Die Dämonisierung Russlands in Politik und Medien des Westens

Udo Brandes
Ein Artikel von Udo Brandes

„Eiszeit. Wie Russland dämonisiert wird und warum das so gefährlich ist“. Das ist der Titel des neuen Buches von Gabriele Krone-Schmalz. Die promovierte Historikerin war unter anderem Russland-Korrespondentin der ARD und Professorin für TV und Journalistik an der Hochschule Iserlohn. Sie ist eine der führenden Russland-Experten Deutschlands. Ihr neues Buch sollte Pflichtlektüre sein für alle Journalisten und politisch interessierten Menschen sein, meint Udo Brandes, der das Buch für die NachDenkSeiten gelesen hat. Denn es belegt grandios, wie wenig seriös und verlässlich die deutschen Medien über Russland und seine Außenpolitik berichten.

„Wer so tut, als bringe er die Menschen zum Nachdenken, den lieben sie. Wer sie wirklich zum Nachdenken bringt, den hassen sie.“ (Aldous Huxley)

Diese Rezension zu schreiben war schwierig. Denn das neue Buch von Gabriele Krone-Schmalz (im Folgenden GKS abgekürzt) ist so gut, dass man am liebsten das halbe Buch zitieren würde. GKS macht etwas, was für jeden Politiker, der sich mit internationalen Beziehungen befasst, selbstverständlich sein sollte, aber heute im Westen in Politik und Medien keineswegs mehr selbstverständlich ist: Sie wechselt die Perspektive und analysiert, wie sich eine internationale Lage aus der Sicht des anderen beteiligten Akteurs darstellt, in diesem Fall: aus der Sicht Russlands.

Anders ausgedrückt: GKS erzählt die Teile der Geschichte des Verhältnisses zwischen dem Westen und Russland, die in den westlichen Medien im Regelfall weggelassen werden. Und sie stellt die Fragen, die unsere Medien im Regelfall nicht stellen, sondern stattdessen nicht nur einseitig berichten, sondern regelrecht Propaganda gegen Russland betreiben. Ein Beispiel dafür war erst kürzlich auch in den „Hinweisen des Tages“ der NachDenkSeiten zu lesen und wurde dort zurecht von einem Leser wie folgt kritisiert:

„Die ARD bezeichnet einen Rüstungsetat von Russland von 46 Milliarden $ als vergleichsweise hoch. Laut BMVG (= Bundesministerium der Verteidigung; UB) beträgt der deutsche Etat für 2017 ca. 37 Milliarden € (42,8 Mill. $) und soll bis 2021 auf 42 Milliarden € (49,7 Mill. $) erhöht werden. Wenn man dann noch weiß, dass die russischen Verteidigungsausgaben laut SIPRI 2016 etwa 69 Milliarden $ betrugen und demnach deutlich zurückgefahren werden, dann kann man doch die Bewertung des russischen Rüstungsetats durch die ARD als „vergleichsweise hoch“ nur noch als Volksverdummung ansehen“ (Hinweise des Tages vom 15. Dezember 2017, Punkt 1b, Russischer Verteidigungsetat).

Eine wichtige Quelle von GKS sind Wikileaks-Dokumente aus dem sogenannten Cablegate. Diese Dokumente wurden seinerzeit heimlich von dem im Irak stationierten US-Soldaten Bradley Manning aus einem internen Kommunikationsnetz des US-Verteidigungsministerium heruntergeladen und Wikileaks zugespielt.

„Die Sammlung enthält Berichte und andere Dokumente aus amerikanischen Botschaften und Vertretungen auf der ganzen Welt bis zum Februar 2010 und bis zur Geheimhaltungsstufe ‚secret’. Als ‚top secret’ markierte Dokumente waren über dieses Netz nicht einsehbar. (….) Bis heute ist zwar die Veröffentlichung der Dokumente kritisiert worden, da sie zum Teil Klarnamen enthalten und beteiligte Personen in ernste Schwierigkeiten bringen können und auch gebracht haben, ihre Authentizität ist jedoch bislang nicht angezweifelt worden. Alle hier unter Verweis auf Wikileaks zitierten Dokumente kommen aus diesem Bestand“ (S. 32).

Ich vermute, GKS hat für ihr Buch hunderte, wenn nicht sogar tausende dieser Dokumente durchgearbeitet, was allein schon eine riesige Leistung ist. Diese aufwendige Recherchearbeit ermöglichte es ihr, die US-Außenpolitik authentisch aus der Innenperspektive darzustellen. Und dies bedeutet: Die Thesen und Sichtweisen von GKS auf den Konflikt des Westens mit Russland sind detailliert, faktenfundiert und präzise. Mit anderen Worten: GKS weiß – im Gegensatz zu vielen deutschen Mainstreammedien – genau, wovon sie spricht. Und sie argumentiert mit Daten, Fakten und Belegen, was man von den deutschen Mainstreammedien und vielen Politikern, die sich in Bezug auf Russland zu Wort melden, nur eher selten behaupten kann.

Probleme eines postimperialen Raums

GKS schildert sehr genau die Ereignisse seit dem Zusammenbruch der ehemaligen Sowjetunion. Dabei wird deutlich, dass die westliche Wahrnehmung Russlands extrem unterkomplex ist:

„In unseren Debatten wird derzeit gerne behauptet, Russland versuche seit geraumer Zeit, seinen Einflussbereich aggressiv auszudehnen. Dabei wird eine direkte Linie zwischen dem Georgienkrieg 2008 und dem Ukrainekonflikt 2014 gezogen“ (S. 40).

GKS belegt dies beispielhaft mit Zitaten aus einem Kommentar des Deutschlandfunks, einem Positionspapier der CDU/CSU- Bundestagsfraktion und aus dem aktuellen Buch des Grünen-Politiker Ralf Fücks. Und kommentiert diese wie folgt:

„Tatsächlich sieht die Sache jedoch anders aus. Wer sich auf die wirklichen Geschehnisse einlässt, wird ein Bild des russischen Vorgehens gewinnen, dass sich von dieser Darstellung erheblich unterscheidet. Südossetien und Abchasien, zu Sowjetzeiten eine autonome Region bzw. Republik innerhalb der Unionsrepublik Georgien, streben nach Unabhängigkeit, was von georgischer Seite bekämpft wird“ (S. 41).

Und dann legt sie detailliert dar, dass der Georgienkrieg bedingt war durch den aggressiven Nationalismus der georgischen Seite, der sich gegen Abchasien und Südossetien richtete. Dies wird sehr gut deutlich durch die Aussage eines georgischen Militärkommandeurs in Abchasien (Oberst Giorgi Karkaraschwili), den GKS zitiert. Dieser Offizier sagte 1992 im lokalen Fernsehsender von Sochumi:

„Wir sind bereit, 100 000 Georgier zu opfern, um 97.000 Abchasen auszulöschen“ (S. 48).

Solche und andere Beispiele zeigen, dass es schwerwiegende Folgen hatte, als die Jahrzehnte alte Sowjetunion plötzlich zusammenbrach und Bevölkerungen, die sich bis dato als „Sowjetbürger“ verstanden und über ethnische und nationale Grenzen hinweg vermischt hatten, plötzlich ihre Identität unter völlig anderen Rahmenbedingungen neu erfinden mussten. Daraus entstanden Konstellationen und Konflikte, die es zu Sowjetzeiten nicht gegeben hatte. Alle diese Aspekte werden aber von westlicher Seite in Schwarz/Weiß-Manier unter der Überschrift „aggressiver, russischer Expansionspolitik“ abgehandelt. GKS belegt demgegenüber nachvollziehbar, dass die russische Regierung sich bei diesen Konflikten durchaus rational, vernünftig und keineswegs aggressiv verhalten hat. Natürlich hat sie dabei auch im Eigeninteresse gehandelt. Aber gibt es auf der Welt eine Regierung, die dies nicht getan hätte? Medien und Politik sind aber offensichtlich mehrheitlich nicht dazu in der Lage oder willens, die Lage differenzierter wahrzunehmen und zu erkennen, dass es sich um Probleme eines „postimperialen Raums“ handelt. GKS resümiert:

„Der Fall Georgien zeigt exemplarisch, dass es sich bei Russlands Peripherie um einen postimperialen Raum handelt mit allen Problemen, die das mit sich bringt. In den westlichen Medien werden die Konflikte oftmals nach einem sehr einfachen Schema interpretiert, bei dem bemerkenswerterweise immer unerwähnt bleibt, dass Moskau die Auflösung der Sowjetunion auf friedlichem Wege zuließ. Gibt es einen vergleichbaren Fall in der Weltgeschichte?“ (S.65).

NATO-Osterweiterung

Ein ganz wichtiger Aspekt für die Erklärung der russischen Politik ist die NATO-Osterweiterung. In Bezug auf diese Frage ist mein Resümee nach der Lektüre von „Eiszeit“: Die russische Seite hat immer wieder kooperiert, mehrfach Angebote gemacht, etwas hingenommen oder nachgegeben, während die westliche Seite stur und rücksichtslos ihre aggressive Eindämmungspolitik verfolgte. Nach meinem Eindruck ist die westliche Seite entweder aus ideologischer Verbohrtheit nicht dazu in der Lage oder schlicht nicht willens zu erkennen, dass diese Ostweiterung aus russischer Sicht gar nicht anders als bedrohlich wahrgenommen werden kann.

Von westlicher Seite wird die Osterweiterung der NATO gerne mit den Ängsten der Balten und Polen begründet. GKS bemerkt dazu:

„Eine kluge Sicherheitspolitik müsste also die verständlichen Ängste der Balten und Polen mit den ebenso verständlichen Ängsten der Russen austarieren. Das ist aber nicht einmal im Ansatz auf irgendeiner Agenda zu finden. Stattdessen stellen sich der Westen und die NATO klar auf eine Seite. Hier zeigt sich zum wiederholten Male, wie fatal die Osterweiterung der NATO war. Denn sie hat aufgrund ihrer geostrategischen Folgen nicht nur die Beziehungen zwischen der NATO und Russland belastet. Sie hat durch die Aufnahme der osteuropäischen Länder auch deren Konflikte mit Russland ins Bündnis geholt. Und so wurde das Verhältnis zu Moskau nach und nach vergiftet“ (S. 237).

Wandel durch Annäherung

Im Kapitel „Wandel durch Annäherung“ geht GKS auf die Entspannungspolitik von Egon Bahr und Willy Brandt näher ein und zitiert aus Bahrs berühmten Vortrag an der Evangelischen Akademie in Tutzing. In dieser Rede brachte Bahr die Entspannungspolitik der Regierung Brandt auf die Formel „Wandel durch Annäherung“. Er bezog sich damals auf die „Strategie des Friedens“, die John F. Kennedy ein halbes Jahr vor seiner Ermordung in einer Rede skizziert hatte. Egon Bahr sagte damals:

„Die Änderung des Ost/West-Verhältnisses, die die USA versuchen wollen, dient der Überwindung des Status quo, indem der Status quo zunächst nicht verändert werden soll. Das klingt paradox, aber es eröffnet Aussichten, nachdem die bisherige Politik des Drucks und Gegendrucks nur zu einer Erstarrung des Status quo geführt hat“ (S. 242).

GKS schreibt dazu:

„Egon Bahr hatte etwas verstanden, an das zu erinnern von großer Bedeutung ist: nämlich dass Gesellschaften und Regime sich unter Druck von außen verhärten und abschließen. Veränderung und Öffnung erreicht man nicht durch Konfrontation, sondern durch Kooperation. Und noch etwas hatte Egon Bahr erkannt: Man muss in der Lage sein, die Angst des Gegners wahrzunehmen, und man darf sich nicht von seiner eigenen Angst nicht überwältigen lassen. Wir sind nicht so schwach, dass wir eine hysterische Politik der Angst verfolgen müssten. Wir sind stark genug für eine Politik der Vernunft. Wir müssen wieder lernen, wie Egon Bahr darauf zu vertrauen, dass die westlichen Werte sich im Laufe der Zeit von alleine durchsetzen“ (S. 243).

Dieses Zitat beschreibt einerseits richtig und treffend die Situation. Aber hier schimmert auch eine Haltung von GKS durch, die ich für kritikwürdig halte. Erstens gebraucht sie für Russland das Wort „Gegner“. Ich sehe in Russland jedenfalls keinen Gegner. Außerdem ist auch sie offenbar der Meinung, man müsse Russland verändern. Das wird auch an einer anderen Stelle im Buch deutlich, als sie die „Demokratisierungspolitik“ des Westens vollkommen zurecht kritisiert. Sie kam in diesem Zusammenhang aber nicht auf die Idee zu fragen, ob die westliche „Demokratisierungspolitik“ überhaupt eine ist, oder ob man nicht der westlichen Seite Imperialismus unterstellen muss. In gewisser Weise widerspricht sie damit auch ihrer ansonsten im Buch vertretenen Position, wie sie das folgende Zitat gut auf den Punkt bringt:

„Der Westen ist zu echten Kompromissen nicht mehr in der Lage, weil er die eigene Weltsicht für alternativlos hält. Das hat etwas von missionarischem Eifer, der schon immer das beste Rezept war, um große Katastrophen herbeizuführen“ (S. 233). (…..) Alle diejenigen, die auf eine Verwestlichung Russlands hoffen und deswegen dem Sturz Putins entgegenfiebern, sollten kritisch prüfen, ob die westliche Politik der letzten Jahre dieses Ziel befördert oder ihm geschadet hat. Und sie sollten sich fragen, warum sie eigentlich davon ausgehen, dass die Verhältnisse ohne Putin besser würden und nicht schlechter. Denn bei aller berechtigten Kritik ist er ein rational kalkulierender, letztlich berechenbarer Politiker. Wäre er weg, käme nicht ‚die Zivilgesellschaft’ an die Macht, sondern, falls nicht erneut Chaos ausbricht, eventuell sogar jemand, der nationalistischer agiert und wirklich unberechenbar ist. Eine Horrorvorstellung für die internationale Politik. Zur bisherigen Bilanz von ‚Regimechange’ würde ein solches Ergebnis jedoch passen“ (S. 254).

Das Schlusskapitel ihres Buches hat GKS treffend „Selber denken“ überschrieben. Darin bringt sie die mediale Situation in Deutschland prägnant auf den Punkt und beklagt, dass das Denken in Zusammenhängen in Deutschland ganz schnell als Verschwörungstheorie denunziert wird. Dem setzt sie ein Zitat des von ihr sehr geschätzten Journalisten Frank Nägele entgegen:

„Einst haben wir (Journalisten; GKS) gelernt, dass es wichtig sei, alles beim ersten Augenschein infrage zu stellen. Ein Grundsatz des gesunden Menschenverstandes lautete: Glaube nichts, aber halte alles für möglich. Dazu war es wichtig, Dinge in ihrer Tiefe zu verstehen, bevor man über sie urteilte. Aber das kostet viel Zeit. Und die hat offenbar niemand mehr“ (S. 259).

Ich möchte dem hinzufügen: Es scheint mir nicht nur ein Zeitproblem zu sein, sondern vor allem ein Problem des mangelnden Willens und der Ideologie.

Mein Resümee: Das neue Buch von Gabriele Krone-Schmalz ist ein Muss für jeden Journalisten und Politiker oder politisch Interessierten. Es bietet eine Fülle von Daten, Fakten und Belegen, die es ermöglichen, sich jenseits des einseitigen und propagandistischen Bildes, das westliche Medien und Politiker von Russland zeichnen, ein objektives Bild zu machen. Schade, dass kompetente und seriöse JournalistInnen wie GKS in der deutschen Medienlandschaft nur noch selten zu finden sind. Wir könnten mehr davon gebrauchen.

In der Rezension eines Buches muss immer eine Auswahl wichtiger Inhalte getroffen werden, da der Text ansonsten unendlich lang würde. So eine Auswahl ist zwangsläufig immer auch etwas subjektiv. Da ich dieses Buch für ausgesprochen wichtig halte und ihm eine große Verbreitung wünsche, habe ich als Service für den Leser ein ausführliches Inhaltsverzeichnis erstellt, das auch die Überschriften der Unterkapitel enthält, die im Buch selbst im Inhaltsverzeichnis nicht aufgeführt werden (vermutlich aus Platzgründen). So kann jeder Leser sich selbst ein detailliertes Bild vom Inhalt machen.

Ausführliches Inhaltsverzeichnis mit Überschriften der Unterkapitel

  • Vorwort
  • Russland Rückkehr
    • Verspieltes Vertrauen
    • Der Zusammenbruch unter Jelzin
    • Der neue Mann
    • Gemeinsamer Kampf gegen den Terror
    • Die Revolutions GmbH
    • Die NATO-Perspektive für Georgien und die Ukraine
    • Der Kampf um Südossetien und Abchasien
    • Wer hat 2008 den Georgienkrieg begonnen?
    • „Heute sind wir alle Georgier“
    • Das Erbe des Imperiums
    • Die schöne neue Weltordnung
  • Der Showdown
    • Jenseits von Schwarz und Weiß
    • Der freie Wille eines Volkes
    • Moskaus rote Linie
    • Das Ringen um die Ukraine
    • Putsch in Kiew
    • Eine Regierung aus NATO-Befürwortern
    • Werte und Interessen
    • Der Aufstand in Syrien
    • Syrien und der Westen
    • Öl ins Feuer
    • Was will „das“ syrische Volk?
  • Gut und Böse
    • „Njet“
    • Wer blockiert Minsk II?
    • Wenn nur Russland dopt, warum gewinnen dann die anderen?
    • Antirussismus
    • Die historische Verantwortung Deutschlands
    • Verdachtsberichterstattung
    • „Grizzly Steppe“
  • Wer bedroht wen?
    • Die weltweiten Militärausgaben im Vergleich
    • Truppenstärken und Militärstützpunkte
    • Aggressiv oder defensiv?
    • Die US-Raketenabwehr und das nukleare Gleichgewicht
    • „Wir hatten auf eine Partnerschaft gehofft, aber dazu kam es nicht“
    • Einigungsversuche
    • Ein Neuanfang unter Obama?
    • Das Atomabkommen mit dem Iran
    • Eine klassische Rüstungsspirale
  • Wandel durch Annäherung
    • Tanz am Abgrund
    • Die Aktualität des Harmel-Berichts
    • Wer hat Angst vor wem?
    • Für eine neue Entspannungspolitik
    • Die „Strategie des Friedens“
    • Westliche Illusionen
    • „Die Welt hat aufgehört, sich an Russland den Hintern abzuwischen“
  • Selber denken
  • Dank
  • Anmerkungen
  • Karten

Gabriele Krone-Schmalz: Eiszeit. Wie Russland dämonisiert wird und warum das so gefährlich ist, C.H. Beck-Verlag, München 2017, 16, 95 Euro