Thilo Weichert: „Es geht um das Schüren von Bedrohungsgefühlen“

Ein Artikel von Marcus Klöckner
Thilo Weichert

Aufrüstung in Bayern: Der Einsatz von Drohnen, DNA-Analysen zur Erstellung eines „genetischen Phantombilds“, Bodycams und andere weitreichende Befugnisse zur Überwachung der Bürger finden sich in dem gerade vom bayerischen Parlament abgesegneten Polizeiaufgabengesetz (PAG). Thilo Weichert, der langjährige Datenschutzbeauftragte Schleswig-Holsteins, lässt an dem neuen Gesetz kein gutes Haar. Gegenüber den NachDenkSeiten sagt Weichert, die CSU-Politik kenne „keine rechtsstaatlichen Skrupel“. Ein NachDenkSeiten-Interview mit dem Vorstandsmitglied der Deutschen Vereinigung für Datenschutz über die Gefahren, die das PAG mit sich bringt.
Ein Interview von Marcus Klöckner.

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In Bayern hat das Parlament gerade das neue Polizeiaufgabengesetz beschlossen. Die Bezeichnung klingt zunächst erstmal etwas aufgebläht und viele können sich darunter wahrscheinlich nicht so viel vorstellen. Was ist darunter zu verstehen?

Das Polizeiaufgabengesetz, das PAG, regelt nicht nur die Aufgaben, sondern auch die Befugnisse der Polizei in Bayern. Der Freistaat war insofern schon immer sehr freigiebig, doch jetzt gab das Parlament den „Gesetzeshütern“ einen gewaltigen weiteren Schluck aus der „Befugnisflasche“: Ausweitungen bei der Telekommunikationsüberwachung, beim Einsatz von V-Personen und verdeckten Ermittlern, bei der Videoüberwachung. Neu eingeführt werden die Erlaubnis von Bodycams, die automatisierte Video- und Ton-Mustererkennung, die Durchsuchung von Cloud-Speichern, der Staatstrojaner, der Einsatz von Drohnen sowie DNA-Analysen zur Identifizierung und zur Erstellung eines „genetischen Phantombilds“. Nicht zuletzt: Die Befugnis zum Einsatz von militärischen Waffen wie zum Beispiel Handgranaten. Viele der informationellen Befugnisse können schon bei einer „drohenden Gefahr“ zum Einsatz kommen, also wenn die Polizei bloß mutmaßt, eine Gefahr könnte entstehen.

Das klingt ziemlich umfassend. Was passiert da gerade in Bayern?

Wir haben es hier politisch wie rechtlich mit komplexen Vorgängen zu tun.

Nämlich?

Politisch: Die CSU will mit Law-and-Order-Politik für die Landtagswahl im Herbst der AfD das Wasser abgraben und macht deren Politik unter dem Zeichen des christsozialen Kreuzes. Wir leben aber nicht mehr im Bayern der 60er oder der 90er Jahre. Es gibt eine politische Opposition quer durch alle Regionen, Altersgruppen und sozialen Schichten, die das PAG zum Anlass nehmen, sich aktiv zur Wehr zu setzen. Ministerpräsident Söder und Innenminister Herrmann und viele etablierte Politiker und Funktionäre reagieren aufgeschreckt und kündigen an, Polizisten zur Aufklärung über das PAG an Schulen zu schicken, wollen eine Umsetzungsbegleitkommission einrichten, diffamieren aber zugleich die Kritik am PAG als „Lügenpropaganda“, bedrohen die Kritiker und schwingen mit der Extremismuskeule. Es ist klar, dass diese Reaktionen die Kritiker in ihrem Widerstand bestärkt. Es findet in Bayern derzeit ein Kulturkampf statt, der massive Auswirkungen auf das politische Denken der Menschen haben kann.

Und rechtlich?

Juristisch sind die Abläufe ähnlich komplex. Anlass für das Gesetz ist der Datenschutz. Das Bundesverfassungsgericht hat mit seinem Urteil zum BKA-Gesetz und der europäische Gesetzgeber hat mit einer Richtlinie für Polizei und Justiz zwingend Nachbesserungen der bisherigen Rechtslage gefordert. Dies wurde von der Staatsregierung zum Anlass genommen, völlig neue Befugnisse einzuführen. Dabei werden die rechtlichen Vorgaben aus Europa und der Rechtsprechung weitgehend ignoriert. Mit der neuen Eingriffsschwelle der „drohenden Gefahr“ betritt Bayern im Polizeirecht das Terrain eines Präventivrechts, bei dem hoheitliche Sicherheit vor demokratische Freiheit gestellt wird. Dies ist wiederum Vorbild für andere Bundesländer und Blaupause für den neuen Bundesinnenminister Horst Seehofer. Verfassungsklagen sind angekündigt. Es wird also eine neue Runde angestoßen, die das Bundesverfassungsgericht, den bayerischen Verfassungsgerichtshof und voraussichtlich irgendwann einmal den Europäischen Gerichtshof erreichen wird.

Nun lässt sich sagen: Ein Staat braucht Instrumente, um gegen schwere Verbrechen vorzugehen, Stichwort: Terroranschläge. Dass hier Ermittlungsbehörden Möglichkeiten ausschöpfen wollen, um beispielsweise Anschläge zu verhindern, lässt sich nachvollziehen, oder?

Im BKA-Urteil erwähnte das Bundesverfassungsgericht zutreffend, dass bei drohenden Terrorismusgefahren sicherheitsbehördliche Befugnisse schon im Vorfeld einer Gefahr zulässig sein können. Daraus leitete der bayerische Gesetzgeber ab, dass dies auch zum Schutz „erheblicher Rechtsgüter“ gelten könne, selbst bei Risiken für Sachwerte. Im Gefahrenvorfeld dürfen schon bisher Geheimdienste agieren, doch muss gegenüber der direkten Zwang einsetzenden Polizei ein Filter bestehen bleiben. Dieser wird jetzt weiter abgebaut; die Grenzen verfließen.

Terrorismusbekämpfung wird seit Jahrzehnten als Argument zur Ausweitung hoheitlicher Befugnisse verwendet. Neu in der bayerischen Argumentation ist, dass die Staatsregierung versucht, eine Brücke zwischen der Angst vor Terror zu ganz individuellen Bedrohungen – im Alltag auf der Straße und gar in der Familie – zu schlagen. Es geht um das Schüren von Bedrohungsgefühlen. Die CSU erklärt, diese selbst geschürten Gefühle sehr ernst zu nehmen. Eine Ironie im Ablauf der Ereignisse liegt darin, dass Seehofer die jüngste Sicherheitsstatistik veröffentlichen musste, die aufzeigt, dass es derzeit weniger Straftaten denn je gibt – und das ohne all die neuen PAG-Befugnisse.

Wird Terrorismus, oder vielleicht besser: die Angst der Bürger davor, als eine Art Hebel benutzt, Gesetze durchzudrücken, die aus demokratischer Sicht hochproblematisch sind?

Das Sicherheitsbedürfnis der Menschen ist schon immer ein Türöffner für autoritäre undemokratische Tendenzen gewesen. Damit agierten die Nationalsozialisten in den 30er Jahren; damit machen Populisten in den USA und auch in Europa erfolgreich Politik. Dabei werden rechtsstaatliche Instrumente geschleift: die Unabhängigkeit der Justiz, die Meinungsfreiheit, die Gewaltenteilung, die Neutralität der Staatsgewalt. Eine neue Dimension erhält die Bedrohung unseres demokratischen Systems durch das Internet als Massen-Kommunikationsmittel, womit die Gefühle von Menschen weitgehend ungefiltert und unkontrolliert manipuliert werden können.

Sie haben ja schon angeführt, was das bayerische Polizeiaufgabengesetz nun mit sich bringt. Können Sie einige der gravierendsten Eingriffe etwas genauer ausführen?

Das Problem dieses Gesetzes besteht darin, dass es keine gravierendsten Eingriffe gibt; alles ist gravierend und erst recht in der Gesamtheit. Es gibt aber neben den klassischen modernen Instrumenten der Telekommunikationsüberwachung und der Datenbeschlagnahme einige neue Befugnisse, die bisher noch wenig erörtert wurden und neue Überwachungsdimensionen eröffnen: Mit der – in allerletzter Sekunde etwas relativierten – Mustererkennung soll die Polizei künftig Gefahren per Sensor, Kamera oder Mikrophon registrieren und per Computer mitgeteilt bekommen. Computer sollen also gerade dort, wo alle Menschen betroffen sind, zum Beispiel im öffentlichen Raum, die Polizeibeamten entlasten. Dass dies zu Fehlalarmen und Falschbeschuldigungen führen wird, ist absehbar.

Per Drohnen soll Überwachung künftig verstärkt aus der Luft zulässig sein. Da Drohnen in der Luft kaum erkannt werden können und damit der öffentliche Raum flächendeckend kontrolliert werden kann, wird im Wortsinn eine neue Überwachungsdimension hinzugefügt. Ähnliches gilt für die Zulassung von Genanalysen, der sog. DNA-Phänotypisierung, für die damit geworben wird, dass diese es ermöglichen würde, per Genetik Fahndungsfotos erstellen zu können. Diese Propaganda ist wissenschaftlich nicht haltbar, zugleich aber hochgefährlich, weil damit ohne jegliche Sicherungen die Pforte zur polizeilichen Genanalyse geöffnet wird. Aus unseren Genen lässt sich Höchstpersönliches ableiten, etwa Dispositionen für Krankheiten oder für Charaktereigenschaften.

Was bedeutet das Gesetz für den einzelnen Bürger noch?

Neben den individuellen Risiken, unverschuldet in die informationellen und möglicherweise in die erzwingenden Fänge der Polizei zu geraten, nur weil man die falschen Merkmale hat oder weil man zur falschen Zeit am falschen Ort war, sehe ich die noch viel größere Gefahr, dass hier ein hoheitliches, scheinbar wissenschaftliches Instrumentarium geschaffen wird, um ganze Gruppen von Menschen zu diskriminieren. Es ist absehbar, dass davon nicht weiße, blonde und blauäugige Normalos erfasst werden, sondern Menschen mit abweichendem Aussehen, Verhalten und politischen Überzeugungen.

Wo sehen Sie noch Probleme?

Die größte Gefahr sehe ich darin, dass ein gesellschaftliches Klima entsteht, in dem abweichende Meinungen, fremdes Aussehen und ungewohnte Lebensweisen ausgegrenzt werden. Damit wird der Kern unserer pluralistischen demokratischen Gesellschaft bedroht.

Das, was Sie aufzählen, ist ziemlich weitreichend.
Wie bewerten Sie denn den rechtlichen Rahmen? Ist dieses Polizeiaufgabengesetz überhaupt in Einklang mit unserer Verfassung zu bringen?

Europarechtler und Verfassungsjuristen sind sich weitgehend einig, dass das PAG in vieler Hinsicht gegen höheres Recht verstößt, gegen die Europäische Grundrechtecharta und gegen unser Grundgesetz. Es gibt inzwischen eine weitgehend gefestigte Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, des EuGH, und des Bundesverfassungsgerichts, die unter Verweis auf die Grundrechte, etwa das Grundrecht auf Datenschutz, viele Regelungen aufhebbar machen. Selbst der Bayerische Verfassungsgerichtshof, der der Staatsregierung schon Einiges durchgehen ließ, dürfte hier nicht mehr mitmachen.

Wie sieht es aus, wenn man dem bayerischen Polizeiaufgabengesetz mit EU-Recht bzw. EU-Vorgaben begegnet?

Der EuGH kommt voraussichtlich erst ins Spiel, wenn sich nationale Gerichte mit dem PAG beschäftigt haben und er dann zum Beispiel über eine gerichtliche Vorlage mit einzelnen Aspekten befasst wird. Das Grundrecht auf Datenschutz ist in der Europäischen Grundrechtecharta ausdrücklich gewährleistet. Diskriminierungsverbote sind dort erheblich präziser als im Grundgesetz formuliert. Der Anspruch auf Rechtsschutz gegen hoheitliche Übergriffe gilt dort ebenso wie im Grundgesetz. Das Europarecht ist also eine zusätzliche rechtsstaatliche Absicherung, dass das PAG langfristig keinen Bestand hat. Bis zu einer EuGH-Entscheidung kann es aber Jahre dauern, während der das Gesetz zur Anwendung kommt.

Aber wenn Sie so massive Bedenken auf der rechtlichen Ebene anmelden, wie kann es dann sein, dass überhaupt dieses Gesetz beschlossen wurde? In Bayern gibt es doch auch Rechtsexperten.

Die bayerischen Ministerialbeamten wissen genau, was sie da zusammengebraut haben. Die Ausrichtung dieses Gebräus wurde ihnen von der CSU-Politik vorgegeben. Diese kennt keine rechtsstaatlichen Skrupel, wohl aber hat sie Angst vor der nächsten Landtagswahl. Die Rechtsexperten der Regierung müssen das verfassungswidrige Ergebnis so verpacken, dass es juristisch möglichst harmlos erscheint. Wir sollten uns keiner Illusion über die mögliche Rolle von Juristen hingeben; wir haben insofern in Deutschland genug Erfahrung. Tatsächlich wurden nach dem Erstarken des Protestes gegen das PAG einige offensichtlich verfassungswidrige Regeln teilweise entschärft, doch handelte es sich weitgehend um optische Änderungen.

Ein Anwalt hat die Tage gegenüber tagesschau.de auf die Frage, wovor Bayern Angst habe, dass es so ein Gesetz brauche, Folgendes gesagt: „Das kann ich Ihnen auch nicht so ganz genau sagen. Die CSU betreibt meiner Meinung nach präventive Aufstandsbekämpfung. Es soll für irgendwelche zukünftigen Szenarien schon mal aufgerüstet werden, damit die Polizei im Zweifelsfall fast alles kann.“
Könnte das sein? Was ist Ihre Einschätzung?

Ich teile diese Einschätzung nicht. Die CSU betreibt keine langfristige Strategie, auch wenn es dort Politiker gibt, die von einer konservativen Revolution faseln. Es geht aber nicht nur um Wählergewinnung, sondern auch um die Umsetzung eines autoritären Gesellschaftsbildes. In diesem kommen Aufstände nicht vor. Die Ironie der Ereignisse zeigt jetzt der CSU, dass sie mit ihrem PAG einen Aufstand provoziert hat. Es wird jetzt spannend sein, wie die Partei und Söder hierauf mittelfristig reagiert. Derzeit ist insofern keine klare Linie zu erkennen.

Die Tendenz, Freiheitsrechte zu untergraben, zeigt sich aber nicht nur in Bayern, oder?

Die Eingriffsschwelle der „drohenden Gefahr“ findet sich auch schon in Entwürfen zu Polizeigesetzen in anderen Bundesländern. Bundesinnenminister Seehofer hat klar signalisiert, dass Bayern der Probelauf sein soll für die Einführung vieler dieser Befugnisse auf Bundesebene. Dies ist zum Beispiel in Bezug auf die DNA-Phänotypisierung sogar ausdrücklich im Koalitionsvertrag festgehalten. Die Auseinandersetzung hat also erst begonnen.

Was bedeutet es denn, wenn ein Staat immer stärker dazu übergeht, auf die Instrumente zu setzen, die zur Überwachung und Kontrolle der Bürger verwendet werden können?

Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Volkszählungsentscheidung 1983 und vielen weiteren Entscheidungen darauf hingewiesen, dass Überwachung dazu führt, dass die Menschen nicht mehr wissen, wer was wann und bei welcher Gelegenheit an Informationen gegen sie sammelt und einsetzt. Wer damit rechnet, dass zum Beispiel seine Teilnahme an einer Versammlung oder einer Bürgerinitiative behördlich registriert wird, der wird möglicherweise auf die Ausübung seiner entsprechenden Grundrechte verzichten. Selbstbestimmung ist eine elementare Funktionsbedingung eines auf Handlungs- und Mitwirkungsfähigkeit der Bürger begründeten freiheitlichen demokratischen Gemeinwesens.

Welche Möglichkeiten haben die Bürger, wenn sie sich gegen das Gesetz wehren wollen?

Die Menschen können beim Bayerischen Verfassungsgerichtshof Popularklage einlegen. Sie können die Parteien, die das PAG gut finden, abwählen. Sie können im öffentlichen Diskurs Stellung nehmen und sich an Demonstrationen gegen das PAG beteiligen. Sind sie von neuen PAG-Maßnahmen betroffen, so können sie sich beim Landesbeauftragten für Datenschutz beschweren und gegen die Maßnahmen Klage erheben.

Was meinen Sie: Wird das Gesetz Bestand haben?

Nein. Das ändert aber nichts daran, dass das Gesetz erst mal in Kraft tritt und angewendet werden wird.

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