Boykott der Unasur – Die konservative Demontage der politischen Integration Lateinamerikas

Frederico Füllgraf
Ein Artikel von Frederico Füllgraf

Am vergangenen 20. April beschlossen sechs der zwölf Staaten der Union der Südamerikanischen Nationen (Unasur), ihre Mitgliedschaft in der ersten Block-Organisation der südamerikanischen Geschichte ruhen zu lassen. Als Begründung für ihren Entschluss „vorübergehender Natur”, den man ungestraft als Boykott deuten darf, nannten Argentinien, Brasilien, Kolumbien, Chile, Peru und Paraguay in einer Erklärung an den amtierenden bolivianischen Pro-Tempore-Vorsitzenden der Unasur die angebliche Funktionsuntüchtigkeit der Organisation, mangelnden Konsens und ein fehlendes Generalsekretariat, das seit der Beendigung der Amtszeit des dritten Unasur-Generalsekretärs – dem ehemaligen kolumbianischen Präsidenten Ernesto Samper – im Jahr 2017 nicht besetzt wurde; eine Unterlassung Argentiniens unter der Regierung Mauricio Macris, aber kein Akt amtlicher Schludrigkeit, sondern planmäßiger, politischer Austrocknung, wie sich zeigen wird. Ein Bericht von Frederico Füllgraf.

Der Rückzug der relevantesten Staaten, die mehr als 70 Prozent der Bevölkerung und des südamerikanischen Bruttoinlandsproduktes (BIP) auf sich vereinen, bedeutet einen harten Schlag gegen den vor mehr als einem Jahrzehnt vorgegebenen Integrations-Kurs der damals tonangebenden Mitte-Links-Regierungen der Region. Der Boykott darf auch als geahnte, grenzüberschreitende Folge des parlamentarischen Putsches vom April 2016 gegen die demokratische Regierung Dilma Rousseff gedeutet werden, der als Ermutigung einer darauffolgenden konservativen Wende in Argentinien, Peru, Ecuador und zuletzt in Chile diente. Zurück bleibt eine Rumpf-Organisation, bestehend aus Venezuela, Ecuador, Uruguay, Guyana und Suriname und die Baustelle des ersten und ehrgeizigen Integrationsprojekts des südamerikanischen Großraums.

Bausteine dieser historischen Zusammenführung ohne die Vormundschaft des US-amerikanischen State Department und als alternativer Ersatzverbund der Organisation der Amerikanischen Staaten (OAS) als Washingtoner Kalter-Kriegs-Gründung waren die Stärkung der Souveränität demokratischer Länder, der Schutz der südamerikanischen Wirtschaft vor sogenannten „freien Handelsabkommen”, die Förderung des interregionalen und globalen Dialogs als Block-Organisation, die Installierung des ParlaSurs (dem südamerikanischen Parlament) mit Sitz im bolivianischen Cochabamba, ferner die ehrgeizigen Pläne der energietechnischen und -politischen Integration, der militärischen Integration und die Banco del Sur (Bank des Südens) als Finanzierungsinstanz der regionalen Entwicklungspolitik.

Damit ist nun angesichts der prekären Finanzen in den Unasur-Rumpfstaaten vorläufig Schluss. An Ihre Stelle tritt die „Normalisierung” der Akzeptanz parlamentarischer Staatsstreiche zur Durchsetzung neoliberaler Kontrollpolitik, der Abbau sämtlicher Sozialprogramme zur Stärkung der Arbeitsrechte, der Bekämpfung des Hungers, der sozialen Ungleichheit, mit der Wiederherstellung der US-hörigen Außen- und Militärpolitik.

Die Ursprünge der Unasur/l

Verschiedentlich wird von konservativen bis linken Medien behauptet, die Unasur (auf
Brasilianisch: Unasul) sei eine Initiative des verstorbenen venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez gewesen. Diese Behauptung ist falsch und verwechselt Chávez‘ Pionierrolle bei der Gründung der Gemeinschaft der zentralamerikanischen und Karibik-Staaten (Celac). Richtig ist vielmehr, dass die Idee eines autonomen, südamerikanischen Blocks seine Geburtsstunde 2004 in einem Gespräch zwischen dem Ex-Präsidenten Luis Inácio Lula da Silva und dem peronistischen, argentinischen Politiker Eduardo Duhalde hatte und das Ziel verfolgte, die 398 Millionen Südamerikaner, mit einem BIP von 4,4 Billionen Dollar, unter einem politischen Dach abseits der US-amerikanischen Hegemonie zusammenzuführen.

Zu Papier wurde die Idee gebracht, als die Präsidenten der zwölf Staaten Südamerikas auf dem 3. Südamerikanischen Gipfeltreffen in Cuzco (Peru) am 18. Dezember 2004 die Erklärung von Cuzco unterzeichneten, die die Bildung einer Gemeinschaft der Südamerikanischen Nationen beschloss – eine Initiative, die auf den darauffolgenden Gipfeln von Brasilia (September 2005) und Cochabamba (Dezember 2006) weitere Entwicklungsschritte erfuhr.

Auf dem Gipfel vom 17. April 2008, auf der Insel Margarita, wurde der Beschluss gefasst, die Gemeinschaft in eine „Union der südamerikanischen Nationen (Unasur)” umzubenennen. Der Gründungsvertrag wurde schließlich auf der außerordentlichen Sitzung der Staats- und Regierungschefs am 23. Mai 2008 in Brasília unterschrieben und trat mit der Wahl der ecuadorianischen Hauptstadt Quito als Sitz des Unasur-Generalsekretariats am 11. März 2011 in Kraft.

Nachdem der Rechtsausschuss der Vereinten Nationen einen Antrag auf Mitgliedschaft einstimmig angenommen hatte, erhielt die Organisation am 24. Oktober 2011 den Beobachterstatus auf der Generalversammlung der VN. Erster Generalsekretär der Organisation wurde der aktiv an deren Gründung beteiligte, ehemalige und im Jahr 2010 verstorbene Präsident Argentiniens, Nestor Kirchner, ihm folgten der Ecuadorianer Rodrigo Borja und später der ehemalige Präsident Kolumbiens, Ernesto Samper.

Von den Geburtsschäden zum „geschlossenen Krankenhaus”

Samper beendete vor mehr als eineinhalb Jahren seine zweijährige Amtszeit als von den Konservativen ungeliebter Unasur-Generalsekretär. In einem seiner jüngsten Interviews (“UNASUR en estos momentos es más que relevante”- Nachrichtenportal Nodal, 23.April 2018) verwies der Kolumbianer allerdings auf bürokratische Geburtsschäden der Organisation, die seit Jahren tatsächlich ihre Handlungsfähigkeit blockierten. „Seit mehr als zwölf Monaten leidet die Unasur unter einer passiven Krise, … die großen internen Schaden anrichtete und das ist die Anwendung der Konsens-Klausel, wonach keine Entscheidung getroffen werden kann, wenn nicht alle zwölf Mitgliedstaaten einverstanden sind”, beklagte Samper.

Es sei bereits schwierig gewesen, den Argentinier Néstor Kirchner ins Amt zu führen, es war unmöglich, den Ecuadorianer Rodrigo Borja zu benennen, und als Kolumbien und Venezuela keine Einigung erzielten, einigte man sich auf ein geteiltes Generalsekretärs-Mandat zwischen der Kolumbianerin María Ema Mejía und dem Venezolaner Ali Rodríguez. „Das ist der große Fluch von Unasur”, seufzte Samper, der trotz des Austritts der Gruppe von Lima nicht das Ende des Blocks, sondern mit diplomatisch geübter Vorsicht Zukunftsperspektiven mit der Einführung der einfachen Klausel der Mehrheitsbestimmung empfiehlt.

Hinter den Kulissen politische Intrigen für die Herrschaft des Marktes

Es ist wiederum kein Zufall, dass die “sechs Abtrünnigen” eine Art Kampfverband der sogenannten Gruppe von Lima bilden, die bereits im vergangenen Februar Maßnahmen gegen die Regierung Nicolás Maduro in Venezuela ausarbeiteten, die auf dem Gipfeltreffen der OAS vom vergangenen April in Lima mit dem plötzlich fehlenden Donald Trump abgesprochen und eventuell radikalisiert werden sollten. Maduro reagierte auf den Ausstieg der Gruppe von Lima mit den Worten, sie habe einen „Dolchstoß zur Ausblutung der Unasur” verübt, ermunterte jedoch gleichzeitig den zurzeit präsidierenden bolivianischen Staatschef Evo Morales dazu, die Organisation „gegen alle Widerstände” durch den Sturm zu führen.

Eine Führungsrolle als politischer Rädelsführer hinter den Kulissen hatte die gerade seit knapp drei Monaten amtierende, konservative chilenische Regierung Sebastián Piñeras. Deren Außenminister Roberto Ampuero – ein vormaliger DDR- und Kuba-Exilant während der Pinochet-Diktatur, der als früheres Mitglied der Kommunistischen Partei zum ultra-neoliberalen Prediger mutierte – erklärte den Austritt Chiles damit, die „Unasur führe zu nichts” (El canciller chileno afirma que la Unasur “no conduce a nada” – Nodal, 24. April 2018).

Ampuero, der trotz seiner literarischen Karriere nicht gerade für argumentative und sprachliche Brillanz berühmt ist, bediente sich einer Milchmädchenrechnung zur Begründung des chilenischen Austritts. Die 800.000 Dollar, die Chile jährlich für die Unasur ausgäbe, seien für die Katz´. Das könne die Regierung mit einem Mindestmaß an Respekt gegenüber den Bürgern nicht weiter vertreten.

Ampueros Ausgaben-Argument war nichts als vorgetäuschter Schmarrn. In Wirklichkeit intrigierte Chile seit 2017 gegen den bolivianischen Pro-Tempore-Vorsitz, nachdem die vor ihr amtierende konservative Macri-Regierung die Unasur mit programmierter Untätigkeit auf Eis laufen ließ. Ampuero hegt persönlichen Groll wegen der Klage Boliviens gegen Chile vor dem Internationalen Gerichtshof in den Hag für einen souveränen Zugang zum Meer.

Im Namen Chiles äußerte sich der Außenminister mit abfälligen Worten gegen die von den Unasur-Gründungsstatuten avisierte, grenzüberschreitende Mobilität seiner Bürger und die geplante großlateinamerikanische Staatsbürgerschaft, mit einem einheitlichen Pass. Was das Chile der Regierung Piñera einfordert, ist die Vorrangstellung des Marktes, die Freigabe des totalen Business.

Das Programm des Multimilliardärs Sebastián Piñera im Verbund mit dem argentinischen Multimillionär Mauricio Macri heißt: keine politische, soziale und kulturelle Integration, sondern Handel. Zum Beispiel mit der Stärkung des bestehenden Freihandelsabkommens der Pazifischen Allianz. Doch nicht zufällig macht sich Piñera auch als Drahtzieher der Wiederbelebung des von Donald Trump Anfang 2017 beerdigten Transpazifischen Partnerschaftsvertrages (TPP) stark.

Den liberalen Wirtschaftskurs ergänzte Chiles ultraliberale Rechte mit ihrem Freiheits-Diskurs zum Schutz der konservativen venezolanischen Opposition und der Demokratie, die sie von der „Maduro-Diktatur” bedroht sieht; weshalb seit Piñeras Amtsantritt im März 2018 zigtausende Anti-Maduro-Venezolaner in Chile aufgenommen wurden, darunter ehemalige Mitglieder des Obersten Gerichtshofs.

Die restaurative Wende

„Wer hätte sich bei der Unasur-Gründung vorstellen können, dass 10 Jahre später der brasilianische Präsident Luis Inacio Lula da Silva der Demolierung des Blocks hilflos aus dem Gefängnis zusehen würde, nachdem seine Nachfolgerin Dilma Rousseff aus dem Präsidenten-Amt wegen angeblicher Verletzung der Haushaltsregeln gejagt wurde. Fakt ist, dass ihre Amtsenthebung vielerseits als echter Staatsstreich bezeichnet wird”, beklagte der spanische Kolumnist Jesús Villegas (La Unasur se rompe por la mitad – Público, 24. April 2018) mit Verweis auf die konservative Wende in Lateinamerika.
„Die Bedeutung der Unasur ist gegenwärtig relevanter denn je”, warnt Ernesto Samper. Man solle sich die Mühe machen und die Rolle verstehen, die der Block gerade jetzt spielen könnte, wo die Region vor großen Herausforderungen steht, die die Außenpolitik Donald Trumps Lateinamerika aufbürdet.

Die Unasur müsste jetzt Widerstand leisten gegen die Verfolgung der Latino-Migranten, gegen den Bau der Mauer zu Mexiko sowie gegen den Rückzieher der USA, ihren Verpflichtungen in Bezug auf den Klimawandel nachzukommen. Mit dem Anstieg der Durchschnittstemperaturen wird Lateinamerika gegenwärtig hart betroffen von der globalen Erwärmung und ist auf verbindliche Partnerschaften angewiesen. Es muss sich obendrein hart verteidigen gegen die protektionistischen Maßnahmen der Trump-Administration, die den Zugang zum US-Markt erschweren, ermahnt Samper und bezeichnet den zum Stillstand gezwungenen Unasur-Block als „vorübergehend geschlossenes Krankenhaus”.

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