„Süddeutsche Zeitung“ trennt sich wegen „Antisemitismus“ von Zeichner – ein Plädoyer gegen das Anfachen der Empfindlichkeiten

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Die „Süddeutsche Zeitung” hat sich wegen einer Karikatur des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu von ihrem langjährigen Zeichner Dieter Hanitzsch getrennt. Die Karikatur bediene antisemitische Klischees, sie hätte auch im Nazi-Blatt „Stürmer“ erscheinen können, waren laut Hanitzsch die Vorwürfe in der Redaktion. Der Vorgang wirft ein Licht auf den beliebigen Umgang mit der künstlerischen Freiheit: Der Vorwurf, es sei durch ein Kunstwerk eine inhaltliche rote Linie überschritten worden, wird selektiv und dadurch zur politisch-ästhetischen Indoktrination eingesetzt. Außerdem reizt die Affäre zu der Frage, ob es klug ist, Empfindlichkeiten einzelner gesellschaftlicher Gruppen in dem Maße zusätzlich anzustacheln, wie es in jüngster Vergangenheit zu beobachten war. Von Tobias Riegel.

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Dem Antisemitismus sollte streng entgegengetreten werden. Man kann die aus der deutschen Geschichte erwachsene besondere Sensibilität bei diesem Thema nicht nur nachvollziehen, sondern als sehr positiv empfinden. Dass sich durch diese erhöhte Aufmerksamkeit gegenüber dem Antisemitismus andere – möglicherweise real stärker diskriminierte – Minderheiten zurückgesetzt fühlen, ist ein Problem, das sich aber durch den Verweis auf die deutsche Geschichte beilegen lässt. Dies aber nur, solange ein gewisses Maß dieser „Ungleichbehandlung“ nicht überschritten wird. Angesichts von geballten Medienkampagnen und Demonstrationen und „Kultur-Aufständen“ gegen Antisemitismus konnte einen aber in den vergangenen Monaten das Gefühl beschleichen, dass Teile von Politik und Medien bei dem Thema diese Balance etwas aus den Augen verloren haben – so wie nun die Leitung der „Süddeutschen Zeitung“.

Betrachtet man die Ungleichbehandlung verschiedener „satirischer“ Interventionen, so wird klar, dass es (zum Glück) keine klaren Kriterien gibt, nach denen grenzwertige, möglicherweise beleidigende Kunst als noch legitim oder zum Beispiel als volksverhetzend eingeordnet wird. Denn während die Antennen der meisten deutschen Journalisten und Politiker gegenüber „antisemitischen“ Aussagen oder Bildern permanent in höchster Alarmbereitschaft sind, werden die Kollegen von der Satire-Zeitschrift „Charlie Hebdo“, die etwa üble Darstellungen eines in einer mit Blut gefüllten Badewanne sitzenden Mohamed verbreiteten, vom selben Personal als „Kämpfer für die Pressefreiheit“ gefeiert. Die Vermutung liegt nahe, dass die grob islamfeindlichen Beiträge von „Charlie Hebdo“ darum mit größerer Gelassenheit aufgenommen wurden, weil sie sich nahtlos in die Propaganda für die jüngsten Kriege im Nahen Osten eingefügt hatten. Durch einen solch selektiven und moralischen Umgang mit der Kunstfreiheit wird auch Geopolitik gemacht.

Was ist Satire, was ist bösartige Agitation?

Da die Kriterien unklar und die Grenzen zwischen Satire und bösartiger Agitation fließend sind, wird der Rahmen des Erlaubten durch jene festgelegt, die die größte publizistische Macht haben. Sind die betreffenden Inhalte jedoch, wie Hanitzschs Karikatur, eindeutig nicht justiziabel, können sich die Moralwächter dabei weder auf Gesetze, noch auf einen gesellschaftlichen Konsens stützen. Darum haftet den (moralischen) Entscheidungen, was nun die rote Linie überschritten hat und was nicht, immer etwas Selbstherrliches an.

Und sollte man dem Künstler nicht glauben, was er zu seinem Werk sagt? Etwa zu dem Vorwurf, Hanitzsch stelle Israel „wieder als Aggressor dar“:

„Man kann in jede Darstellung, ob es sich um eine Karikatur oder das Bild eines klassischen Malers handelt, immer alles hineininterpretieren. Ich habe das so nicht gemeint.“ Oder zum Vorwurf der „antisemitischen“ äußeren Darstellung Netanjahus: „Einen Netanjahu zu karikieren heißt, ihn nicht schöner zu machen als er ist. Das ist der Sinn der Karikatur. Sie soll verzerren. Schauen Sie sich doch mal an, wie andere Kollegen auf der ganzen Welt den Herrn interpretieren. Frau Merkel wird es nebenbei bemerkt auch nicht lustig finden, wie ich sie zeichne.“

Oder sollte man solche Äußerungen, wie die Leitung der „Süddeutschen Zeitung“ es scheinbar sieht, als Camouflage für verdeckten Antisemitismus interpretieren?

Schutz einer Minderheit oder Heuchelei?

Wenn die oben beschriebene – durch die deutsche Geschichte gerechtfertigte – „Ungleichbehandlung“ des Antisemitismus ein bestimmtes Maß überschreitet, wird sie zur Heuchelei. Und dann kann man die „Süddeutsche Zeitung“ durchaus fragen, warum die Beleidigung des türkischen Staatschefs Recep Tayyip Erdogan als „Ziegenficker“ ein Beitrag zur „Kunstfreiheit“ sein soll, die Darstellung Netanjahus mit großen Ohren aber ein schweres Delikt. Oder man könnte Außenminister Heiko Maas fragen, warum er sich höchst emotional zu einem Fall äußert, bei dem ein jüdisches Mädchen an einer Berliner Schule gemobbt worden sein soll, wenn er sich gleichzeitig (als Außenminister) noch nie zum täglichen Schul-Mobbing gegen andere Minderheiten geäußert hat.

Hier soll keineswegs die gleiche Strenge gegen islamfeindliche Karikaturen gefordert werden, die gegen „antisemitische“ Werke praktiziert wird. Im Gegenteil – alle sollen ihr Fett wegbekommen. Und: Mehr Gelassenheit auf allen Seiten ist gefragt. Wäre es nicht an der Zeit, die extremen Empfindlichkeiten, die vielen gesellschaftlichen Gruppen hierzulande medial anerzogen wurden, behutsam wieder zurückzufahren? Justiziable Äußerungen gegen Juden oder andere Minderheiten müssen streng geahndet werden. Aber abgesehen davon: Das hysterische mediale Eintreten gegen jede verbale oder künstlerische „Entgleisung“ kann sich in ihrer Wirkung auch verkehren – die Hypersensibilität bedeutet dann keinen Schutz mehr für die betroffene Gruppe, sondern das Gegenteil: Wenn Worte übermäßig aufgeladen werden, verschlimmert das auch die Verletzung bei den Betroffenen, wenn diese Worte gebraucht werden.