Brasilien – EU: Celso Amorim, der Mann, der Brasilien zum Global Player machte, ersucht Gewerkschaften und EU-Parlament um Solidarität mit Lula

Frederico Füllgraf
Ein Artikel von Frederico Füllgraf

In Begleitung der Vorsitzenden der Arbeiterpartei (PT), Gleisi Hoffmann, und ihres Kollegen im brasilianischen Oberhaus, Senator Humberto Costa, trifft Brasiliens ehemaliger Außenminister Celso Amorim am 26. Februar in Brüssel ein. Geplant sind politische Treffen mit Mitgliedern des Europäischen Parlaments und des Internationalen Gewerkschaftsbundes, von denen sich die brasilianische Abordnung eine unmissverständliche Anprangerung sowie Handlungs-Vorschläge gegen die jüngste Verurteilung von Altpräsident Luis Inácio Lula da Silva zu einer zwölfjährigen Haftstrafe erhofft. Ein Bericht von Frederico Füllgraf.

Nach der im vergangenen Januar mit einer 12-jährigen Haftstrafe erfolgten zweitinstanzlichen Verschärfung des im Juli 2017 von Richter Sérgio Moro gegen Lula da Silva verhängten Urteils hatten sowohl Teile der SPD als auch der Linkspartei in den vergangenen Wochen scharfe Kritik an der brasilianischen Justizentscheidung angemeldet.

In einem Beitrag der von der Friedrich-Ebert-Stiftung herausgegebenen Zeitschrift für Internationale Politik und Gesellschaft (Instrumentalisierung der Justiz für politische Zwecke) protestierte der SPD-Außenpolitiker Niels Annen an die Adresse der politisch motivierten brasilianischen Richter mit den Worten, „allerdings muss eine Verurteilung auf stichhaltigen Beweisen basieren und darf nicht von Sympathien oder Antipathien geleitet sein”. Im Urteil gegen den ehemaligen Präsidenten, so Annen, gäbe es „leider starke Indizien dafür, dass es nicht Ergebnis eines fairen, rechtsstaatlichen Prinzipien genügenden Prozesses ist”. Annens Vermutung deckte sich mit der Kritik weiter Teile der brasilianischen Öffentlichkeit an der Rolle der herrschenden Medien im Lande. Das Urteil, so der SPD-Politiker, sei offenbar „von einer über die großen brasilianischen Medien angefachten Welle der Diffamierung Lulas und der Arbeiterpartei” getragen gewesen.

Als Vorsitzende der Bundestags-Fraktion der Linken bezeichneten Sahra Wagenknecht und Dietmar Bartsch das Urteil (siehe auch Showdown in Porto Alegre – Die Hexenjagd der politischen Justiz auf Altpräsident Lula) als „juristischen und politischen Skandal, zu dem die geschäftsführende Bundesregierung umgehend und deutlich Stellung beziehen muss”. „Dieses politische Manöver muss verurteilt werden, damit sich die politischen Krisen in Brasilien und Lateinamerika nicht weiter verschärfen… DIE LINKE ist solidarisch mit der PT und Lula und wird im Rahmen der internationalen Solidarität alles ihr Mögliche dazu beitragen, um diese Justizfarce zu beenden. In diesem Sinne: Força Lula!“, ermutigten Wagenknecht und Bartsch den legendären PT-Führer (Juristischen Feldzug gegen Lula und die PT in Brasilien beenden).

Protest meldete auch die Fraktion European United Left – Nordic Green Left im Europaparlament in Brüssel an. Das Verfahren gegen Lula habe von Anfang an in einem feindlichen Umfeld stattgefunden und sei als politisches Manöver zu werten, das die Kandidatur des Ex-Präsidenten als Favorit für die Präsidentschaftswahlen im Oktober 2018 verhindern soll.

Einzelne brasilianische Medien hatten berichtet, die PT-Abordnung werde auch zu Gesprächen mit der Friedrich-Ebert-Stiftung der SPD zusammentreffen. Auf Anfrage teilte jedoch Renate Tenbusch, Leiterin des Brüsseler Büros der Stiftung, freundlich mit, „Ich kann Ihnen versichern, dass es keinen Termin am 23.02.2018 mit dem ehemaligen Außenminister Brasiliens, Celso Amorim hier im Büro der FES in Brüssel gibt und dass mir auch keine Informationen vorliegen, dass Herr Amorim nächste Woche hier in Brüssel erwartet wird”. Der Termin vom 23.02.2018 war allerdings eine Fehlinformation der Anfrage, wäre jedoch ein Termin für den 26. Februar geplant gewesen, wäre er wohl von Renate Tenbusch bestätigt worden.

Das ist der fruchtbare politische Boden, den die PT-Abordnung in Brüssel und eventuell in Berlin in ihrer Hoffnung auf Isolierung der politischen Justiz in Brasilien betritt.

Eventuelle Szenarien für Lulas nahe Zukunft

Um die juristischen und wahlpolitischen Chancen des Ex-Präsidenten stehen die Zeichen wie folgt. Im Anschluss an das Urteil von Porto Alegre stellte Lulas Verteidigung beim letztinstanzlichen Bundesgerichtshof (STF) Antrag auf ein sogenanntes Erfüllungsverbot und die Forderung nach Habeas Corpus; also der Rechtsklausel auf unverzügliche Haftprüfung. Der zuständige Richter Edson Fachin lehnte den Antrag ab, leitete die Entscheidung jedoch weiter an das Plenum des Gerichtshofs.

Obwohl die STF-Vorsitzende Cármen Lúcia sibyllinisch erklärte, dass der Gerichtshof sich mit der Umgehung geltenden Rechts im Fall Lula nicht „kleinmachen wird”, herrscht im hohen Gericht keineswegs juristische Einstimmigkeit über die Frage, ob in zweiter Instanz verhängte Haftstrafen unmittelbar vollstreckt werden müssen. Im Oktober 2016 hatte der STF mit knapper Mehrheit (6:5 Stimmen) entschieden, dass eine zweitinstanzliche Bestätigung eines Hafturteils selbst dann vollstreckt werden könne, bevor die Verteidigung sämtliche Rechtsmittel ausgeschöpft habe. Dieses Verständnis kann jedoch modifiziert werden. STF-Richter Gilmar Mendes signalisierte bereits, dass er jetzt gegen das Vollstreckungsurteil von 2016 stimmen werde. Sollte Lula dennoch verhaftet werden, kann die Verteidigung zunächst Berufung beim dazwischengeschalteten Obersten Gerichtshof (STJ) einlegen. Eine Urteils-Bestätigung des STF wäre damit von einer STJ-Entscheidung abhängig.

Sollten alle juristischen Stricke reißen und Lula wird verhaftet, kann der mit weitem Abstand vor seinen konservativen Herausforderern favorisierte Präsidentschafts-Anwärter dennoch beim Obersten Wahlgericht (TSE) Antrag auf Aufrechterhaltung seiner Kandidatur stellen. Ein solcher Antrag verfolgt jedoch selbst nach realistischer Einschätzung von Verbündeten Lulas das Ziel, mit dem Einlegen von Rechtsmitteln Zeit zu gewinnen und das Wähler-Potenzial für die Präsidentschafts-Kampagne „bis an die Grenze des Machbaren” zu erweitern.

Mit anderen Worten: Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit wird das TSE die Kandidatur des Präsidentschafts-Favoriten für rechtswidrig erklären. Die Ironie des Umstandes ist, dass das Gericht sich auf das Gesetz der sogenannten „sauberen Weste” (Lei da Ficha Limpa) berufen wird, das nach einer 1,6 Millionen Unterschriften zählenden Initiative 2010 vom Parlament verabschiedet und vom damaligen Präsidenten Luis Inácio Lula da Silva sanktioniert wurde. Als sogenanntes Ergänzungsgesetz nº 135 bestimmt es, dass Politiker, die in zweiter Instanz verurteilt wurden, sich nicht für Wahlen bewerben dürfen.

Mit der Anfechtung der Kandidatur durch das Oberste Wahlgericht kann Lulas Verteidigung als letztes Mittel beim STF Berufung einlegen. Doch rät das unerschöpfliche, titanisch anmutende Vorgehen von Lulas erstklassigen Verteidigern zu äußerst gedämpftem Optimismus, um es durch die Blume zu sagen. Längst herrscht im diffusen Bündnis der in Brasilien herrschenden reaktionären und korrupten Clique der Konsens, Lulas Kandidatur muss mit allen Mitteln verhindert werden. Und sei es zum Preis der Ausweitung der gerade über Rio de Janeiro verhängten Militär-Intervention zur angeblichen Verbrechensbekämpfung, mit der Annullierung und Aufschiebung der für den kommenden Oktober angesetzten Wahlen.

„Der Welt bester Außenminister”

Dieses Szenario des fortgesetzten institutionellen Putschs vor Augen ergriff Lulas ehemaliger Außenminister Celso Amorim im Dezember 2017 die Initiative zur internationalen Petition „Eine Wahl ohne Lula ist Betrug“), die mit rund 236.000 Unterschriften (Stand Mitte Februar 2018) – darunter der von Stars wie Filmemacher Oliver Stone, Costa Gavras und Lula-Freund Bono Vox von der Band U2 – weltweit gegen den Abbau des Rechts- und Sozialstaats in Brasilien klagt.

Der 76-jährige Professor der portugiesischen Sprache und Karriere-Diplomat Celso Amorim studierte an der London School of Economics und promovierte an der Diplomatischen Akademie Wien, bevor er in London seinen ersten Posten erhielt. Als scharfsinniger Beobachter der internationalen Beziehungen diente Amorim als brasilianischer Vertreter bei der Organisation der Amerikanischen Staaten (OAS), bei den Verhandlungen des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens (englisch: GATT) – die in den 1990-er Jahren in der Gründung der Welthandels-Organisation (englisch : WTO) der Vereinten Nationen gipfelten – sowie, von 1995 bis 1999, als brasilianischer Botschafter bei den Vereinten Nationen (UN).

Bei den UN spielte Amorim eine Schlüsselrolle in den Verhandlungen über das internationale Abkommen über Abrüstung und Nichtverbreitung von Atomwaffen; eine Initiative der australischen Regierung aus dem Jahr 1995, die 1996 einen Bericht mit Abrüstungs- und Nichtverbreitungs-Vorschlägen vorlegte. Ferner ist Amorims Amtszeit als UN-Vertreter die brasilianische Unterzeichnung des Atomwaffensperrvertrags im Jahr 1997 ebenso zu verdanken wie der Beitritt Brasiliens zur sogenannten “Neuen Agenda Koalition für nukleare Abrüstung (NAC)”, die 1998 von Südafrika, Ägypten, Irland, Mexiko, Neuseeland, Schweden und Slowenien ins Leben gerufen worden war.

Im humanitären Bereich vertrat Amorim von 1998 bis 1999 Brasilien im UN-Ausschuss für Kosovo-Jugoslawien (SCR) und als Vorsitzender des UN-Sicherheitsrat-Ausschusses für Abrüstung, humanitäre Hilfe und Kriegsgefangene im Irak-Krieg der USA. Von 2003 bis 2010 diente Amorim als Außenminister der Regierung Lula, in dessen zweiter Amtsperiode die brasilianische Außenpolitik eine weltweit beachtete Neuausrichtung mit entschlossener Distanzierung von den USA erhielt und den internationalen Kampf gegen Hunger, Armut und Unilateralismus zu seinen Hauptzielen erklärte.

Amorim gelang 2010 ein diplomatisches Kunststück im Zusammenwirken mit den türkischen und iranischen Präsidenten Recep Erdogan und Mahmud Ahmadinedschad, als der Iran sich mit einem Vertrag gegenüber der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO) dazu bereit erklärte, seine Uranbestände zur Anreicherung ins Ausland zu schicken, um damit den Vorwurf der militärischen Nutzung zu entkräften. Blamiert scheuten die US-Administration Barack Obamas und die israelische Regierung keine Mittel, um den innovativen Vertrag zu torpedieren.

Zu Amorims Verdiensten zählen ferner die Bildung von Koalitionen, wie der G-20, mit Ländern der südlichen Hemisphäre im Kampf gegen den Agrar-Protektionismus der EU und der USA, für die Demokratisierung der Welthandelsorganisation (WTO) sowie gegen die anachronistische Kontrolle des UN-Sicherheitsrats durch fünf Atommächte. Gleichwohl gehören die 2008 auf brasilianische Initiative erfolgte Gründung der Union südamerikanischer Nationen (spanisch: Unasur; portugiesisch: Unasul), und der 2009 erfüllte Beitritt Brasiliens zur wirtschaftspolitischen und strategischen Allianz der BRICS (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika) zu den Krönungen von Celso Amorims und Lulas Amtszeit.

Nachdem die de-facto-Regierung Michel Temer Brasiliens internationale Rolle bis an den Rand des Zwergendaseins entstellt, ist dem interessierten Leser, insbesondere Akademikern, unbedingt Amorims 2017 erschienenes Buch Acting Globally: Memoirs of Brazil’s Assertive Foreign Policy zu empfehlen, das mit drei Fallstudien – die iranische Nuklearfrage, Brasiliens Nahost-Friedensbemühungen mit der Anerkennung des Staates Palästina und die führende Rolle in der Doha-Runde der multilateralen Handelsverhandlungen – die selbstbewusste Außenpolitik vorstellt, die Brasilien vor knapp zehn Jahren zum international geachteten Global Player kürte.

„Es ist schwer, an einen anderen Außenminister zu denken, der eine derart bedeutsame Wandlung der internationalen Rolle seines Landes so effektiv inszeniert hat. Sollte ich heute gebeten werden, eine Stimme für den besten Außenminister der Welt abzugeben, würde ich wahrscheinlich für den Sohn der Stadt Santos, Celso Amorim, votieren”, schrieb der US-Amerikaner David Rotkopf – Politikwissenschaftler, Journalist und Gastprofessor an der Carnegie-Stiftung für Internationalen Frieden – in einem Hommage-Essay über Celso Amorim (The world’s best foreign minister – Foreign Policy, 07. Oktober 2009).

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