„Das ist eine Reaktion auf das Versagen der traditionellen Medien“

Ein Artikel von Marcus Klöckner
Michael Meyen

Der Journalismus „sägt an dem Ast, auf dem er sitzt.“ Diese Auffassung vertritt Michael Meyen im Interview mit den NachDenkSeiten. Meyen, der an der Ludwig-Maximilians-Universität in München unterrichtet, kritisiert eine Entwicklung im Journalismus, die dazu führt, dass oftmals so genannte Qualitätsmedien, wie etwa die Tagesschau, nicht mehr von der Bild-Zeitung zu unterscheiden seien. Ein Interview von Marcus Klöckner.

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Herr Meyen, in Ihrem Buch schreiben Sie, dass es die Aufgabe von Journalisten ist, das zu leisten, was eine demokratische Gesellschaft erwartet, nämlich: „Öffentlichkeit herstellen, die Mächtigen kritisieren, die Mächtigen kontrollieren, uns alle informieren.“ Wie ist es um die Erfüllung bestellt?

Das ist eine große Frage, die vor 30 oder 40 Jahren allenfalls ein paar Akademiker beschäftigt hätte. Heute ist Medienkritik in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Mich hat interessiert, wie es dazu kommen konnte.

Und? Wie konnte es dazu kommen?

Die Journalisten liefern uns heute etwas ganz anderes als damals. Das System der Massenmedien wird inzwischen vom Imperativ der Aufmerksamkeit regiert. Dieser Imperativ hat Qualitätskriterien wie Neutralität, Objektivität oder Vielfalt zu Worthülsen gemacht und ist zu einem Strudel geworden, der die Glaubwürdigkeit mitgerissen hat.

Woran machen Sie das fest?

An Inhaltsanalysen. Ich habe mir angeschaut, was wir früher in der Presse oder in den Fernsehnachrichten gefunden haben und was heute. Wie sieht zum Beispiel ein SPD-Parteitag in den Medien aus, die Generaldebatte im Bundestag, ein verheerender Sturm? Was ist das für eine Realität, die mir die Journalisten präsentieren? Wenn man so will: frei nach Niklas Luhmann. Was wir über die Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch Massenmedien.

Wie sieht die Realität der Massenmedien heute aus?

Bunt, schrill, originell. Journalisten machen das, was die Reichweite maximiert. Sie vereinfachen, sie übertreiben, sie spitzen zu. Sie erzählen uns Geschichten, sie verdichten komplexe Themen auf Konflikte zwischen zwei oder drei Spitzenleuten, sie laufen Prominenten hinterher, sie schauen Politikern in die Seele und in die Augen und liefern eine Deutung, die niemand sonst hat. Exklusivität auf allen Ebenen.

Sie sprechen über die Bild-Zeitung.

Leider nein. Die größten Veränderungen habe ich in den sogenannten Qualitätsmedien gefunden: in der Süddeutschen Zeitung, in der Tagesschau. Der Bild-Stil ist heute überall. Der Journalismus hetzt von einem Aufreger zum nächsten. Er nimmt sich keine Zeit für die Themen, er bleibt nicht dran, er sucht lieber nach einem neuen Dreh, als aufwändig zu recherchieren. Das müsste er aber, um seine öffentliche Aufgabe erfüllen zu können. Damit sägt er an dem Ast, auf dem er sitzt.

Wir leben in einer Zeit, in der weitreichende politische Themen eine große Rolle spielen: Da war die Griechenland-Krise, da ist die Krise in der Ukraine, der Konflikt zwischen Nato und Russland, da sehen wir eine SPD, die in der Wählergunst immer weiter verliert, und Parteien, die versuchen, eine neue Regierungskoalition zu bilden, aber dabei große Probleme haben. Was fällt Ihnen auf, wenn Sie die Berichterstattung zu den schwerwiegenden politischen Themen verfolgen?

Ich weiß schon, worauf Sie hinauswollen. Auf Einseitigkeit, auf Weglassen, auf Parteinahme für den Westen oder für Eliten. Das ist das, was die Menschen im Land aufregt, völlig zurecht. Ich habe die Schraube noch ein Stück weitergedreht und nach der Metabotschaft gefragt, jenseits von konkreten Inhalten. Egal ob Russland, Syrien oder Griechenland: Die Grammatik der Medienkommunikation ist immer gleich. Das nervt, wenn man sich wirklich informieren will und nicht nur Ablenkung und Aufregung sucht oder noch einmal hören will, dass wir hier im Westen schon alles richtig machen und ohnehin in der besten aller Welten leben.

Wie kommt es zu dieser Berichterstattung?

Auch das ist eine große Frage. Zum Journalismus selbst kann man ja viel bei Uwe Krüger finden. Zur Herkunft der Journalisten, zu ihrer Nähe zu den Mächtigen, zu ihrer Abhängigkeit von offiziellen Quellen und von dem, was in der Politik überhaupt diskutiert wird. Auch Krügers Begriff „Verantwortungsverschwörung“ finde ich gut. Der Journalist weiß, was gut oder schlecht ist, und er glaubt, dass er Einfluss auf die Menschen hat. Also lässt er das weg, was in die falsche Richtung führen könnte. Da er gar nicht so viel anders sozialisiert wurde als die Herrschenden und die Welt deshalb ganz ähnlich sieht, bedient er damit die politischen Interessen, anstatt diese Interessen offenzulegen und zu kritisieren.

Das erklärt aber noch nicht die Veränderungen, die Sie beschrieben haben.

Nein. Punkt eins ist das Mediensystem selbst. Die Politik hat Anfang der 1980er Jahre kommerziellen Rundfunk zugelassen und so die Kontrolle über das aufgegeben, was wir sehen und hören. Internet und soziale Medien haben das nur eine Schleife weitergedreht. Wenn ich Spieler im System habe, die nur Aufmerksamkeit maximieren müssen und sonst nichts, dann hat das Folgen für alle anderen. Die Süddeutsche Zeitung könnte heute selbst dann nicht mehr das gleiche liefern wie damals, wenn sie das wollen würde. Die Leute würden einfach zu anderen Angeboten abwandern. Zu Angeboten, die sich nicht um Pressekodex oder Rundfunkstaatsvertrag scheren müssen.

Und Punkt zwei?

Die Journalisten stoßen heute immerzu und überall auf Hochglanzfassaden und auf mundgerechte Bissen, hergerichtet und vorbereitet von PR-Profis, die wissen, was positive Medienberichte wert sind. Heute geht nichts mehr ohne öffentliche Aufmerksamkeit und ohne öffentliche Legitimation. Egal ob Großprojekt, Karriere oder politische Idee: Sie brauchen die Medien. Sie müssen die Berichterstattung entweder unterbinden oder die Logik des Systems für ihre Interessen nutzen. Im Bereich PR ist enorm aufgerüstet worden, und das in einer Zeit, in der die Redaktionen eher kleiner werden.

Also sind die PR-Leute Schuld?

PR ist nur eine Facette. Viel stärker wird die Funktionalität des Mediensystems durch das bedroht, was ich Medialisierung nenne. Durch Akteure, die ihre Strategien an die Medienlogik anpassen und ganze soziale Funktionssysteme umbauen, die Politik, die Kunst, die Wissenschaft. Gut aussehen und gut rüberkommen und dafür zur Not auch das vernachlässigen, um was es im jeweiligen System eigentlich geht. Das beginnt bei Spitzenpersonal, das medientauglich sein muss, und bei spektakulären Projekten, Events, Ideen oder Bauten, mit denen man garantiert in die Medien kommt, und endet bei den einfachen Mitarbeitern, von denen PR-Bewusstsein verlangt wird. Auf keinen Fall etwas machen, was uns in der Öffentlichkeit schlecht dastehen lässt. Überhaupt etwas machen, mit dem wir in die Öffentlichkeit kommen. Das Prinzip Markus Söder.

„Medienlogik“, dieser Begriff taucht in Ihrem Buch an vielen Stellen auf. Was ist das für eine „Logik“, nach der Medien heutzutage handeln?

Medienlogik ist die Brille, durch die Journalisten uns auf die Welt schauen lassen: Welche Themen werden ausgewählt, wie wird das Material zusammengestellt, in welchem Stil wird es präsentiert, was wird betont und was eher nicht. Wie diese Logik konkret aussieht, hängt auch vom Umfeld ab. Von Gesetzen, von der Konkurrenzsituation, von Traditionen, von den Erwartungen des Publikums, also auch von uns. In Deutschland hat sich die Handlungslogik des Systems Massenmedien in den letzten 30 Jahren vom normativen zum kommerziellen Pol verschoben. Also weg von der öffentlichen Aufgabe, hin zur Gewinnorientierung.

Welche Folgen hat das für den gewünschten „kritischen Journalismus“?

Er ist schwieriger geworden. Wer nur auf Klicks und Publikumsmaximierung aus ist, der vernachlässigt Themen, die komplex sind, die Aufwand erfordern, die unbequem sind. Wer auf Prominente fixiert ist und auf Konflikte zwischen Spitzenpersonal, der blendet strukturelle Ursachen aus. Und wer von den PR-Stäben einen Superlativ nach dem anderen geliefert bekommt, macht sich vielleicht nicht mehr die Mühe, selbst nach Themen zu suchen.

Was hat es mit dieser Medienlogik noch auf sich?

Sie verändert auch das, worüber berichtet wird. Die Politik, den Fußball, Gerichtsverhandlungen, den Unterricht an den Schulen und selbst Vorlesungen an der Universität. Es kann nicht im Interesse der Gesellschaft sein, überall nur noch Showformate zu finden, selbst da, wo es um Entscheidungen von großer Tragweite geht. Der Teufel, den Horkheimer und Adorno in der „Dialektik der Aufklärung“ an die Wand gemalt haben: Dieser Teufel ist jetzt da. Die Frankfurter Schule hat gefragt, was die Kulturindustrie aus dem Menschen macht. Heute wissen wir, wie sie die Gesellschaft verändert.

Durch das Internet existieren sehr viele neue Medien und Plattformen, die ebenfalls Informationen aufbereiten, veröffentlichen, politische und gesellschaftliche Ereignisse kommentieren und analysieren – wie hier die NachDenkSeiten. Ist es nicht interessant, dass sich überhaupt so viele „alternative Medien“ entwickelt haben?

Das ist eine Reaktion auf das Versagen der traditionellen Medien, auf den Wandel, den ich beschrieben habe. Der Bedarf an Orientierung und an grundlegenden Debatten ist ja nicht kleiner geworden, nur weil der professionelle Journalismus sich auf das konzentriert, was Quote, Klicks und Auflage bringt. Angebote wie die NachDenkSeiten setzen sich ja in jeder Hinsicht vom Zirkus- und Jahrmarkt-Prinzip der traditionellen Medien ab. Das beginnt schon bei der Aufmachung.

Sie waren auch als Zuschauer auf der Medientagung (die NachDenkSeiten berichteten) in Kassel. Dort ist aufgefallen, dass Vertreter etablierter Medien nicht berichtet haben und, laut Aussagen des Veranstalters, sich auch nicht auf den Dialog mit den Medienkritikern, die auf der Veranstaltung zusammengekommen sind, einlassen wollten. Was hat es mit diesem Graben zwischen Medien und ihren Kritikern auf sich?

Das hat mich sehr nachdenklich gemacht. Offenbar ist da etwas kaputt gegangen in den letzten zwei, drei Jahren. Sobald jemand das Schlagwort Medien in die Debatte wirft, wird es sehr emotional, auf beiden Seiten. Die professionellen Journalisten sagen, dass sie so gut arbeiten, wie sie nur können, und beschimpfen ihr Publikum. Selbst schuld, wenn ihr dem glaubt, was euch irgendwelche Leute auf Facebook erzählen. Das Publikum wiederum weiß, dass es mehr gibt als die eine Erzählung, die man in den traditionellen Medien findet, und fordert das ein, was die Journalisten immer wieder versprechen, aber nicht bieten. Neutralität und Objektivität, Ausgewogenheit und Vielfalt.

Wie könnte dieser Graben überbrückt werden?

Durch eine gesellschaftliche Debatte und durch Einsicht, auf beiden Seiten. Wir sollten diskutieren, wozu wir Journalismus brauchen, wie guter Journalismus aussehen könnte und was wir uns das kosten lassen wollen.

Wie könnte denn ein Mediensystem aussehen, in dem kritischer Journalismus ganz oben steht? Was wäre dafür notwendig?

Die Debatte hat ja noch gar nicht richtig angefangen. Was wir aber heute schon wissen: Journalismus, der seine öffentliche Aufgabe erfüllt, ist nicht zum Nulltarif zu haben und offenkundig auch nicht, wenn wir ihn kommerziellen Unternehmen überlassen. Es muss also auch um Medienstrukturen gehen, um Eigentumsverhältnisse, um gesellschaftliche Aufsicht, die anders organisiert ist als das, was wir im Moment im öffentlich-rechtlichen Rundfunk haben. Und dann brauchen wir neue Kriterien für journalistische Qualität. Dass selbst der beste Journalist kein objektives Abbild irgendeiner Realität produzieren kann, ist heute ein Allgemeinplatz. Ich plädiere deshalb für das Kriterium Transparenz. Woher hat man das Material, wem wird es möglicherweise helfen, wie steht man selbst dazu?

Lesetipp: Michael Meyen: Breaking News: Die Welt im Ausnahmezustand. Wie uns die Medien regieren. Westend Verlag. 208 Seiten. Erscheinungsdatum: 1. März 2018.

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