Gustavo Petros Chancen zwischen Befriedung und der NATO-Partnerschaft Kolumbiens

Frederico Füllgraf
Ein Artikel von Frederico Füllgraf

Die Kampagne zur Präsidentschafts-Stichwahl in Kolumbien sorgte für Überraschungen, die von konservativen in- und ausländischen Medien beflissentlich kleingeredet werden, jedoch nicht geleugnet werden können. Dem progressiven, ehemaligen Bürgermeister von Bogotá und Präsidentschafts-Kandidaten des Wahlbündnisses “Colombia Humana”, Gustavo Petro, gelang es in weniger als vier Wochen nach dem ersten Durchgang der Präsidentschaftswahlen im vergangenen Mai, seinen Rückstand von 25 Prozent zu 39 Prozent der Stimmen für den konservativen Kandidaten des sogenannten “Centro Democrático”, Iván Duque, nahezu bis zu einem virtuellen Kopf-an-Kopf-Rennen abzubauen. Von Frederico Füllgraf.

Duque hatte im ersten Wahlgang gegen Petro einen Vorsprung von rund 2,5 Millionen Stimmen. Die musste Petro mit Bündnis-Angeboten für die Stichwahl wettmachen, befindet sich jedoch längst nicht in der Komfortzone. Das rechte Zentrum um Sergio Fajardo reagierte nicht auf Petros Bündnisangebot.

Laut der Wochenzeitung Semana soll Iván Duque mit 57,2 Prozent zu 37,3 Prozent der Stimmen als indiskutabler Favorit rund 20 Punkte vor Gustavo Petro in einer Stichwahl-Umfrage rangieren (Encuesta Invamer: Ventaja del 20% de Duque frente a Petro, a una semana de las elecciones – 06. Juni 2018). Von einem ähnlichen Szenario will das konservative Nachrichtenportal Infobae erfahren haben, in dem Duque etwas bescheidener, jedoch immerhin noch mit 52 Prozent zu 34 Prozent der angeblichen Wahlintentionen für Gustavo Petro abschneidet (Una nueva encuesta ratifica el favoritismo de Iván Duque – Infobae, 05.Juni 2018). Noch sparsamer (50:37 Prozent) situiert die spanische El País mit einer Durchschnittsrechnung der relevanten Wählerumfragen Duque rund 13 Punkte vor Petro (Duque encabeza las encuestas y tiene un 80% de probabilidades de ganar en Colombia – El País, 10. Juni 2018). Dem aufmerksamen Beobachter fällt jedoch bei genauer Betrachtung der gemeinsame, aber tendenziöse Nenner der Umfragen auf: Alle platzieren Duque über der magischen 50-Prozent-Grenze und damit als “programmierten Gewinner”.

Alternative, näher am Puls der Realität fühlende Umfragen, wie die des Lateinamerikanischen Strategischen Forschungszentrums für Geopolitik (Celag), ermittelten ganz andere Zahlen, wonach der Vorsprung Duques gegenüber Petro eine bedeutend kleinere Differenz ausmacht, nämlich 45,5:40 Prozent, die – eine Fehlermarge einkalkuliert – ein Kopf-an-Kopf-Rennen als Wahlszenario für den 17. Juni 2018 als plausibel erscheinen lässt (Petro sube: 5 puntos lo separa de Duque en balotaje colombiano – Telesur, 11. Juni 2018).

Allerdings erhielt Petro seit Mai Zulauf von einem Spektrum, das von Mitte-Links bis liberal reicht. Nette einheimische und internationale Prominenz zollte ihm feierliche Unterstützung, darunter der französische Ökonom Thomas Piketty, der australische Philosoph Peter Singer, der südafrikanische Literatur-Nobelpreisträger John Maxwell Coetzee, der argentinische Sänger Piero, die renommierten Journalisten und Schriftsteller Alberto Salcedo Ramos und Laura Restrepo und die ehemalige Arbeitsministerin Clara López.

Doch damit gewinnt Petro keine Wahl. Vielmehr entscheidet in der Stichwahl gegen Duque, wer die Mehrheit der knapp 5 Millionen Stimmen des kurz hinter ihm im ersten Wahlgang platzierten Zentrumskandidaten Fajardo auf sich vereinigen wird.

Mit Fake News und “Wahrsagern”: Die konservative Stimmungsmache

Die angeblich störungsfreie Stichwahl-Kampagne war alles andere als “friedlich”. Obwohl vor mehr als 25 Jahren vom bewaffneten Widerstand in die politische Legalität umgestiegen, hängt Kolumbiens Ultra-Rechte Petro bei jeder Gelegenheit seine „marxistische Vergangenheit“ an die große Glocke. So vor wenigen Wochen wieder geschehen, als Duques Wahlkampagnen-Leiter den sozialdemokratisch anmutenden, progressiven Präsidentschaftskandidaten als „gefährlichen Sozialisten“ verkaufte. Was den Angegriffenen dazu veranlasste, auf seiner Twitter-Seite, die mehr als 3,2 Millionen Anhänger hat, Duque aufzufordern, „mit dem Lügen aufzuhören”.

Als Beweis veröffentlichte Petro die Kopie eines Briefes mit der Unterschrift von Duques Wahlkampfkoordinator in Putumayo, der sein Wahlprogramm als „sozialistische“ Gemeingefahr desavouiert hatte. Zum Beispiel mit der Frage, „Wissen Sie, was das für Ihr Unternehmen bedeutet? Kennen Sie das Risiko für Ihre Familie?”. Petro reagierte mit den Worten: „Das ist Duques Propaganda, die auf Lügen und Angst aufgebaut ist. Es ist nicht wahr, dass wir ein sozialistisches Programm vorgeschlagen haben. Den Menschen Zugang zu Kapital zu ermöglichen, ist kein Sozialismus. Unser Vorschlag, im Dschungel kein Öl zu fördern und zu verarbeiten, ist kein Sozialismus, sondern menschliche Rationalität.”

Wo Verleumdung nicht weiterhalf, bedienten sich Medien wie der US-amerikanische TV-Sender Mega mit dem peruanischen Star-Entertainer und Gelegenheits-Kolumnisten Jaime Bayly der bestellten Hellseherei. Bayly ließ Víctor Florencio, einen Astrologen aus der Dominikanischen Republik, Karten zur Suggestivfrage legen, wer die Wahlen in Kolumbien gewinnen werde. Selbstverständlich “antworteten” die Karten zu Baylys gestellter Freude, Iván Duque sei der Sieger: „Der Weg ist frei für ihn (Duque)”, bestätigte Florencio unter Applaus des Studio-Publikums – doch nicht ohne Kontroverse, warnte der Kartenmann. „Er (Petro) ist umgekehrt seines Sieges sicher und es ranken sich allerlei Hindernisse um diesen Mann”. Petro werde alles versuchen, um die Redlichkeit des Wahlvorgangs in Frage zu stellen und sich selbst zum Sieger zu erklären. Es sei „viel Unglück und Kontroverse” zu erwarten, prophezeite Florencio, will sagen: seine Karten (Vidente predice polémico final entre Petro y Duque y confirma quién ganará las elecciones – Publimetro, 07. Juni 2018).

Eines der wortführenden, konservativen Blätter Kolumbiens gab noch eins drauf: Petros „schlechtes Image”. Mit einer von ihr selbst in Auftrag gegebenen „großen Umfrage” will die Tageszeitung El Universal erfahren haben, dass 57 Prozent der Befragten ein gutes Bild vom Kandidaten Iván Duque haben, was nur 38 Prozent vom Herausforderer Petro behaupten würden. Umgekehrt hätten 31 Prozent der Kolumbianer ein schlechtes Bild des Kandidaten des Demokratischen Zentrums, jedoch 51 Prozent sollen keinen guten Eindruck von Petro haben (La Gran Encuesta: Duque tiene mejor imagen que Petro para segunda vuelta – El Universal, 05. Juni 2018).

„Die gesamte politische und korrupte Maschinerie hat sich zusammengeschlossen. Auf der anderen Seite sind wir, freie Bürger, anständige Bürger und Verteidiger des Friedens, der Demokratie und der öffentlichen Institutionen. Jetzt liegt es an Kolumbien, zu entscheiden, ob alles so bleiben wird wie bisher oder ob wir die Geschichte verändern”, twitterte ein Petro-Anhänger seinem Kandidaten zu.

NATO-Partnerschaft: Juan Manuel Santos‘ gerissener Streich

Am vergangenen 25. Mai verkündete Kolumbiens scheidender Präsident Juan Manuel Santos die Unterzeichnung von zwei strategischen Beitrittsverträgen. Zum einen zur Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), zum anderen mit der NATO. Mit der übereilten NATO-Partnerschaft drückte Santos zweifellos seinem Nachfolger einen heiklen Vertrag auf, von dem anzunehmen ist, dass das State Department und das Pentagon der Vorab-Verpflichtung als Pate beiwohnten.

Neben Afghanistan, Irak, Pakistan, Neuseeland, Japan, der Mongolei und Südkorea wird Kolumbien damit zum ersten globalen Partner der NATO in Lateinamerika. Dies – wohlgemerkt – als Parallelhandlung zum besonderen militärischen Verhältnis zu den USA, die mit einem Sondervertrag aus dem Jahr 2009 Zugang zu insgesamt sieben Militärstützpunkten in Kolumbien besitzen. Als globaler Partner ist Kolumbien formal nicht an Artikel 5 des NATO-Gründungsvertrags von 1949 gebunden, der erklärt, dass ein Angriff auf einen Mitgliedsstaat ein Angriff auf alle ist, was für die 29 vollwertigen Mitglieder als verbindlich gilt.

Doch die Kontakte zur NATO reichen zurück in die ersten Jahre des neuen Millenniums. Seitdem wurde bereits kolumbianisches Personal nicht nur von den USA, sondern auch in militärischen Ausbildungsstätten in Deutschland und Italien gedrillt. Dass Kolumbien sich nicht an NATO-Manövern bzw. an einem echten Casus Belli beteiligen werde, wie es Santos im kontroversen Interview mit Ecuadors ehemaligem Präsidenten Rafael Correa erklärte, entspricht kaum der Wahrheit. Die militärische Zusammenarbeit mit der NATO begann zum einen mit der Truppenausbildung durch die USA in Kolumbien selbst und zum anderen mit einem „Geschäft“: das Anheuern kolumbianischer Söldner für den Irak-Krieg im Jahr 2006 und 2015 mit der Aufstellung einer Sonderbrigade Saudi-Arabiens beim Überfall auf den Jemen (800 fuerzas colombianas participarán en agresión saudí a Yemen – HispanTV, 24. Oktober 2015).

Doch mit der Schirmherrschaft der NATO entsandte Kolumbien in den vergangenen Jahren auch Truppen an das Horn von Afrika zur Bekämpfung somalischer Piraten. Schon 2013 erzielten Kolumbien und die NATO eine Übereinkunft über die Weitergabe von nachrichtendienstlichen Erkenntnissen, militärischen Übungen und sogenannten „humanitären Interventionen“. Schließlich einigten sich Kolumbien und die NATO im Mai 2017 darauf, dass das südamerikanische Land zum „globalen Partner der NATO” ernannt werde.

Nach Definition der NATO zeichnen sich sogenannte „globale Partnerschaften“ als „Zusammenarbeit mit der NATO in Bereichen beiderseitigen Interesses, einschließlich der Entwicklung neu auftretender Sicherheitsherausforderungen“, ferner durch „den aktiven oder militärischen Beitrag zu NATO-Operationen“ aus. Eine enge Verbindung zwischen dem Partnerland und der Struktur der NATO beinhalte also eine enge Zusammenarbeit in den meisten militärischen Bereichen (Fallout from Colombia´s New Association with NATO – Counterpunch, 06. Juni 2018).

Die russische Internet-Zeitschrift Sputnik bezeichnete die neue militärische Rolle Kolumbiens als ein „trojanisches Pferd” der NATO. Die sogenannte Partnerschaft kam selbstverständlich auf Antrieb der USA zustande.

Counterpunch-Autor W.T. Whitney Jr. datiert den tatsächlichen Beginn der US-amerikanisch-kolumbianischen Militärkooperation auf das Jahr 1948 zurück. Damals war Bogotá Gastgeber jener Konferenz, auf der die Organisation der Amerikanischen Staaten (OAS) Gestalt annahm. Dem folgte 1951 die Entsendung des „kolumbianischen Bataillons” als einzige lateinamerikanische Streitkraft im Korea-Krieg. Umgekehrt starteten die USA ab 1962 die Entsendung von Militärberatern zur Aufstandsbekämpfung, insbesondere mit der Ausbildung von Paramilitärs, die bekanntlich über 30 Jahre hinweg mit tatkräftiger Unterstützung der US-Drogenbehörde DEA und des CIA Mord und Chaos bei der Bekämpfung der FARC und ELN-Guerillas säten. Höhepunkt dieser Zusammenarbeit bildete der Plan Kolumbien, mit dem sich die USA 2009 das Anrecht auf sieben Militärstützpunkte erpressten.

„Kolumbien tritt in eine NATO ein, in der sein US-amerikanischer Patron die Führung auf höchster Ebene übernommen hat“, kommentiert Whitney Jr. Die Partnerschaft zwischen den Vereinigten Staaten und Kolumbien, die auf gemeinsamen kommerziellen und wirtschaftlichen Interessen der herrschenden Klassen beider Länder beruht, spiele sich nun innerhalb einer militarisierten, multinationalen Einheit zum Schutze dieser Interessen ab – „die kolumbianische Oligarchie hat somit ein schreckliches Duo zur Verfügung“, prophezeit Whitney Jr.

Doch der Partnerschafts-Plan ist weitreichender. Venezuelas Außenministerium erklärte, die kolumbianischen Behörden seien „nun bereit, in Lateinamerika und der Karibik eine ausländische Militärallianz mit nuklearer Kapazität einzuführen, die in jeder Hinsicht eine ernsthafte Bedrohung für Frieden und regionale Stabilität darstellt.” Kritiker geben ferner zu bedenken, dass die enge Assoziierung Kolumbiens mit der NATO eine grundlegende Verschiebung der US-Strategien für die globale Kontrolle darstellt.

Von einer potenziellen Einkreisung des postsowjetischen Russlands abgesehen, haben die USA auch China im Blick. US-Konzernvorstände, Pentagon und CIA bedienen seit einigen Jahren die Verschwörungstheorie, China bedrohe ernsthaft die politische, wirtschaftliche, militärische und kulturelle Hegemonie der Vereinigten Staaten, auch in Lateinamerika. Da der pazifische Raum zum wichtigsten Schlachtfeld des „Zweiten Kalten Krieges” aufgebauscht wird, könnte Kolumbien nicht nur gegen seine Nachbarn, sondern als Marionette eines globalen Überfalls der Plünderer des neuen Millenniums benutzt werden.

Schon deshalb darf Gustavo Petro nicht gewinnen.

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