Der Mord in Kassel 2006 ist nicht aufgeklärt – weder juristisch, noch politisch

Wolf Wetzel
Ein Artikel von Wolf Wetzel

Wolf Wetzel setzt sich in seiner NSU-VS-Recherche mit dem parlamentarischen Untersuchungsausschuss/PUA in Hessen auseinander. Erst im Mai 2014 konnte mit den Stimmen der SPD und der Partei „DIE LINKE“ doch noch ein PUA eingesetzt werden. CDU, Grüne und FDP hielten diesen für „nicht zielführend“ und enthielten sich der Stimme. Nun liegt ein erster Entwurf des Abschlussberichtes vor.

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Vorgeschichte

Der neunte Mord, der der neonazistischen Terrorgruppe NSU zugeordnet wird, fand 2006 in Kassel statt. Dort wurde Halit Yozgat in seinem Internetcafé mit zwei Schüssen in den Kopf „hingerichtet“. Die Polizei nahm die Ermittlungen auf und stieß dabei auf einen Zeugen, der sich nicht gemeldet hatte: Ein Mann, der sich im Internetcafé als „Jörg Schneeberg“ ausgab, und im wirklichen Leben Geheimdienstmitarbeiter des hessischen Landesamtes für Verfassungsschutz war, unter dem Decknamen Alexander Thomsen.

Die Polizei ermittelte gegen ihn, hörte seine Telefonanschlüsse wochenlang ab und bekam heraus, dass er V-Mann-Führer war und u.a. einen Neonazi „führte“. In der Folgezeit warfen sich alle Vorgesetzten, vom Chef des hessischen Verfassungsschutzes bis hin zum damaligen Innenminister Volker Bouffier vor ihn und schützten ihn. An diesem Schutzschild scheiterte die außerordentlich gut arbeitende Mordkommission: Die staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen wurden eingestellt und die „Dönermord“-Losung hatte wieder freie Fahrt.

Nachdem sich der NSU im Jahre 2011 selbst bekannt gemacht hatte, war die Aufregung groß. Was elf Jahre lang als „Dönermorde“ ausgegeben wurde, stellte sich nun als eine neonazistische Mordserie heraus. Der Mord in Kassel 2006 war dabei der neunte und letzte Mord aus rassistischen Motiven.

Überall wurden parlamentarische Untersuchungsausschüsse eingerichtet – nur in Hessen nicht. Die Regierungsparteien sprachen sich gegen einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss aus. Schließlich war nach dem Willen der politisch Verantwortlichen alles „ausermittelt“, zu Deutsch: nichts herausgekommen, außer … einem unguten Gefühl, das aber auch in Hessen nicht strafbar ist.

Schließlich wurde im Mai 2014 mit den Stimmen der SPD und der Partei „DIE LINKE“ doch noch ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss/PUA eingesetzt. CDU, Grüne und FDP hielten diesen für „nicht zielführend“ und enthielten sich der Stimme.

Nachdem die Einrichtung eines PUA nicht mehr verhindert werden konnte, gab es massive Versuche, vor allem von Seiten des aktuellen Regierungslagers, den Untersuchungsauftrag zu unterminieren, gerade in Hinblick auf die Fragen: Welche Rolle spielen staatliche Behörden bei der Sabotage der Aufklärung? Welche Rolle spielt der Verfassungsschutzmitarbeiter Temme, der einen Neonazi als V-Mann führte, der zum Netzwerk des NSU gehörte (Benjamin Gärtner)?

Monatelang wurde darüber gestritten, welche Akten aus dem PUA in Berlin, aus dem Prozess in München angefordert werden sollen. Aber es ging auch um die fortgesetzte Verschleierung von Beweismaterial:

„Derzeit wird über die Geheimhaltung hessischer Akten gestritten, die aus Berlin zurückgekehrt sind. Nach geltendem Recht müsse ein hessischer U-Ausschuss sie noch einmal einstufen, sagt Bellino. Die Akten seien schon klassifiziert, sagt Linken-Obmann Hermann Schaus. Er befürchtet, dass noch mehr Papiere den Stempel geheim bekommen. Dann darf in öffentlicher Sitzung nicht mehr daraus zitiert werden.“ (Die Welt vom 7.1.2015)

Seit dem 14. März 2018 liegt ein vom Grünen-Abgeordneten Jürgen Frömmrich verfasster Entwurf für den Abschlussbericht des parlamentarischen Untersuchungsausschusses/PUA zum NSU-Komplex in Hessen vor. Einen parteiübergreifenden Abschlussbericht wird es nicht geben. Unter anderem „kommen in den Augen von SPD und Linken die Erkenntnisse des Ausschusses über die rechtsextreme Szene in Hessen viel zu kurz. So hatte das Gremium herausgefunden, dass die rechte Szenefrau Corryna Görtz mehrfach das Internetcafé des späteren Mordopfers Halit Yozgat aufgesucht hatte. ‚Die Akten von Frau Görtz sind 2009 vom Landesamt für Verfassungsschutz vernichtet worden. Darüber steht kein Wort drin‘, bemängelte der Linke Schaus.“ (FR vom 13.3.2018)

Die Frankfurter Rundschau fasste die zentralen Ergebnisse dieses Entwurfes zusammen:

Andreas Temme, ein V-Mann-Führer des LfV in Hessen, der den Neonazi Benjamin Gärtner aus dem NSU-Netzwerk führte, habe – so gut wie – nichts mit dem Mord an den Internetbesitzer Ismail Yozgat zu tun: „Die Frage, ob Temme an der Tat beteiligt oder ob er gar selbst der Täter war, kann auch der Untersuchungsausschuss nicht mit letzter Sicherheit beantworten. Allerdings hält es der Ausschuss, ebenso wie es die Staatsanwaltschaften in den Jahren 2007 und 2012 sahen, für wahrscheinlicher, dass Temme nicht daran beteiligt war … Als Temme das Internetcafé betrat, versuchte er nicht, sich oder seine Identität zu verbergen … Eine sichere Feststellung, dass Temme nicht der Täter war, lassen diese Erwägungen aber nicht zu.“

Dass sich Andreas Temme dort als „Jörg Schneeberg“ eingeloggt hatte, wertet dieser Abschlussbericht demnach als mangelhafte Tarnung. Aber vielleicht musste sich Andreas Temme um eine perfekte Tarnung gar keine so großen Sorgen machen, da er darauf setzen konnte, im „Ernstfall“ mit allen Mitteln gedeckt zu werden.

Im NSU-Bundestagsuntersuchungsausschuss in Berlin wurde Gerhard Hoffmann, leitender Kriminaldirektor des Polizeipräsidiums Nordhessen und damaliger Leiter der „SOKO Café“ im Juni 2012 befragt.

Aus dem Gedächtnis gibt Mely Kiyak, die die besten Kolumnen in der Frankfurter Rundschau veröffentlichte, folgenden Dialog zwischen Mitgliedern des Untersuchungsausschusses (UA) und dem SOKO-Chef Gerhard Hoffmann (GH) wieder:

GH: Innenminister Bouffier hat damals entschieden: Die Quellen von Herrn T. können nicht vernommen werden. Als Minister war er für den Verfassungsschutz verantwortlich.
UA: Er war doch auch Ihr Minister! Ist Ihnen das nicht komisch vorgekommen? Jedes Mal, wenn gegen V-Männer ermittelt wurde, kam einer vom Landesamt für Verfassungsschutz vorbei, stoppt die Ermittlung mit der Begründung, der Schutz des Landes Hessen ist in Gefahr. Aus den Akten geht eine Bemerkung hervor, die meint, dass man erst eine Leiche neben einem Verfassungsschützer finden müsse, damit man Auskunft bekommt. Richtig?
GH: Selbst dann nicht …
UA: Bitte?
GH: Es heißt, selbst wenn man eine Leiche neben einem Verfassungsschützer findet, bekommt man keine Auskunft.
(FR vom 30.6.2012)

Dem Abschlussbericht zufolge stehe auch fest, dass der Neonazi, den Andreas Temme „führte“, weder vom NSU etwas wusste noch von den Tatvorbereitungen. Das weiß man aufgrund einer „Befragung“, die der Verfassungsschutz selbst durchgeführt hatte, nachdem der damalige Innenminister Volker Bouffier zum Wohle des Landes verfügt hatte, dass es der Polizei untersagt sei, den Neonazi und V-Mann zu vernehmen. Ob das stimmt oder eine Notwendigkeit war, sich nicht selbst zu belasten, wäre leicht zu überprüfen: Man müsste nur die Protokolle auswerten, die zwei Telefonate zum Inhalt haben, die Andreas Temme mit dem V-Mann Benjamin Gärtner am Mordtag geführt hatte, das erste um 13:06 Uhr und ein weiteres um 16:10 Uhr, also knapp eine Stunde vor der Mordtat. Doch genau diese Wortprotokolle sind nicht mehr vorhanden, wodurch ein wichtiges Beweismittel beseitigt wurde.

Ein ähnliches Schicksal widerfuhr den „Treffberichten“, die Andreas Temme als V-Mann-Führer verfasst hatte. Ausgerechnet die Treffberichte aus dem Jahr 2006 fehlen. Der „grüne “Abschlussbericht weiß noch mehr zu berichten und zu begraben: Das Ermittlungsergebnis der Polizei, wonach Andreas Temme nach dem Mord zu dem Tisch gegangen war, um dort ein Geldstück abzulegen, also den Toten habe sehen müssen, ist falsch – oder feiner formuliert „obsolet“:

„Die zwischenzeitlich vorherrschende These, wonach Temme an seinem PC gesessen habe, als die Schüsse fielen, lässt sich (…) nicht mehr aufrechterhalten. Die dieser These zugrundeliegende analytische Aufbereitung des Tathergangs durch die BAO Bosporus wurde von ihrem Verfasser für ,obsolet’ erklärt …“

Ermittlungen und Ergebnis passten einfach nicht (mehr) zusammen. Das wollen die polizeilichen Ermittler aus freien Stücken selbst erkannt und nun ein- und ausgeräumt haben. In Wirklichkeit steht nur eines zweifelsfrei fest: Der Zeitpunkt, als Andreas Temme sich am Computer abgemeldet hatte: 17:01 Uhr. Da der Todeszeitpunkt nicht minutengenau bestimmt werden kann, ist und bleibt das Ergebnis von BAO Bosporus nicht „obsolet“, sondern gleichermaßen wahrscheinlich. Was jedoch mit dieser Revision gelungen ist, ist unübersehbar: Nun passen die Lügen von Andreas Temme und das „grüne“ Ergebnis des PUA auch zusammen.

Dass die CDU im Jahr 2006 in Hessen allein regiert hatte, danach Bündnisse mit der FDP und seit 2014 mit den GRÜNEN eingegangen ist, also im PUA die Mehrheit stellt, ist auch wahr … und hat keinen Einfluss auf das Ermittlungsergebnis. Das glaubt nur jemand, der ausblendet, dass Inhalt und Umfang des Ermittlungsauftrages von der politischen Mehrheit diktiert werden.

Fazit: Dieser Abschlussbericht bestätigt in allen zentralen Punkten genau das, was das Gericht in München schon seit fast fünf Jahren weiß. Einen ganz kleinen Trostpreis hält dieser „grüne“ Abschlussbericht doch noch bereit: Er öffnet einem anderen Tatgeschehen einen Spalt weit die Tür, wenn man der Ausführung folgt: „Eine sichere Feststellung, dass Temme nicht der Täter war, lassen diese Erwägungen aber nicht zu.“

Nutzen wir also diese Chance und machen uns anhand der öffentlich zugänglichen Fakten daran, einen Geschehensablauf zu rekonstruieren, in dem Andreas Temme ein (Mit-)Täter ist.

Andreas Temme verließ tatsächlich das Internetcafé, bevor Halit Yozgat erschossen wurde. Er verließ dieses, als er den günstigen Zeitpunkt für ausgemacht hielt. Draußen übergab er dem Mörder eine Plastiktüte. Eine solche sah ein Zeuge, als sich Andreas Temme zu seinem Internetplatz begab. Und über diese machte sich auch seine Frau lustig, in einem abgehörten Telefonat. Laut Telefonprotokoll hat sie ihrem Mann gesagt:

„Willst du nicht mal auf mich hören? Ich sage noch, ne, nimm keine Plastiktüte mit!“ (tagesspiegel.de vom 8.6.2015)

Möglicherweise wartete er noch im Auto, bis der Mörder wieder herauskam, damit dieser die Waffe samt zerschossener Plastiktüte und eingefangener Patronenhülsen durchs offene Fenster werfen konnte, um so die Tatwaffe sicher zu „entsorgen“. Wer würde im Zweifelsfall einen Geheimdienstagenten anhalten und durchsuchen?

Das hört sich verrückt an, wie in einem Mafiafilm, in dem Geheimdienstagenten und Mafia Hand in Hand arbeiten. Wenn man jedoch die „Beweislage“ dagegenhält, die für eine Täterschaft der beiden NSU-Mitglieder angeführt wird, dann stützt sich diese alternative Version auf einen „Berg“ von Beweismitteln. Denn so sehr man diesen Neonazis diesen Mord zutraut, so sehr er ihrer rassistischen Logik entspricht: Es existiert kein einziger Beweis vor Ort, keine einzige Zeugenschaft, die die offizielle Version stützen könnte.

Mehr noch: Der offiziellen Version zufolge haben die beiden NSU-Mitglieder Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt die Tat alleine begangen, ohne jede Art der Unterstützung. Sie sind folglich „blind“ in das Internetcafé gegangen, ohne zu wissen, ob sich neben Halit Yozgat noch weitere Personen in dem Vorraum aufhalten, wo sich die Kasse befand. Dass dies genauso gewesen sein müsste, ergibt sich aus Zeugenaussagen der im Internetcafé Anwesenden. Keiner der sechs Kunden (einschließlich Andreas Temme) hat einen Mann oder gar zwei Männer kurz vor der Mordtat gesehen, um die Örtlichkeiten auszuspähen, mit dem Ziel, unter allen Umständen zu vermeiden, dass es einen unmittelbaren Zeugen des Mordes gibt. Das würde jedoch gänzlich dem professionellen und umsichtigen Verhalten widersprechen, das man den beiden NSU-Mitgliedern attestiert hatte.

Welcher Tathergang also wahrscheinlicher ist, welcher von mehr Indizien getragen wird, entscheidet sich bei Anwendung gängiger Ermittlungsmethoden nicht an der Frage, wem man einen solchen Mord zutraut, sondern einzig und allein am Gewicht der Indizien, an der Beweisdichte.

Ganz sicher machen Andreas Temme seine Anwesenheit am Tatort, sein Versuch, diese zu leugnen, seine Kontakte zu einem Neonazi am Mordtag, seine eigene rassistische Gesinnung verdächtig. Deshalb wurde er auch von der Mordkommission lange als Tatverdächtiger geführt. Für diesen etwas anderen Tatverlauf gibt es zudem eine sehr ungewöhnliche und unfreiwillig glaubwürdige Zeugin: Temmes Frau selbst!

Man mag es kaum glauben, dass genau sie das gesagt hat: die Ehefrau, die sich bis heute aufopferungsbereit vor ihren Mann stellt und ihn zum Opfer unglücklicher Umstände stilisiert. Sehr wahrscheinlich dachte sie nicht einmal im Traum daran, dass ihr Telefon abgehört wird. Doch genau das wurde gemacht, so auch das Gespräch mit ihrer Schwester, in dem sie – ihren Mann vor Augen – sagte:

„Interessiert es mich denn, wen der heute wieder niedergemetzelt hat? Solange er sich die Klamotten nicht schmutzig macht!“

Daraufhin lachten Eva Temme und ihre Schwester herzhaft und zwanglos. Diese Aussage, die sie bis jetzt noch nicht zurückgenommen hat, passt so gar nicht in die Trottelversion, die sich Staatsanwaltschaft, Gericht und nun auch die Mehrheit des PUA in Hessen teilen: „Klein Adolf“, eine tragische Figur, am falschen Ort, zur falschen Zeit.

Einer, der nicht einmal auf seinen Schutzengel, den Geheimschutzbeauftragten des hessischen LfV, Gerald-Hasso Hess, hörte:

„Ich sach ja jedem, äh, wenn er weiß, dass irgendwo so etwas passiert: Bitte nicht vorbeifahren! Ja, es ist sch … Ja, wie sieht es bei Ihnen aus, wie fühlen Sie sich?“ (Telefonat mit Andreas Temme am 9. Mai 2006)

Als man den Geheimschutzbeauftragten des LfV Hessen mit diesem abgehörten Telefonat konfrontierte und von Täterwissen ausging, winkte Herr Hess ab. Das sei nur ein Scherz gewesen. So witzig wie der mit den Blutspritzern auf dem von Eva Temme so glatt gebügelten Hemd.

Wolf Wetzel

Der NSU-VS-Komplex. Wo beginnt der Nationalsozialistische Untergrund – wo hört der Staat auf? 3. Auflage, Unrast Verlag 2015

Zahlreiche Recherchen zum Komplex Kassel 2006 finden sich unter dem Stichwort ‚Kassel‘ im Blog: wolfwetzel.wordpress.com

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