Zum Parteitag der SPD

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In wenigen Tagen, vom 13. bis zum 15. November wird die SPD ihren ersten Bundesparteitag nach der Bundestagswahl in Dresden abhalten. Der designierte Parteivorsitzende Sigmar Gabriel kündigte eine kritische Debatte über die vergangenen elf Regierungsjahre der SPD und eine „Neuorientierung“ der Partei an. Dazu hat der Parteivorstand der SPD einen Leitantrag vorgelegt, der mit einigen „Verschärfungen“ verabschiedet worden ist (siehe PDF: “Anträge zum ordentlichen Bundesparteitag der SPD”). Dieser Parteitag soll und wird die künftige Ausrichtung der SPD und damit die politische Debatte in Deutschland wesentlich bestimmen, deshalb lohnt sich eine kritische Auseinandersetzung mit diesem Beschlussvorschlag. Wolfgang Lieb

Die SPD lügt sich weiter in die Tasche
„Wir blicken auf elf Jahre zurück, in denen wir in Deutschland erfolgreich Regierungsverantwortung wahrgenommen haben – keine leichte Zeit, sondern eine, die geprägt war von schweren und wichtigen Entscheidungen …
Nach den 16 Jahren Reformstau der Regierung Kohl haben wir viel bewegt, auf das wir stolz sein können. Bundeskanzler Gerhard Schröder, die Vizekanzler Franz Müntefering, Frank-Walter Steinmeier, unsere Ministerinnen und Minister sowie die sozialdemokratische Bundestagsfraktion haben viel für unser Land erreicht…“
, heißt es in den einleitenden Sätzen.

Es ist verständlich, dass eine Partei ihre elfjährige Regierungsverantwortung nicht einfach beiseite schieben kann und ihre verantwortlichen Politiker nicht in Bausch und Bogen kritisieren kann, aber wenn eine kritische Aufarbeitung mit der Lügengeschichte vom angeblichen „Reformstau“ beginnt, dann begibt man sich von Anfang an in ein falsches Fahrwasser.

Die Lügengeschichte vom „Reformstau“
Es ist schlicht falsch, dass seit dem Lambsdorff-Papier im Jahre 1982 und der geistig moralischen Wende durch die Regierung Kohl nicht eine „Reform“ nach der anderen erfolgte: Allein 8 Gesundheitsreformen gab es und auch die Steuern wurden am laufenden Band „reformiert“ , dazu müsste man sich nur einmal die Übersicht über die Steuerrechtsänderungen des Bundesministerium der Finanzen in den letzten Jahrzehnten anschauen (siehe PDF: “Steueränderungen seit 1964”). Schon zum Ende der Ära von Bundeskanzler Helmut Schmidt wurde das Land entsprechend der aus den USA und Großbritannien herüberschwappenden neoliberalen Lehren mit systemverändernden Reformen überzogen und ein Kurswechsel vom sozialen Wohlfahrtsstaat zur liberalen Marktgesellschaft vollzogen. Richtig ist allerdings, dass mit Schröders Agenda 2010 ein so radikaler Schritt zum Abbau der sozialen Sicherungssysteme getan wurde, wie ihn die konservativen Helmut Kohl oder Norbert Blüm nie gewagt hätten.

„Moderner, liberaler, weltoffener“?
„Deutschland ist moderner, liberaler und weltoffener geworden“, heißt es in der Erfolgsbilanz.
„Modernisierung“ und „Weltoffenheit“ das waren Lieblingsbegriffe von Gerhard Schröder. Mit dieser beschönigenden Umschreibung war aber nichts anderes als die Anpassung an die neoliberale Globalisierung gemeint, nämlich „die Ökonomisierung (fast) aller Gesellschaftsbereiche, deren Restrukturierung nach dem Marktmodell und die Generalisierung seiner betriebswirtschaftlichen Effizienzkriterien und Konkurrenzmechanismen.“ (Christoph Butterwegge). Für Schröder war die marktradikale Globalisierung geradezu der Hebel, um eine soziale Gestaltung des Marktgeschehens als überholt und traditionalistisch zu desavouieren.

In der Tat „liberaler“ ist das Land geworden, aber leider nicht im Sinne der Stärkung der liberalen Bürgerrechte gegen den Überwachungsstaat, sondern es ist nur „wirtschaftsliberaler“ geworden – sozialer jedenfalls nicht.

„Wir haben mehr Rechte für zuvor an den Rand gedrängte Gruppen erkämpft.“ Damit kann eigentlich nur gemeint sein, dass durch die Hartz-Reformen die vorher so genannten „Sozialhilfeempfänger“ und die Alg-II-Empfänger als Bedürftige gleichgestellt wurden. Dass mit der Parole vom „Fördern und Fordern“ gleichzeitig ein Gesinnungswandel eingeleitet wurde, mit dem Langzeitarbeitslose als Schmarotzer und Drückeberger abgestempelt wurden, wird geleugnet. Wo sind mehr Rechte für Billiglöhner, Ein-Euro-Jobber, Zeitarbeiter etc.? Sind inzwischen nicht nur einzelne Gruppen an den Rand gedrängt, ist nicht vielmehr eine ganze „Unterschicht“ entstanden?

„Wir haben die Arbeitslosigkeit erfolgreich reduziert, auch wenn wir sie nicht besiegt haben. Von 2005 an sank – auch bedingt durch die anziehende Konjunktur – die Arbeitslosigkeit.“ Interessant ist die nachträgliche Einfügung „auch bedingt durch die anziehende Konjunktur“. Durch diesen Einschub, wurde die Legende, dass die „Arbeitsmarktreformen“ zu mehr Beschäftigung beigetragen hätten, wenigstens ein Stück weit relativiert.

Von einer „offenen und ehrlichen“ Bilanz noch weit entfernt
In den Zeitungen konnte man lesen, die SPD-Führung habe den ursprünglichen Entwurf des Leitantrags deutlich verschärft. Die Verschärfung sieht dann z.B. so aus:

„Wir haben uns der Krise des Sozialstaates gestellt (…).(Neu hinzugefügt wurde:) Wir haben die sozialen Sicherungssysteme gegen den Druck nach zunehmender Privatisierung verteidigt und so dafür gesorgt, dass Rentnerinnen und Rentner in der Krise um ihre Alterseinkünfte nicht bangen müssen.
Wir haben die Arbeitnehmerrechte verteidigt und insbesondere die Möglichkeiten der betrieblichen Mitbestimmung gestärkt.
(…) Wir haben die Investitionen in Bildung und Forschung deutlich erhöht und damit nach Jahren der Stagnation eine Trendwende eingeleitet. Durch zwei BAföG-Reformen, den Hochschulpakt und die Hochschulprogramme sowie das Ganztagsschulprogramm haben wir für mehr Chancengleichheit gesorgt.

In Wirklichkeit müsste es heißen: Wir haben mit der Riester-Rente und den Zusatzbeiträgen bei der Krankenversicherung der zunehmenden Privatisierung den Weg geöffnet. Die SPD hat doch die Hemmschwellen beseitigt und die schwarz-gelbe Koalition braucht mit der Teilprivatisierung der Pflegeversicherung und der weiteren Übernahme von Gesundheitskosten durch die Krankenversicherten diesen Systemwechsel nur noch voran zu treiben.

Mit dem Hinweis, dass die Rentner in der Krise nicht um ihre Alterseinkünfte bangen müssen, ist wohl die von Olaf Scholz eingebrachte sog. „Rentengarantie“ gemeint. Lassen wir einmal außer Acht, dass der damalige Finanzminister Steinbrück mit seiner heftigen Kritik daran seiner Partei mitten im Wahlkampf in den Rücken fiel.
Tatsache ist, dass mit der „Rentengarantie“ die Rentenkürzungen der vorausgegangenen Jahre allenfalls vorübergehend eingefroren wurden und dass Teile der diesjährigen Rentenerhöhung ab 2011 wieder zurückgefordert werden, so dass auf Jahre “Nullrunden” vorprogrammiert sind.
Glaubt man immer noch daran, dass die Betroffenen nicht bemerkt haben, dass es von 2004 bis 2006 keinerlei Rentenanpassungen gab und dass seit 1998 die Anpassungen ständig unterhalb der Inflationsrate lagen (Das gilt auch für den minimalen Anstieg um 0,54 % im Jahre 2007 und um 1,1 % zum Juli 2008.) Denkt man wirklich, dass die Senkung des Rentenniveaus seit 2001 durch die verschiedenen Rentenreformen um mehr als 17 % auf ein Niveau von 48 % vom durchschnittlichen Bruttoeinkommen, von den versicherten Arbeitnehmern nicht registriert wurde, obwohl ihnen doch ihre Rentenversicherungsanstalt alle paar Monate vorrechnet, dass sie sich dringend zusätzlich privat versichern müssten, wenn sie nicht um ihre Alterseinkünfte bangen wollten?
Will man die Menschen immer noch darüber hinwegtäuschen, dass die Rente mit 67 in Wirklichkeit ein drastisches Rentenkürzungsprogramm (in der Mehrzahl der Fälle um mindestens 7,2 %) darstellt?

Bei aller Anerkennung der lang hinausgeschobenen BAföG-Reform, dem Ganztagsschulprogramm, dass aber die Investitionen in Bildung und Forschung „deutlich“ erhöht worden seien, geht schlicht an den Tatsachen vorbei. Der Anteil der Bildungsausgaben am BIP ging von 6,9% im Jahr 1995 auf 6,3% im Jahr 2005 und auf 6,2% im Jahr 2006 zurück.
Die Ziele in der Bildungspolitik sind im Übrigen äußerst dürftig, neben der richtigen Forderung nach einer integrierten Bildung mit Gebührenfreiheit vom Kindergarten bis zu den Hochschulen fällt der SPD nicht viel anderes ein, als die Zielvorgabe von Schwarz-gelb zu bestätigen, nämlich dass auch sie an dem Ziel fest hält, „mindestens sieben Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) in Bildung und mindestens drei Prozent des BIP in Forschung und Entwicklung zu investieren.“

Von einer Korrektur der „Fehler“ und „Schwächen“ ist nicht die Rede
Man könnte diese „Erfolgsbilanz“ noch an vielen anderen Punkten hinterfragen, von der selbst eingeforderten „offenen und ehrlichen“ Bilanz ist dieser Leitantrag jedenfalls weit entfernt. Darüber helfen auch einige selbstkritische Sätze nicht hinweg:
„Also: viel erreicht und noch viel zu tun. Zugleich können wir nicht behaupten, alles richtig gemacht zu haben. Unsere Politik hat auch Schwächen und Fehler gehabt. Wir blicken am Ende dieser elf Jahre auf ein Wahlergebnis, das mit 23 Prozent der Wählerstimmen das schlechteste aller bisherigen Bundestagswahlen war.“

Welche Schwächen und Fehler zum schlechtesten Bundestagswahlergebnis geführt haben, liest man nirgends und noch viel entscheidender ist, wo und wie diese Schwächen und Fehler korrigiert werden sollen, wird nirgendwo gesagt. Es wird nur darauf verwiesen, dass die Ursachen all dieser Entwicklungen… unter Beteiligung der Gliederungen der Partei“ noch „ergründet“ werden müssten. Dabei liegen die Ursachen doch offen zu Tage.

Die Gliederungen der Partei sollen dem Parteivorstand ihre Erfahrungen und Bewertungen zur Bundestagswahl zuleiten und die Ergebnisse sollen dann zu Beginn des Jahres 2010 vorgestellt werden. Politische Schlussfolgerungen sollen erst danach auf einen Parteitag zu beraten sein.
Doch was soll dann der Parteitag in Dresden an diesem Wochenende?

Die SPD will die Menschen immer noch davon überzeugen, dass sie sich irren
In dem Leitantrag werden vor allem durch die nachträglichen Ergänzungen viele richtige Fragen gestellt und Gründe für die Wahlniederlage angedeutet:

„Die Arbeitsmarktreformen haben in weiten Teilen der Arbeitnehmerschaft Furcht vor sozialem Abstieg durch Arbeitslosigkeit ausgelöst. Leistungskürzungen in der gesetzlichen Rentenversicherung haben zu einem erheblichen Akzeptanzverlust sozialdemokratischer Alterssicherungspolitik geführt. Die Erhöhung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre wird bei vielen Beschäftigten als direkter Eingriff in die persönliche Lebensplanung wahrgenommen. Die Sorge vor Altersarmut ist gewachsen.

  • Im Ergebnis wurde der SPD angelastet, dass sie sich von zentralen Sicherungsversprechen des Sozialstaates, der Absicherung bei Arbeitslosigkeit und im Alter, verabschiedet habe. Die SPD hat in ihren Kernkompetenzen Arbeit und Soziales deutlich an Vertrauen und Glaubwürdigkeit verloren.
  • Wir sind in der Regierungsverantwortung Kompromisse eingegangen, die an unserer Glaubwürdigkeit gezehrt haben. Dies gilt insbesondere für die Anhebung der Mehrwertsteuer und die Anhebung des Renteneintrittsalters.
  • Prekäre und atypische Beschäftigung, insbesondere Arbeit zu Armutslöhnen, Leiharbeit, Befristungen und geringfügige Beschäftigung, haben in den letzten zwei Jahrzehnten massiv zugenommen.
  • Es gelang nicht, die Mehrheit der Bevölkerung an dem seit 2005 einsetzenden wirtschaftlichen Aufschwung angemessen teilhaben zu lassen. Trotz Wachstums stagnierten oder sanken die Realeinkommen vieler Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Die damit verbundene Zunahme der Einkommens- und Vermögensungleichheit verletzte das Gerechtigkeitsempfinden.“

Das hört sich zunächst durchaus selbstkritisch an, liest man aber etwas genauer, so erkennt man die Verteidigungsstrategie, die seit Jahren angewandt wird. Die „Reformen“ werden als richtig und notwendig verteidigt, sie hätten nur (bedauerlicher- und fälschlicherweise) „Furcht“ und „Sorge“ ausgelöst, hätten deshalb zu „Akzeptanzverlust“ geführt. Man tut als in Wirklichkeit weiter so, als sei es nur nicht gelungen die „Reformen“ zu vermitteln oder richtig zu kommunizieren. Die SPD bleibt damit nach wie vor die einzige Partei, die ihre Wähler davon überzeugen will, dass sie sich irren.

Man tut gerade zu beleidigt, dass der SPD „angelastet“ wird, dass sie sich von zentralen Sicherungsversprechen des Sozialstaats verabschiedet habe. Wer zu lesen versteht, kann daraus doch nur folgern, dass diese Partei nach wie vor der Auffassung ist, dass das Gegenteil der Fall ist, dass sie mit Hartz IV die Arbeitslosigkeit abgesichert und mit den Rentenreformen und der von Franz Müntefering durchgedrückten Rente mit 67 zur Absicherung im Alter beigetragen habe. Der Selbstbetrug geht also weiter, obwohl die große Mehrheit der Betroffenen die Wirklichkeit ganz anders spürt. Angesichts dieses Auseinanderklaffens zwischen der eigenen Wahrnehmung (oder sollte man besser von Autosuggestion sprechen) und der davon weit abweichenden konkreten Erfahrung des Verlusts an Sicherheit bei Arbeitnehmern, Arbeitslosen und Rentnern wird es kaum möglich sein „Glaubwürdigkeit“ zurück zu gewinnen.
Und dabei soll sich doch „sozialdemokratische Politik … sich insbesondere an den Interessen der breiten Arbeitnehmerschaft ausrichten. Die Arbeitnehmerschaft bildet die Basis der SPD und ihrer Mehrheitsfähigkeit.“

Die Menschen wissen nur zu genau, wofür die SPD gestanden hat
Was ist es denn anderes als Selbstbetrug, wenn man den Kompetenzverlust der SPD auf nahezu allen Feldern, damit abtut, dass die Bürgerinnen und Bürger den Eindruck bekommen hätten: „Wir wissen nicht, wofür ihr derzeit steht“? Nach elf Jahren Regierungs(mit)verantwortung, haben die Leute doch wohl ausreichend Erfahrung gesammelt, um zu wissen, wofür die SPD steht. Man kann jedenfalls auf Dauer auch durch die beste politische Rhetorik nicht über das einzig Konkrete hinwegtäuschen, das bei den Menschen ankommt, nämlich über das politische Handeln.

Das programmatische Gefangensein in der Agenda-Politik und die Verteidigung des vorausgegangenen Tuns kann man auch an der Kritik des Koalitionsvertrages der neuen schwarz-gelben Regierung ablesen. Da werden etwa das „Weiter so“ nach der Finanzkrise und die Steuersenkungen auch für Unternehmen und Vermögende oder die schrittweise Privatisierung bei der Gesundheits- und Pflegepolitik angeprangert. Doch zu einem Gegenkonzept reicht es nicht. Die SPD ist bisher auch als oppositionelle Kraft gelähmt, weil Vieles was Schwarz-Gelb jetzt plant nur die härtere Variante der Fortsetzung des von ihr selbst eingeschlagenen politischen Kurses ist. Das gilt für die Agenda 2010, für Afghanistan, für die Privatisierung der Bahn, für die Politik der einseitigen Steuersenkung für Unternehmen und Besserverdienende, für die Förderung spekulativer Tätigkeit auf den Finanzmärkten, für die Einführung der Privatvorsorge usw.
Eine „konsequente Opposition“ ist auf der bisherigen Linie jedenfalls kaum denkbar.

Die vorhandenen Programme reichen nicht für eine Neuorientierung
Immerhin befreit der Leitantrag die SPD von der selbst gewählten Einmauerung gegen linke Bündnisoptionen: „Die SPD wird ihre Zusammenarbeit mit anderen demokratischen Parteien von politischen Inhalten und Verlässlichkeit in der Zusammenarbeit und in der Regierungsbildung abhängig machen. Weder schließen wir bestimmte Koalitionen aus Prinzip aus noch streben wir aus Prinzip bestimmte Koalitionen an.“

„Die Grundlagen unserer Arbeit sind das Hamburger Grundsatzprogramm, das beschlossene Regierungsprogramm für die neue Legislaturperiode und der von Frank-Walter Steinmeier vorgelegte Deutschlandplan „Arbeit von morgen“.“ Ob das ausreichen wird um eine Neuorientierung zu gewinnen, muss bezweifelt werden. Ich will das Grundsatzprogramm gar nicht in Bausch und Bogen kritisieren, doch ist letztlich dort – sicherlich auch der damaligen Regierungsbeteiligung geschuldet – eine die Quadratur des Kreises versucht worden: Das Programm will die Richtigkeit des Regierungskurses unter Kanzler Schröder bestätigen, es will möglichst wenig Angriffspunkte zum Kurs der Großen Koalition liefern und sollte gleichzeitig Perspektiven für eine „soziale Demokratie“ aufzeigen. So lässt jede Aussage, die dort getroffen wurde, ein oder manchmal sogar mehrere Hintertürchen offen, um wieder entwischen zu können. Dem von Steinmeier vorgelegte Regierungsprogramm und sein Deutschlandplan haben doch eigentlich schon die Wähler eine deutliche Abfuhr erteilt, weil sie den Versprechen nicht mehr geglaubt haben.

Es gibt durchaus Ansätze für eine inhaltliche Neuorientierung so etwa bei den Konsequenzen aus der Finanzkrise, beim Plädoyer für die Erhaltung eines handlungsfähigen Staates oder bei der Schaffung von Arbeit von morgen. Aber auch hier fehlt eine klare Ansage, welche Fehler aus der Regierungszeit man zu korrigieren bereit ist vor allem fehlt ein alternatives wirtschaftspolitisches Gesamtkonzept, das abweicht von der herrschenden ökonomischen Lehre, die nichts anderes bietet als simple Unternehmenslogik.

Überholte Mythen
Immerhin wurde beim Thema soziale Sicherheit noch nachträglich hinzugefügt:

„Wir werden unsere Alterssicherungspolitik am Ziel der Lebensstandardsicherung orientieren und uns für eine solidarische gesetzliche Rentenversicherung stark machen. Dies schließt selbstverständlich die Prüfung der rentenpolitischen Maßnahmen seit 2001 ein.“

Doch nach wie vor hält die SPD an den alten Mythen fest:

„Wir waren in den letzten Jahren vollauf damit beschäftigt, zu verhindern, dass unser Sozialstaat unter dem Druck von Globalisierung und demografischer Entwicklung in die Knie geht. Diesen Megatrends haben wir unter Schwierigkeiten getrotzt und uns dabei als soziale Marktwirtschaft modernisiert.“

Solange man die ideologische Gefangenschaft in einer wirtschaftsliberalen Globalisierung und das eindimensionale Schielen auf die demografische Entwicklung nicht aufgibt und nicht erkennt, dass das Wachstum der Wirtschaft, die tatsächliche Erwerbsquote und die Steigerung der Produktivität viel entscheidender sind als die älter werdende Gesellschaft, wird man der Logik des „Gürtel-enger-schnallens“ nicht entkommen.

Viele richtige Fragen, aber wenig überraschende Antworten
Immerhin, der Leitantrag stellt viele richtige Fragen, aber die Antworten bieten keine Überraschungen. Das dürfte auch der Grund dafür sein, dass ihm außerhalb der Partei selbst keine große Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Hätte er Überraschendes geboten, so könnte man sicher sein, dass es wieder lautstarke Warnungen vor einem Linksruck gegeben hätte (was dann auch immer als „links“ angesehen worden wäre).

Mein Fazit lautet, der bevorstehende Parteitag dürfte bestenfalls eine Zwischenetappe sein. Es wird viel Zeit brauchen, bis sich die SPD wieder ein Profil geben kann, das deutlichere Akzente gegenüber dem bisherigen Kurs erkennen lässt. Der Wechsel an der Führungsspitze der Partei eröffnet bestenfalls eine Chance, dass die Parteibasis künftig wieder mehr zu Wort kommt, ob das auch dort ankommen wird, wo auch künftig der Alltag der Politik stattfinden wird, nämlich in der Bundestagsfraktion, ist eine offene Frage. Mit Steinmeier als Lordsiegelbewahrer der Schröderschen Agenda sind da große Zweifel angebracht.

Neue Perspektiven sind unverzichtbar
Wenn die SPD sich wirklich von CDU/CSU und FDP (und Grünen) unterscheiden wollte und eine Neuorientierung ernsthaft in Angriff nehmen wollte, so wären aus meiner Sicht folgende Perspektiven unverzichtbar:

  • Die SPD müsste u.a. eine neue Friedenspolitik entwickeln, die erkennbar wieder auf Kooperation statt auf Konfrontation setzt. Statt die Nato zu einer weltweiten Interventionsarmee zur Sicherung amerikanisch-europäischer ökonomischer und geostrategischer Interessen auszubauen, müsste eine Kooperationspolitik (auch unter Einbeziehung Russlands) und ein neues kollektives Sicherheitssystem angestrebt werden.
  • Die SPD müsste eine andere, lebendige politische Kultur innerhalb der Partei und darüber hinaus in der Gesellschaft anzustoßen. Sie müsste den Bürgerinnen und Bürgern wieder das Gefühl geben, dass ihre Meinung zählt und nicht mehr länger so tun, als wüsste die Parteiführung besser was für sie gut und richtig ist, gerade so als würden die Menschen über ihre Wirklichkeit einem permanenten Irrtum unterliegen.
  • Die SPD müsste eine andere Fiskalpolitik vertreten, die erkennt, dass in konjunkturell schwachen Zeiten zu sparen nur zu noch mehr Verschuldung führt. Sie müsste konkrete Vorschläge machen, wie diejenigen, die vor der Finanzkrise profitiert haben, zur Kasse gebeten werden. Sie müsste die Umverteilung von unten nach oben auch über eine andere Steuerpolitik stoppen.
  • Die SPD müsste einen ökologischen Umdenkungsprozess fördern, der die Rohstoffe und das Klima schont. Sie müsste wieder klare Konturen für ein qualitativen Wachstums entwickeln.
  • Die SPD müsste vor allem einen Paradigmenwechsel in der Wirtschaftspolitik vollziehen. Eine Makroökonomie die nicht mehr nur eindimensional der einzelwirtschaftlichen Unternehmenslogik folgt und ausschließlich die Angebots(oder Investitions)bedingungen im Blick hat, sondern eine gesamtwirtschaftliche Perspektive einnimmt und vor alle auch auf die Nachfrageseite achtet. Denn nur eine aktive Wirtschaftspolitik schafft Arbeit und kann deswegen auch sozial sein.
  • Die SPD müsste ein neues Leitbild des Sozial- und Wohlfahrtsstaates entwerfen, dem ein anderes Menschenbild als der Agenda 2010 zugrunde liegt, in dem die Menschen, die ohne eigene Schuld in Not geraten, nicht länger als Almosenempfänger oder gar als schmarotzende Leistungsverweigerer betrachtet werden, sondern als „Bürger“ die einen Rechtsanspruch auf soziale Sicherheit haben.
  • Die SPD müsste den Menschen wieder das Vertrauen geben, dass die „Reformen“ der „Sozialdemokratie“ für die Mehrheit das Leben ein Stück menschlicher, sozial gerechter und chancengleicher und damit freier macht, so dass wieder mehr Hoffnung in die Funktionsfähigkeit der Demokratie erwächst.

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