufiger Jungs –, die sich für diese Thematik interessieren und auch relativ gut informiert sind. Allerdings (noch) nicht dahingehend, was wir gegen den atomaren Status Quo unternehmen können.

In Ihrem Buch sprechen Sie von mindestens „drei Haken“ des Atomaren Zeitalters. Was ist denn der erste Haken?

Für mich ist der erste Haken, dass wir die atomare Gefahr nicht erkennen. Bemerkenswert ist zwar, dass laut Forsa-Umfrage von 2016 über 90 Prozent der Deutschen für ein allgemeines Atomwaffenverbot sind, wie es der in diesem Jahr fertig verhandelte Atomwaffenverbotsvertrag ja auch vorsehen würde. Doch kommt dieses Ergebnis auch dadurch zustande, dass die Befragten bewusst mit diesem Thema konfrontiert worden und um eine Entscheidung gebeten worden sind. Wer sagt bei solchen Ja-Nein-Fragen schon, dass sie oder er für Atomwaffen sei? Wenn wir hingegen offen fragen, welche Gefahren und Risiken unser Leben bestimmen, dann rückt die Bombe wieder ganz weit nach hinten, zumindest ist das meine subjektive Erfahrung.

Der Zweite?

Der zweite Haken ist die Gefahr selbst. Die gewaltigen Arsenale der Amerikaner und Russen habe ich erwähnt. Hinzu kommen andere atomare Akteure wie China, Indien, Pakistan oder Nordkorea, denen ich zwar, das mag bemerkenswert klingen, grundsätzlich keine irrationale oder messianische Politik unterstelle, die sich aber in zahlreiche lokale, regionale und globale Konflikte verstrickt haben, die blitzschnell eskalieren, sich hochschaukeln und – so würde Robert Jungk es ausdrücken – zu Akten „kollektiver Gewissenlosigkeit“ führen können, mit Konsequenzen für uns alle. Auch Großbritannien, Frankreich und Israel sind nicht frei davon, Fehleinschätzungen abzugeben, Fehlentscheidungen zu treffen, in einen Strudel aus unüberschaubaren Fehlurteilen zu geraten – oder einfach Pech zu haben. 2009 stießen ein britisches und ein französisches U-Boot im Ärmelkanal zusammen, beide wahrscheinlich atomar bestückt. So etwas passiert. Was ich noch nicht erwähnt habe, ist die Gefahr, die von sogenannten nichtstaatlichen Akteuren ausgeht, von Terrorgruppen, die sich womöglich eines Tages eines Atomsprengkopfes oder zumindest einer sogenannten „schmutzigen“ Bombe bemächtigen könnten, die durch ihre Radioaktivität zwar keine Stadt verwüsten, wohl aber Tausende von Menschen schädigen und weltweit Chaos verursachen könnte. Doch, so zynisch es klingt, ich muss hier anfügen, dass eine solche terroristische Bombe, sollte sie keinen unbeabsichtigten Atomkrieg nach sich ziehen, verblassen würde gegenüber der weltzerstörerischen Wucht, die ein Atomkrieg zwischen zwei oder mehreren Atommächten verursachen würde.

Und der Dritte?

Der dritte Haken des atomaren Zeitalters ist, zumindest in meiner Einteilung, dass wir nicht wirklich wissen, was zu tun ist. Ich habe den Atomwaffenverbotsvertrag von 2017 erwähnt, für dessen Mit-Aushandlung das große Netzwerk ican ja den Friedensnobelpreis erhält. Offen ist jedoch, inwiefern die Bewegung es schafft, die global seit Nagasaki eingehaltene Norm des Nichteinsatzes von Atomwaffen zu transformieren in eine Norm der vollständigen atomaren Abstinenz: Es müsste also allgemein akzeptierter und praktizierter Standard werden, Atomwaffen nicht besitzen zu wollen. Ich bin da im Moment jedoch sehr skeptisch, denn alle Atomwaffen- und auch fast alle NATO-Staaten, auch Deutschland, haben angekündigt, den neuen Vertrag nicht unterschreiben, schon gar nicht ratifizieren zu wollen – sie haben ja noch nicht einmal an den Verhandlungen dazu teilgenommen. Ich erkenne keine auf gegenseitiges Verstehen abzielende Dialogversuche zwischen Atomwaffenstaaten und deren Unterstützern auf der einen und Friedens- und Abrüstungsbewegungen auf der anderen Seite. Tragisch verkörpert diesen Bruch etwa Justin Trudeau, der sich sonst progressiv gibt, wo immer es geht, der es aber noch nicht einmal schafft, ican zum Friedensnobelpreis zu gratulieren, und nur nichtssagende Worte zum atomaren Zustand der Welt findet. Allerdings gibt es auch auf Seiten der Friedensbewegung viele, die sich nicht in atomare Abschreckungstheorien hineindenken wollen und nicht erkennen, dass für NATO, Russland, China und andere das, was sie unter Sicherheit verstehen, und Atomwaffen untrennbar miteinander verbunden sind.

Lassen Sie uns noch weiter auf die Gefahren der Atombomben eingehen. Sie sprechen in Ihrem Buch immer wieder an, dass zwar die Gefahr eines Atomkrieges nicht unbedingt so groß sei, aber die Gefahr liege auch alles andere als bei null und damit sei sie zu hoch.

Wo genau liegen denn die Gefahren?

Die Wahrscheinlichkeit, dass wir Menschen einen Atomkrieg auslösen und durch ihn vernichtet werden, ist meines Erachtens in der Tat nicht hoch. Denn gegen einen solchen Krieg sprechen die bisherigen Praktiken der Atomwaffenstaaten, die ihren Waffen zwar eine elementare Abschreckungsleistung zumessen, in ihnen aber gleichzeitig keine einsetzbare Kriegswaffe sehen. Die gegenwärtigen Arsenalmodernisierungen vor allem der USA zur Verbesserung der Treffergenauigkeit laufen letzterer Einschätzung allerdings zuwider. Doch auch wenn die Wahrscheinlichkeit einer Katastrophe gering ist, heißt dies ja nicht, dass sie nicht auftreten kann. Jürgen Todenhöfer hat 2005 geschrieben, wir lebten gerade mal ein paar Jahrzehnte im atomaren Zeitalter – und seien dabei schon mehrfach an den Rand eines Atomkrieges geschlittert. In der Zukunft müssten ausnahmslos alle amerikanischen, russischen, chinesischen und weiteren Staatschefs so rational und besonnen sein, ihre Atomwaffen niemals einzusetzen. Wenn wir also über die nächsten hundert, zweihundert oder fünfhundert Jahre sprechen, so birgt auch eine geringe Katastrophenwahrscheinlichkeit auf einmal ein immenses Risiko für das Leben auf dem Planeten. Es muss nur einmal irgendetwas schiefgehen. Insofern sage ich: Das Risiko muss auf null reduziert werden, alles andere ist zu hoch.

Worüber sollte man sich im Hinblick auf die Gefahren noch im Klaren sein?

Ich habe mein Buch „Dialektik der Bombe“ genannt, weil ich durchaus meine zu erkennen, dass atomare Abschreckung funktionieren kann, wenn die entscheidenden Akteure daran glauben und rational handeln, also in gesellschaftlicher, politischer und territorialer Unversehrtheit weiterleben wollen. Allerdings stabilisiert die Bombe die internationalen Beziehungen nicht nur, sondern bedroht gleichzeitig und unumstößlich eben diese Stabilität, die sie selbst geschaffen hat. Denn wenn etwas schiefgeht in diesem labilen Weltgefüge, sei es durch Absicht oder Zufall, dann ist genau diese Bombe mit all ihren Konsequenzen am Ende die größte Bedrohung für uns alle. Der Stabilitätsfaktor Bombe birgt also, unter Berücksichtigung der erwähnten Wahrscheinlichkeit, den Kern seiner eigenen Aufhebung notwendigerweise zu jeder Zeit in sich selbst.

Was kann denn gegen die atomare Aufrüstung und für Abrüstung vonseiten der Politik, aber auch vonseiten der Zivilgesellschaft getan werden?

Da sind wir wieder bei Haken Drei – die Antwort hier ist schwierig, denn leicht verlieren wir uns in Ersatzhandlungen, die lediglich suggerieren, wir hätten etwas getan – um dann letztendlich dafür zu sorgen, dass wir eigentlich nichts tun, außer ein einzelnes gutes Gewissen aufflackern zu lassen in einer dunklen zynischen Welt drumherum. Bei Online-Unterschriftenkampagnen bequem vom Schreibtisch aus mitzumachen, kann etwas bewirken, nicht aber, wenn eigentlich bekannt ist, dass Adressaten wie Trump & Co. für so etwas völlig unempfänglich sind, sich bei solch geballter und wenig dialogischer Kritik sofort einkapseln. Ich will meine eigenen Tätigkeiten – Unterrichten, Schreiben – da gar nicht aus der eigenen Kritik herausnehmen. Statements wie diese hier oder mein Buch können direkt keinen einzigen atomaren Sprengkopf abschaffen, worum es mir doch eigentlich geht.
Was wir aber tun können, ist, den thematischen Horizont zu erweitern, und uns mit Akteuren und Bewegungen zusammenzuschließen, die an anderen Fronten für eine andere Welt kämpfen: mit der Umweltbewegung, der LGBT-Bewegung, mit den Gewerkschaften, den Kirchen, mit ungezählten zivilgesellschaftlichen Gruppen, aber genauso mit denjenigen Politikerinnen und Politikern, die diese Ziele mitverfolgen. Zahlreiche Intellektuelle haben in den letzten Jahren angemahnt, solche überwiegend linken Bewegungen müssten gemeinsam gegen materielle Ausbeutung und politische Unterdrückung kämpfen – und eben, so füge ich hinzu, gegen die Bevormundung, von irgendwelchen Machthabern atomar umgebracht werden zu können. Zu nennen seien hier Aufrufe von Alain Badiou, Didier Eribon, Chantal Mouffe oder Hans-Jürgen Urban, der von einer „Mosaik-Linken“ spricht, einem Zusammenschluss, dessen Einzelakteure ihre Eigenständigkeit nicht aufgeben müssen.
So sollten wir den Kampf gegen die Bombe zum einen als Teil eines großen und permanenten Auftrages sehen, gegen die Ungerechtigkeiten dieser Welt zu kämpfen; zum anderen sollten wir die Spezifika des Engagements gegen die Bombe aber auch gesondert weiterführen. Denn sich gegen die Bombe zu engagieren heißt, diejenigen verstehen zu lernen, die an ihr festhalten. Es heißt, sich auf Diktatoren und Unterdrücker einzulassen, mit denen wir eigentlich nichts zu tun haben wollen. Es heißt, Kompromisse zu schließen, die auf den ersten Blick das Ziel einer globalen Null an Atomwaffen verraten.

Könnten Sie etwas konkreter werden. Was wären denn solche Kompromisse?

Atomwaffen nicht mehr in unmittelbarer Einsatzbereitschaft zu stationieren. Solange US-Amerikaner, Russen und weitere einige Atomwaffen auf ihren U-Booten ließen, welche so gut wie nicht zu orten sind, solange wäre die gegenseitige Abschreckung in Kraft. Da spielte es keine Rolle mehr, in wie vielen Minuten der jeweils andere zurückschlagen könnte, denn er könnte es, auch wenn das eigene Mutterland schon vernichtet wäre. Doch durchaus eine Rolle für die globale Sicherheit spielte, diese Atomwaffen möglichst so unschädlich mitzuführen, dass Unfälle oder Missbrauch ausgeschlossen werden können. Weitere Kompromisse wären, vorerst auf bewährte Rüstungskontrollverträge zu setzen, was momentan zwischen den USA und Russland keinesfalls als gegeben gelten kann. Verträge, informelle Absprachen, Verhandlungen, gegenseitige Besuche und Inspektionen – all das schafft Vertrauen und etablierte partnerschaftliche Strukturen, ohne die keinerlei gemeinsame Abrüstung und gegenseitige Vertragsverifikation möglich wäre. Dies alles ist jedoch, ich sprach von Verrat, noch lange nicht in Reichweite desjenigen, was der Atomwaffenverbotsvertrag fordert, nämlich, dass sich die Atomwaffenstaaten eines Tages diesem Vertrag unterwerfen. Doch könnten solche Schritte, zusammen mit zahlenmäßiger Reduzierung der atomaren Arsenale, dafür sorgen, dass die Atomwaffenstaaten einmal eine Schwelle erreichten, an der sie feststellen könnten: Wir haben noch genug Atomwaffen, um uns gegenseitig von einem Angriff abzuschrecken. Doch können diese Waffen keinen atomaren Weltenbrand mehr auslösen. Und dann könnten die entsprechenden Akteure, die bis dahin notwendigerweise einiges an Vertrauen aufgebaut haben müssten, auch feststellen, dass sie ihre Abschreckungswirkung auch durch nicht-atomare Waffen erzeugen könnten.

Was kann noch getan werden?

Meine linke Bewegungsargumentation soll nicht den Blick ablenken von jeder und jedem Einzelnen von uns. Wer weiß, ob es nicht irgendwann wichtig ist, dass dieser oder jener Mensch weiß und spürt, dass diese atomare Welt eine zu ändernde und eine änderbare ist. Deshalb ist jeder Dialog über dieses Thema wichtig, jede Unterrichtsstunde dazu, jeder Film und jedes Buch, das den Intellekt anregt. Das soll überhaupt meine Empfehlung sein, mit Bildern und Geschichten anzufangen, das atomare Zeitalter zu begreifen. Es gibt zahlreiche Bücher und Filme, Serien, Videospiele und so weiter, die sich mehr oder weniger direkt damit auseinandersetzen, was es heißt, unter der Bombe zu leben oder von ihr vernichtet zu werden. Bei all meinen düsteren Informationen und Einschätzungen sollten wir nicht außer Acht lassen, dass es dank Bildern und Geschichten und dank anderer Menschen, mit denen wir zusammenarbeiten, auch Spaß machen sollte, etwas gegen die Bombe und damit etwas Gutes für diese Welt zu tun.

Leseempfehlung: Matthias van der Minde. Dialektik der Bombe. Chronologie und Kritik des atomaren Zeitalters. VSA Verlag.

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