Heute vor 73 Jahren war der Zweite Weltkrieg zu Ende. Dessen gedenken wir mit dem Text einer 96-jährigen NachDenkSeiten-Leserin.

Albrecht Müller
Ein Artikel von:

Sie schreibt großartig, und sie teilt die Sorgen um die neuen Konflikte, die noch mal zum großen Krieg führen könnten. Sie hat als junge Frau während des Zweiten Weltkriegs in einem Frankfurter Betrieb gearbeitet. Dort waren auch russische und französische Kriegsgefangene und Deportierte beschäftigt. Gemeinsam erlebten sie die Bombennächte. Hiervon handelt der folgende Text „Über die Kriegsjahre im Büro“. Albrecht Müller.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Unsere Autorin will nicht mit ihrem Namen auftreten. Wir akzeptieren das. Anette Sorg und ich haben sie am vergangenen Sonntag besucht und sind tief beeindruckt. Wir freuen uns darüber, den NachDenkSeiten-Leserinnen und -Lesern die Texte einer Frau bieten zu können, die 1922 geboren wurde und das Geschehen von Jugend an und bis heute hellwach begleitet, beobachtet, kritisiert. Heute macht sie sich zum Beispiel große Sorgen darüber, was Cambridge Analytica und ähnliche Firmen mit uns anstellen. Davon vielleicht später mehr. Heute statt einer Politiker-Rede zum 8. Mai dieser Bericht:

Louise Demangeon, André Sergeff
(Über die letzten Kriegsjahre im Büro)

Meine Geschichte beginnt im Herbst 1943. In der Lampenfabrik war ich von der „Auslands-korrespondentin“ zur „Werbeleiterin“ avanciert. Meine Vorgänger, wiewohl nicht mehr die Jüngsten, waren zum Kriegsdienst eingezogen worden. Darunter litt die Firma allerdings kaum. Der Bedarf an Auslandskorrespondenz und Werbung tendierte gegen null. Die Leuchtenfabrikation war auf kriegswichtige Güter reduziert worden und nur für solche gab es Zuteilung von Rohstoffen. Lampen mit Lichtkurven für die diffuse Beleuchtung des trauten Heims waren passé. Statt dessen mussten Leuchten für Landebahnen der Luftwaffe und schlagwettergeschützte Grubenleuchten produziert werden. Dass ich mit Mittelschulreife und Lehre zur Kaufmannsgehilfin vom Berufsbild „Werbeleiter“ keine Ahnung hatte, war unter solchen Umständen irrelevant.

Das letzte Aufgebot waren meine eingezogenen Vorgänger leider noch lange nicht. Die deutschen Heere Ost hatten nach der verlorenen Schlacht um Stalingrad ein halbes Jahr zuvor die Zeit ihrer größten Ausdehnung in Europa bereits überschritten. Führten sie bis dahin Eroberungsschlachten, so wurden sie jetzt bei den Rückzügen eingekesselt und das Überleben der Soldaten hing vom Ausbruch aus den Kesseln ab. Wer das so aussprach, musste mit Verhaftung wegen „Zersetzung der Wehrkraft“ rechnen. In den Nachrichten hörte man nur von Mut und Hingabe der Truppen zu Führer und Vaterland (in dieser Reihenfolge), dem die Heimatfront durch ebensolchen Einsatz sich würdig zu erweisen hatte. Ganz Frankfurt war plakatiert mit Parolen wie „Räder müssen rollen für den Sieg“ und „Achtung! Feind hört mit.“

Ich hatte im obersten Stockwerk des Bürogebäudes in einer Ecke des großen Ausstellungsraums meinen Schreibtisch. Die dort an Wänden und Decken sorgfältig montierten Leuchten hatten auch nur noch Erinnerungswert. In der Mitte des Raums führten Türen vom Bürogebäude zu den Fabrikationsanlagen. Insgesamt waren etwa 400 Menschen bei Schanzenbach beschäftigt; jeder Vierte saß im Bürohaus. In der Firma arbeiteten auch ungefähr 25 Franzosen und 15 russische Kriegsgefangene. Die Russen waren ausgehungert und isoliert. Es wurde peinlichst darauf geachtet, dass sie nie die Gelegenheit hatten, mit jemandem zu sprechen. Der Kantinenwirt, ein Schleimer, verköstigte sie. Ich war überzeugt davon, dass er ihnen noch nicht einmal die Hungerrationen gab, die er für sie bekam. Sie kampierten in einem tags und nachts verschlossenen Lagerraum im Parterre der Fabrik. Den Schlüssel dazu hatte der sog. Betriebsobmann Benedikt, offizieller Aufpasser der NSDAP bei Schanzenbach. Benedikt war Packer in der Expedition und setzte sich mit Haut und Haaren für die Umsetzung der Befehle aus der Parteizentrale ein.

Die Franzosen wohnten in einem Haus neben dem Eingangtor. Es war ursprünglich das Wohnhaus des Firmengründers. Sie bekamen Lebensmittelkarten mit weniger Zuteilungen als wir. Davon mussten sie einen Teil für das Mittagessen dem Schleimer abliefern, der ihnen dafür einen miserablen Fraß servierte, der ihnen selbstverständlich in Rechnung gestellt wurde. Ihre Vorstöße, sich selbst zu versorgen, scheiterten an Benedikt.

Ab und zu wechselte ich auf Treppen oder Gängen ein paar Worte mit den Franzosen. Eines Tages kamen drei von ihnen an meinem Schreibtisch. Sie fragten mich, ob ich einverstanden wäre, für sie bei der Betriebsleitung zu dolmetschen. Ich war überrascht und sagte ihnen, ich wolle das gern übernehmen, wenn ihnen denn mein Französisch gut genug sei. Damit kämen sie schon klar, meinten sie und erklärten dann den Grund ihres Kommens. Für sie zuständig sei eine Elsässerin. (Sie war eine Naziziege aus der Montage für Halbfabrikate, ein Herz und eine Seele mit Benedikt.) Sie hatte die etwa sechs Frauen unter den Franzosen zu einer angeordneten Untersuchung in die Gynäkologie der Frankfurter Uniklinik geführt. Dort angekommen, befahl sie ihnen sich auszuziehen damit sie, ohne Zeitverlust untersucht, wieder an ihre Maschinen kämen. Das sprach sich unter den Hilfskräften der Uni herum und zahlreiche Männer nutzten die Gelegenheit, sich in dem Raum umzusehen. Die Franzosen waren empört, ich auch. Die Delegation dankte mir und machte sich auf den Weg zur Betriebsleitung.

Die beiden Betriebsleiter hatten nichts gegen den Wechsel. Sie hatten es wohl lieber mit mir zu tun als mit der Elsässerin. Doch einige Tage darauf erschien Benedikt. Er habe meinen „Einsatz“ zu genehmigen und es gäbe dabei ein Problem. Die Funktion sei von einem Parteimitglied auszuüben und ich sei kein Mitglied der NSDAP. Ich ließ ihn reden, er verhaspelte sich und ich hob hilflos die Schultern. Es war sein Problem, nicht meins. Er zog zu meiner Erleichterung wieder ab. Hatte er erwartet, dass ich die Aufnahme in die Partei beantrage? Ich hatte befürchtet, er werde mich dazu auffordern. Ich wollte nicht in die Partei und die Vorstellung, die Gründe dafür der NSDAP erklären zu müssen, war beängstigend. Mit den Betriebsleitern habe ich nie über Benedikts Besuch gesprochen. Sie beauftragten mich, morgens durch die Fabrik zu gehen und zu sehen, ob alle Franzosen an ihrem Arbeitsplatz seien. Ein wenig sinnvoller Auftrag, denn jede Abteilung hatte einen Meister, der ja wohl merkte, wenn einer fehlte. Doch das wussten die Betriebsleiter auch selbst.

So begann ich meine morgendlichen Rundgänge mit „Bonjour Monsieur“ oder „Bonjour Madame,“ und „Ça va?“ oder „Comment allez-vous?“ Ich lernte ihre Namen, es gab kleine Gespräche, mit einem mehr, mit anderen weniger. Sie sagten mir, zu Hause gäbe es ein Fest oder jemand sei krank. Sie hätten Urlaub beantragt und der Meister habe nicht genehmigt. Ich versprach, die Sache der Betriebsleitung vorzutragen. Dort hatte ich keinen Erfolg. Der Platz an der Stanze oder der Bohrmaschine müsse besetzt bleiben, Liefertermine eingehalten werden. Wenn ich mich nicht abwimmeln ließ und auf einen Vertrag verwies, in dem der Anspruch auf Urlaub festgeschrieben stand, wurde ich gefragt, auf welcher Seite ich stehe. Wollte ich dann wissen, warum man einen Vertrag abschließt, wenn man ihn dann nicht zu halten gewillt sei, hieß es, unsere Soldaten im Feld könnten auch keinen Urlaub nehmen wann sie wollen. Mit meinem Bedauern wiederholte ich dann den Verlauf des Gesprächs an der Bohrmaschine, in der Lackiererei oder wo sonst der Antragsteller arbeitete, und ich hatte dabei Schuldgefühle. Zu Benedikt ging ich nie.

In der Galvanisieranlage arbeitete Louise Demangeon. Dem Galvanisierbad entströmten gifthaltige Dämpfe. Aber es gab keinen Maschinenkrach dort und man konnte deshalb besser miteinander sprechen. Louise Demangeon war klein, hatte dünne dunkle Haare, verkrümmte Beine und trug eine dicke Brille. Sie erzählte mir von ihrer schönen Schwester, die groß und blond sei und in einer Kirche in Paris die Orgel spiele. Manchmal sprachen wir auch über französische Schriftsteller. Als sie Urlaub bekam, wünschte ich ihr eine gute Zeit mit der Schwester. Nach Frankfurt zurückgekehrt, schlich sie sich zu mir an den Schreibtisch und gab mir ein Päckchen. Das sei ein pain d’épices, ein Gewürzkuchen also, wie man ihn zu Hause zur Weihnachtszeit esse – ich solle aber niemandem sagen, dass es ein Geschenk von ihr sei. Ich wollte den Kuchen nicht annehmen, denn Louise Demangeon hatte weniger zu essen als ich. Doch sie bestand darauf. Der köstliche Kuchen war mit Mandeln belegt und gewürzt wie unser Lebkuchen, doch ganz locker gebacken. Das schlechte Gewissen habe ich mitverschluckt. Wann immer ich später in Frankreich ein pain d’épices sah, habe ich an Louise Demangeon gedacht. Sie brachte mir auch einmal ein französisches Buch „Mes songes que voici…“ (Hier meine Gedanken…) von Romain Rolland, Nobelpreisträger (1915), hochgebildeter Humanist und berühmter Pazifist, der sich im ersten Weltkrieg, damals in der Schweiz ansässig, vehement gegen das Abschlachten im Stellungskrieg zwischen den Deutschen und den Franzosen eingesetzt hatte und als Kommunist verschrien war. Er glaubte wohl an ein Utopia. Nach dem Krieg dauerte es ziemlich lange, bis in Westdeutschland wieder Übersetzungen seiner Bücher erschienen. Ich habe seinen Erfolgsroman „Johann Christof“ in einer zweibändigen Ausgabe von 1914 und eine schöne Ausgabe von „Das Leben des Michelangelo“, erschienen im Jahr 1922, beide Titel verlegt bei Rütten & Löhning, in Frankfurt a.M.

Am Ende einer Reihe von Werktischen, die vor Fenstern standen, arbeitete ein Franzose als Werkzeugmacher, André Sergeff. Dort war es auch nicht laut und wenn ich neben ihm stand, sah man nur unsere Rücken. Außerdem verstanden die anderen Arbeiter kein Französisch. Vom Fenster sah man auf die Dächer der umliegenden Wohnhäuser von Bockenheim. So ergab sich leicht ein Gespräch über die Außenwelt, über das Wetter, den Anblick ausgebombter Häuser, Fliegeralarm in der vergangenen Nacht, den Blick in den Himmel in Richtung Nordwest. Aus dieser Richtung kamen die englischen Bomber nachts und später auch die amerikanischen am Tag. Über den Taunus anfliegend glitzerten sie im Sonnenschein wie Riesenschwärme silberner Vögel aus einer anderen Welt. Das Bild ließ mich schaudern. Ebbte das Anschwellen des Motorengebrumms wieder ab, zogen sie zu einem anderen Ziel als Frankfurt. Dann hatte man das St.Florians-Gefühl im Bauch. Die Großangriffe auf Frankfurt mit hunderten von Flugzeugen begannen im Oktober 1943.

Beim Angriff mit geschätzten 1000 Flugzeugen in den Nacht vom 18.März 1944 wurde unser Wohnhaus in der Schwanenstraße zwar nicht von einer Sprengbombe getroffen, brannte aber wie alle anderen in der Straße aus. Es sollen in dieser Nacht 800 000 Phosphorbomben auf Frankfurt abgeworfen worden sein. Schräg gegenüber hatte eine schwere Sprengbombe eingeschlagen; dort war nur noch ein Trümmerhaufen. Die verdeckten Leichen aus dem Keller lagen nebeneinander auf dem Bürgersteig bis ein Lastwagen sie einsammelte. Ich erzählte André Sergeff, dass ich in Bad Nauheim ein Zimmer gefunden hatte und meine Eltern in der Eschersheimer Landstraße untergekommen seien.

Nach einem schweren Tagesangriff wurde die Produktion eingestellt und wir durften nachsehen, ob unser Haus noch stand. André Sergeff lief dann mit mir zur Eschersheimer Landstraße – aber auf der anderen Straßenseite. Wenn er sah, dass das Haus, in dem meine Eltern in eine Mansarde bewohnten, nicht getroffen war, kehrte er um. Es war eine Übereinkunft ohne Worte.

Im Winter 1944/45 war es kalt in der Fabrik und durch die provisorisch reparierten Fabrikfenster, von Druckwellen der Bomben eingeschlagen, zog der Wind. Ich lamentierte an André Sergeffs Werkbank über den schon über 5 Jahre anhaltenden Krieg und die elenden Umstände. „Es wird bald vorbei sein,“ sagte er tröstend. „Diese Hoffnung habe ich nicht,“ antwortete ich. Er wisse es aber. Woher man das denn wissen könne? Er habe vor wenigen Tagen mit informierten Leuten darüber gesprochen. „Bitte nehmen Sie mich mit, wenn Sie sich das nächste Mal mit denen treffen,“ bat ich ihn. „Nein, ich kann Sie nicht mitnehmen.“ „Aber ich könnte doch einfach auch hingehen.“ „Das geht nicht,“ war sein endgültiger Bescheid. Kurz darauf bat er mich, ein kleines, in Papier eingerolltes Päckchen bis zum Kriegsende für ihn aufzuheben. Ich nahm es und gab ihm meine Nauheimer Adresse. Das Päckchen enthielt eine Nagelfeile und eine kleine Schere.

Der Krieg war in Frankfurt im März 1945 zu Ende, kurz nach meinem 23. Geburtstag. Einige Wochen danach kam André Sergeff nach Bad Nauheim. Ich war gerade dabei, meine Sachen zu packen; ich zog nach Frankfurt zurück. Wir begrüßten uns und ich holte das Päckchen. Das Wohnhaus der Franzosen in Frankfurt sei leer, erzählte er. Alle seien wieder zu Hause und auch er sei auf dem Heimweg. Dem Benedikt hätten sie eine Tracht Prügel verpasst. „Sie wussten doch,“ fuhr er fort, „dass ich in der Firma der Chef der Résistance gewesen bin?“ Nein, das hatte ich nicht gewusst. Ich hatte das Wort noch nie gehört, verstand es aber, denn résister heißt Widerstand leisten. Nazigegner nannte man „feige Mörder“, wenn man überhaupt über sie berichtete und ich hatte mich nicht gefragt, wie sie sich selbst nannten. „Ich bin gekommen,“ sagte André Sergeff, „um Ihnen zu bescheinigen, dass Sie kein Nazi gewesen sind.“ Und da sagte ich: „Danke, aber das ist nicht nötig. Alle, die mich kennen, wissen das.“ André Sergeff machte sich auf die Heimreise. Er hatte den letzten Teil seiner Aufgabe in Deutschland erfüllt.

Das habe ich später bedauert. Ich wäre stolz auf André Sergeffs geschriebenes Wort gewesen. Wenige Wochen nach Beendigung des Kriegs hatte ich keine Vorstellung davon, wie es in Deutschland weitergehen könnte und welcher Weg vor mir lag. Vor allem hatte ich noch nicht gewusst, dass die Konzentrationslager, von den Nazis als „Arbeitslager“ bezeichnet, in Wahrheit Vernichtungslager gewesen waren. Ich hatte die Pogromnacht in Frankfurt gesehen, war im Morgengrauen aufgewacht, als später die jüdische Familie aus unserem Haus geholt und in einem Lastwagen abtransportiert worden war, hatte gesehen, wie eine mormonische Familie und eine verwirrte alte Südtirolerin aus unserem Stockwerk abgeführt worden sind, wusste, dass Deutschland ein europäisches Land nach dem anderen überfallen hatte, kannte die propagandistische Kriegsberichterstattung, hatte in Frankfurter Kellern die Luftangriffe überlebt, vergeblich versucht, die Phosphorfeuer im Dachgeschoß zu löschen, dann meinen Bademantel in eine Bütte mit Wasser getaucht und übergestreift, mit meinem Vater Habseligkeiten aus der Wohnung geholt, bis die Holztreppen brannten, auch Glück gehabt, als ich in einem kleinen Vorortzug saß, den Tiefflieger mit Salven durchlöcherten. Ich wusste also, dass es immer noch schlimmer kommen konnte und dennoch hätte ich mir nicht vorstellen können, dass ich unter Menschen lebe, die einen Plan des millionenfachen Mords entwickeln und ausführen konnten.

Noch ein Erlebnis, das ich nie vergessen werde. Es muss am Dienstag, dem 8.Februar 1944 gewesen sein. Nach einer Liste der Luftangriffe auf Frankfurt, auf Befehl der amerikanischen Militärregierung unter dem Datum vom 22. Juni 1945 vom Frankfurter Polizeipräsidenten aufgestellt und fast 70 Jahre danach im Netz des Historischen Museums abgerufen, gab es an diesem Tag einen starken Tagesangriff von 250 Flugzeugen mit 1020 Sprengbomben und 2500 Brandbomben, vorwiegend auf Bockenheim.

Es war schon Routine. Nach dem dritten Sirenenalarm in kurz aufheulenden Intervallen beeilten sich auch die Letzten, in die Fabrikkeller zu kommen. Man suchte sich einen Platz, vorzugsweise an einer Mauer oder in einer Ecke. Ich war an diesem Tag unruhig, stand herum und wusste nicht wohin. Die meisten Sitze waren schon belegt. Die Franzosen waren in dem Raum, in den sie immer gingen. Man ließ sie dort unter sich. Ich stand unter der Mauerwölbung des Zugangs, doch keiner von ihnen machte eine einladende Handbewegung. So setzte ich mich auf den nächsten freien Platz zu den Deutschen. Die ersten Explosionen waren schon zu hören. Je näher sie kamen, desto stärker spürte man die Erschütterungen. Dann ging das Licht aus und das Inferno begann. Zwischen dem Zischen der Bomben vor dem Einschlag, dem Knall der Explosionen und den darauffolgenden Druckwellen hörte ich plötzlich Stimmen: Die Franzosen standen in der Mitte ihres Kellers und schmetterten die Marseillaise.

Ich wusste nicht, dass es die Marseillaise war. Erst Jahre später sah ich „Casablanca“ (Humphrey Bogart, Ingrid Bergman) und habe die Melodie wiedererkannt. Der Film ist zur Ikone geworden. Er spielt im Krieg und aus Rick’s Café in Casablanca wird mit der Marseillaise eine Gruppe deutscher Militärs vertrieben. Der Hollywoodfilm ist schon 1942 gedreht worden und hat eine Reihe von Macken. (Beispielsweise sind deutsche Truppen nie in Casablanca gewesen.) Im Frankreich stand er erst einige Jahre nach dem Krieg auf dem Spielplan.

Ich kann sagen, ich bin am 8. Februar 1944 im Keller von Schanzenbach & Co in Frankfurt am Main dabei gewesen. *)

*) „Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus, und ihr könnt sagen, ihr seid dabei gewesen.“ (Goethe nach der Kanonade von Valmy am 19.9.1792, in „Kampagne in Frankreich“)
m.s.
Januar 2013

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