Die Vorgeschichte zu unserem “Verleger-Artikel” offenbart den desaströsen Zustand der SPD

Jens Berger
Ein Artikel von:

Am Montag berichteten wir über das unerklärliche Millionengeschenk an die Verleger, das SPD und Union im Koalitionsvertrag vereinbart haben. Konkret geht es um die “Lohnnebenkosten” der Zeitungszusteller. Hier werden den Verlegern zehn der ursprünglichen fünfzehn Prozentpunkte der Rentenbeiträge erlassen. Die Differenz – so erklären es die künftigen Koalitionäre – trägt der Steuerzahler. Da stellt sich natürlich die Frage, wie denn die Gegenleistung für dieses seltsame Millionengeschenk aussieht und der Verdacht, dass die Große Koalition sich eine gefällige Berichterstattung kauft, liegt förmlich auf der Hand. Vor allem für die SPD droht dieser Skandal nun zu einem echten Debakel zu werden, da es offenbar eine Vorgeschichte zu den Millionengeschenken gibt, die vor allem Martin Schulz in einem denkbar schlechten Licht dastehen lässt. Von Jens Berger.

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“So watschte Martin Schulz die Geschäftsführerin der Lübecker Nachrichten ab” titelte der Branchendienst Meedia am 1. September letzten Jahres. Schulz war auf Wahlkampftour und bekam es in der Redaktion der Lübecker Nachrichten mit einer ausgesprochen dreisten Managerin der Madsack-Gruppe zu tun. Dummerweise bekam Geschäftsführerin Stefanie Hauer offenbar nicht mit, dass die traute Sitzung mit dem SPD-Politiker von einer Online-Redakteurin live auf Facebook gestreamt wurde. Anders ist die offene “Lobbyismus-Attacke” (Meedia) kaum zu erklären. Nach einer skurrilen Vorrede fragte die Medienmanagerin den Kanzlerkandidaten direkt ins Gesicht (im Video bei 24:20): “Sehen Sie Möglichkeiten, das wir nicht auf Lohnseite, sondern auf Sozialabgabenseite entlastet werden“. Schulz blieb jedoch hart und gab den überzeugten Sozialdemokraten, der zwar “davon überzeugt ist, dass man den Verlagen helfen muss”, aber er sei “nicht der Lage und auch nicht gewillt” (sic!), “Versprechungen bei den Sozialabgaben zu machen“. “Die paritätischen Systeme könnten nicht außer Kraft gesetzt werden, wegen branchenspezifischer Probleme”. “Es tut mir leid”, so Schulz, der offenbar als Einziger im Raum an die laufende Kamera gedacht hat, “aber wenn man so denkt wie Sie, dann darf man halt nicht die SPD wählen“. Das saß, 1:0 für den Politiker, obgleich der unverschämte Lobbyangriff auch eine echte Steilvorlage war, die Frau Hauer übrigens später noch ihren Job kosten sollte.

Interessant ist vor diesem Hintergrund aber vor allem, dass die SPD exakt die Forderung, die Stefanie Hauer im September ungeschickt vorgetragen hatte, in den aktuellen Koalitionsvertrag einbrachte. Und dass diese Forderung nicht von der CDU, sondern von der SPD kam, ist durch den Stern-Journalisten Hans-Ulrich Jörges belegt. Martin Schulz hat also im September im Brustton der Überzeugung und unter Berufung auf die sozialdemokratischen Wurzeln der SPD genau die dreiste Lobbyforderung abgelehnt, die er und seine Parteifreunde nun in den Koalitionsvertrag eingebracht haben. Geht es auch noch unverschämter, liebe SPD? Vielleicht sollte man Schulz beim Wort nehmen. Wer so denkt, darf nicht die SPD wählen und wenn die Genossen ihren ehemaligen Parteichef beim Wort nehmen würden, dürften sie daher auch dem Koalitionsvertrag nicht zustimmen, enthält dieser doch exakt die Forderung, die Schulz im Wahlkampf als unsozialdemokratisch zurückwies. Das Projekt 5%-Hürde nimmt immer weiter an Fahrt auf.