Ich selbst könnte Nowitschok herstellen

Jakob Reimann
Ein Artikel von Jakob Reimann

Am Montag wurde der Leiter des tschechischen militärischen Forschungsinstituts in Brno gefeuert – auf Anweisung der Verteidigungsministerin Karla Šlechtová höchstpersönlich. Der entlassene Bohuslav Šafář hatte zuvor ausgesagt, dass das tschechische Militär in geringen Mengen Nowitschok herstellte und damit die Erklärung des tschechischen Präsidenten Milos Zeman bestätigt. Gestern meldete dann auch noch das Investigativteam der Süddeutschen, dass auch der BND in den 90-ern im Besitz von Nowitschok war. Diese jüngsten Entwicklungen im Fall Skripal – der zum folgenreichsten Zerwürfnis zwischen dem Westen und Russland seit den Ereignissen auf der Krim 2014 eskalierte – illustrieren exemplarisch, dass die zentrale Frage nach der Herkunft des Nowitschok bis heute ungeklärt ist. Von Jakob Reimann[*].

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Der OPCW-Bericht

Im April veröffentlichte die Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) – die von UN-Generalsekretär António Guterres beauftragt wurde, den Salisbury-Giftanschlag zu untersuchen – die Zusammenfassung ihrer Untersuchungen. Der OPCW-Bericht legt zunächst einige technische Einzelheiten der Untersuchungen dar und „bestätigt“ unter Punkt 10. schließlich „die Ergebnisse des Vereinigten Königreichs bezüglich der Identität der giftigen Chemikalie, die in Salisbury verwendet wurde und drei Menschen schwer verletzte.“ Die britische Regierung identifizierte im Vorfeld Nowitschok als eingesetztes Nervengift, was damit von der OPCW bestätigt wurde – ohne jedoch explizit den Namen der Substanz zu nennen.

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Die deutsche Medienlandschaft – von Spiegel über FAZ, Süddeutsche bis BILD und Welt – kolportierte daraufhin mit nur wenigen Ausnahmen die Fake News, die Herkunft des Nowitschok, nämlich Russland, sei durch den OPCW-Bericht nun bestätigt, obwohl dieser kein einziges Wort über die Herkunft des Nervengifts verliert, wie die NachDenkSeiten hier und hier akribisch dokumentierten. Dann wurde es ruhig um Nowitschok und die Skripals.

Ein staatlicher Akteur als Täter

Unter Punkt 11 stellt der OPCW-Bericht fest, „dass die toxische Chemikalie von hoher Reinheit ist“, was „aus der nahezu vollständigen Abwesenheit von Verunreinigungen geschlossen wird.“ Der letzte Punkt macht die Ermittlung der tatsächlichen Herkunft des Nowitschok besonders problematisch, da ein bestimmtes analytisch bestimmbares Profil von Verunreinigungen Rückschlüsse auf die eingesetzten Ausgangschemikalien, die verwendete Synthesestrategie sowie den Syntheseprozess selbst zulässt – und damit Rückschlüsse auf den Produzenten.

Die Abwesenheit von Verunreinigungen, die hohe chemische Reinheit des Gifts also, wird von der britischen Regierung – nicht jedoch von den Wissenschaftlern der OPCW – dahingehend ausgelegt, dass es sich beim Produzenten des Nowitschok um einen staatlichen Akteur handeln muss, was schlicht ein logischer Fehlschluss und damit irreführend ist: Als wären die besten Wissenschaftler und die bestausgestatteten Labore der Welt an staatlichen Einrichtungen und nicht etwa in Händen von BASF, Dow und Monsanto, oder an privaten Forschungseinrichtungen wie Oxford, Harvard oder dem MIT zu finden.

Nowitschok ist keine einzelne chemische Substanz, sondern eine Substanzklasse, zu der verschiedene Modifikationen gehören, die alle dasselbe molekulare Grundgerüst besitzen – eine sogenannte Guanidin-Organophosphat-Struktur –, an das unterschiedliche Seitenketten angehängt sind. Es ist bekannt, dass einige Nowitschok-Vertreter bis zu zehnmal tödlicher sind als chemisch ähnliche vom Westen entwickelte Nervengifte wie etwa Soman (Deutschland) oder VX (Großbritannien).

Darüber hinaus wissen wir relativ wenig über Nowitschok, die Weltöffentlichkeit wurde lange Zeit im Dunkeln gelassen – allen voran mangelte es über Jahrzehnte an Kenntnissen über die genauen chemischen Formeln und die Synthese des Nervengifts: „Informationen über diese Verbindungen waren dürftig in der öffentlichen Literatur,“ schrieb noch im Jahre 2016 der britische Chemiker Robin Black, der im staatlichen Chemiewaffenlabor Großbritanniens in Porton Down arbeitete (welches sich nebenbei bemerkt in unmittelbarer Nähe des Skripal-Tatorts in Salisbury befindet). Einer der Nowitschok-Entwickler, Wil Mirsajanow, veröffentlichte zwar in seiner Autobiographie 2008 einige Nowitschok-Strukturformeln, doch existieren auch andere, Mirsajanow widersprechende Angaben, weshalb Infos dazu generell mit gewissen Unsicherheiten behaftet sind. „Keine unabhängige Bestätigung der Strukturen oder der Eigenschaften dieser Verbindungen wurde veröffentlicht“, meint Robin Black daher weiter.

Aufgrund der außerhalb Russlands vermeintlich nicht sicher bekannten Strukturen schloss London: Es muss Moskau gewesen sein. Doch es bleibt ein offenkundiger Logikfehler bar jeder Vernunft: London unterstellt eine zwingende personelle Kausalität zwischen der Entwicklung einer Waffe und der mutmaßlichen Täterschaft eines mit dieser Waffe durchgeführten Verbrechens. Würde ernsthaft jemand die Täterschaft des grauenhaften Sarin-Angriffs im syrischen Ghouta im August 2013 der deutschen Bundesregierung zuschreiben, weil Sarin schließlich in den 1930-ern in deutschen Nazi-Laboren entwickelt wurde? Welcher Akteur einen Kampfstoff ursprünglich entwickelt hat, kann gewiss ein Indiz für eine Täterschaft eines Verbrechens sein, doch nur ein Narr würde behaupten, es handle sich um einen Beweis.

Der Autor dieses Textes könnte Nowitschok synthetisieren

2016 machte sich ein Team iranischer Wissenschaftler daran, im Mikromaßstab einige Nowitschok-Verbindungen im Labor zu synthetisieren und mit Gas- und Flüssigkeitschromatographie gekoppelter Massenspektrometrie – zwei Standardverfahren der chemischen Analytik – zu analysieren und zu kategorisieren. Zum sicheren Nachweis von Substanzen in unbekannten Stoffgemischen – wie den Proben des Salisbury-Anschlags – bedarf es möglichst umfangreicher Datenbanken von Referenzsubstanzen, um die entsprechenden Daten abgleichen zu können. Auf dem Gebiet der Chemiewaffen werden diese Datenbanken von der OPCW gepflegt und die Nowitschok-Daten der iranischen Forscher wurden dankend in die OPCW-Datenbank übernommen – aller Wahrscheinlichkeit nach wurden die Ergebnisse der Iraner also sowohl von der britischen Regierung als auch der OPCW als Referenz für die Untersuchung der Salisbury-Proben herangezogen.

Es sei an dieser Stelle angemerkt, dass ich selbst studierter Chemiker bin, meine Bachelorarbeit im Fachbereich organischer Synthese absolvierte und meine Masterarbeit im Bereich der biochemischen Analytik bioaktiver Moleküle. Ich habe die Arbeit der iranischen Wissenschaftler – die öffentlich zugänglich ist – aufmerksam gelesen.

Die Herstellung der Nowitschoks ist relativ überschaubar und umfasst nur zwei Reaktionsstufen (in meinem Bachelorarbeitsprojekt arbeitete ich an einer Synthese, die 20 Stufen umfasst). Die Ausgangsmaterialien und Reagenzien sind relativ leicht zu handeln und billig zu erwerben, mit vielen habe ich selbst im Labor gearbeitet. „Die Grundstoffe kriegt man in jeder Chemiehandlung“, sagt daher auch Wladimir Ugljow, einer der sowjetischen Chemiker, die Nowitschok in den 1970-ern entwickelten, im Interview mit dem Spiegel. Die Iraner erhielten ihre Chemikalien zur Nowitschok-Herstellung von zwei deutschen sowie einem US-Chemikalienhändler.

Ich will hier die Nowitschok-Herstellung keineswegs trivialisieren: sie ist ohne Wenn und Aber lebensgefährlich! Anders als bei weniger tödlichen Giften wie beispielsweise Senfgas ist es daher ausgeschlossen, dass etwa Al-Qaida-Terroristen in halb ausgebombten Kellerlaboren in Syrien Nowitschok zusammenkochen oder Alt-Right-Nazis im Breaking-Bad-Style in einem Crystal-Meth-Labor in der Wüste New Mexicos – es bedarf zweifelsohne professionell ausgebildeter Chemiker sowie eines gut ausgestatteten Labors mit hohen Sicherheitsstandards. Die iranischen Wissenschaftler synthetisierten ihre Nowitschok-Verbindungen in einem Laborabzug – ähnlich der Art, wie wir ihn alle aus dem Chemieunterricht kennen – der mit einem speziellen Aktivkohle-Filtersystem nachgerüstet wurde. Die maximal potenten Nowitschok-Vertreter, wie sie wahrscheinlich in Salisbury eingesetzt wurden, sollten hingegen in einer sogenannten Glovebox hergestellt werden: einem luftdichten Metallkasten, in dem mithilfe integrierter Butyl-Handschuhe sicher von außen gearbeitet wird. Eine Glovebox ist zwar relativ teuer, findet sich jedoch in den meisten gut ausgestatteten Chemielaboren dieser Welt.

Es wird oft behauptet, für den Salisbury-Anschlag gäbe es nur zwei mögliche Erklärungen: Entweder wurde er mit geheimen Nowitschok-Beständen vom Kreml selbst ausgeführt oder Russland habe „die Kontrolle über seine Bestände verloren“ und das Nowitschok wurde von einer Drittpartei entwendet und Kreml-unabhängig eingesetzt. Leonid Rink, einer der russischen Wissenschaftler, die am Nowitschok-Programm arbeiteten, gab in den 1990-ern unter Drohungen gegen seine Familie nachweislich mehrere Fläschchen des Giftes an mindestens zwei Personen weiter, einer davon mit Kontakten zur lettischen Mafia. Jedes Fläschchen mit gerade einmal 0,25g Nowitschok entspricht rund 100 tödlichen Dosen, die bei entsprechender Lagerung auch 20 Jahre später noch töten – und an den Meistbietenden weiterverkauft werden – könnten.

Eine weitere Möglichkeit scheint Medienexperten, Politikern und Kommentatoren nicht in den Sinn zu kommen: Das in Salisbury eingesetzte Nowitschok hätte problemlos in einem Chemielabor irgendwo auf der Welt produziert werden können – von wem, wo und warum auch immer. Das tschechische Militär hat es 2017 synthetisiert, ebenso iranische Wissenschaftler im Jahr zuvor, die ihre Ergebnisse allgemeinzugänglich in einem wissenschaftlichen Journal veröffentlichten, mit höchster chemischer Reinheit wie beim Salisbury-Anschlag. Labore wie jenes in Teheran oder Brno – mit der nötigen Ausrüstung, Zugang zu Chemikalien, Knowhow und dringend gebotenen Sicherheitsstandards – gibt es Tausende auf der Welt, Zehntausende, Hunderttausende, geheime wie öffentliche, private wie staatliche. Ich selbst könnte Nowitschok in Salisbury-Reinheit herstellen.

Die Schlussfolgerungen der britischen Regierung entbehren jeder wissenschaftlichen Grundlage, sind damit höchst unseriös und dienen einzig dem Zweck der Dämonisierung Russlands. Ich bestreite nicht, dass Moskau hinter dem Salisbury-Attentat stecken könnte – ja dass gar Putin höchstpersönlich den Befehl dazu gegeben haben könnte. Auch wenn es mir persönlich im höchsten Maße unplausibel erscheint, mag es nach einer neuaufgelegten bizarren Kalter-Krieger-Logik aus Täuschung und psychologischer Kriegsführung plausible Szenarien einer russischen Täterschaft geben – so wie es bei Weitem plausiblere Szenarien einer Täterschaft jener Akteure gibt, deren lange Vergangenheit von Kriegseintrittslügen wohl dokumentiert ist.

Wer als Staatenlenker rechtsstaatlicher Demokratien das Regierungshandeln hingegen auf ideologisch getränkte, vermeintliche Plausibilitäten gründet, ohne objektiv überprüfbare Beweise vorzulegen, verlässt den Weg des Rechtsstaats und begibt sich auf den Pfad der Tyrannei.


[«*] Jakob Reimann bloggt auf JusticeNow! Er hat im Sommer 2014 sein Masterstudium in Biochemie in Dresden absolviert und arbeitet mittlerweile an der naturwissenschaftlichen Fakultät der An-Najah National University in Nablus, Palästina. Er forscht über die Auswirkungen chemischer Industrieanlagen auf Umwelt und Gesundheit der Menschen in der Westbank. Er ist zudem freiwillig für die Flüchtlingsorganisation PICUM tätig.

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