Nicht allein die Analyse von Medien und Pressefreiheit in Ländern wie Russland ist spannend, die kritische und nicht nur formale Analyse der eigenen Situation wäre wichtig

Ein Artikel von:

Dann würden wir in Deutschland nämlich sehr schnell merken, dass unser Gold ganz und gar nicht glänzt. Pressefreiheit gibt es formal. Selbst angeblich kritische Geister wie die „Reporter ohne Grenzen“ haben verdrängt, was der frühere Herausgeber der FAZ, Paul Sehte, schon 1965 gesagt hat: „Pressefreiheit ist die Freiheit von zweihundert reichen Leuten, ihre Meinung zu verbreiten.“ Zum heutigen Artikel: „Schauen wir doch einmal genauer auf die russischen Medien” von Gert-Ewen Ungar kam eine größere Anzahl von Lesermails. Der Schreiber der ersten Mail macht mit Recht darauf aufmerksam, dass man sinnvollerweise die eigene Medienlage auch kritisch im Blick haben soll, wenn man über die Lage in anderen Ländern schreibt und gar herzieht. Albrecht Müller.

Vorweg noch der Hinweis und Link auf die neueste Weltkarte zur Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen. Wenn Sie sich die Karte anschauen, dann werden Sie vermutlich mit Bewunderung feststellen, wie sicher die Reporter ohne Grenzen bei ihrem Urteil sind. Beneidenswert!! Diese Organisation wird demnächst Gegenstand eines Beitrags von Thomas Riegel sein. Jetzt zunächst die angekündigten Leserbriefe. Die Veröffentlichung verbinde ich mit einem herzlichen Dankeschön an die Leserbriefschreiber:


Erster Leserbrief:
Leserbrief von Michael Steinke
Für mich ist der Zustand der russischen Mainstreammedien propagandistisch, einseitig und beklagenswert – aber eher wie bei uns in DEU selbst als etwa wie in einer Diktatur.

Das, was die westliche Propaganda über RUS immer unter “keine Meinungsfreiheit”, “fehlender Pressefreiheit” sowie “Bedrohung, Verfolgung und Ermordung kritischer Journalisten” laufen lässt, beruht grösstenteils auf feindseeliger Verfälschung, auch und vor allem durch die vom Westen selbst eingesetzten bzw. betriebenen NGOs. So sind die im Artikel erwähnten „Reporter ohne Grenzen“ oder auch Human Rights Watch wesentlich von George Soros finanziert, allein letztere mit 100 Millionen Dollar – was nicht einmal die wikipedia leugnen kann. Deren Urteil ist somit weder neutral noch glaubhaft.

Eine Analyse und Kritik der russischen Medien muss also selbst und differenzierter erfolgen. 

Zum einen gibt es tatsächlich grosse, oppositionelle, systemkritische Print-Medien wie die The New Times/Nowoje Wremja, Kommersant, die Novaya Gazeta, … die zT ein Vielfaches an Auflage haben, wie vergleichbare dt. systemkritische Zeitungen, etwa Neues Deutschland, Junge Welt, (Freitag).

Mit Radio Echo Moskwy wird sogar einer der kritischsten Medien auf Staatskosten (Gasprom) finanziert und unterhalten, der Kreml oft dafür intern kritisiert, dass er sich selbst seine grössten Feinde züchtet.

Mit Doschd existiert gar ein oppositioneller, systemkritischer TV-Sender, dessen Reichweite allerdings tatsächlich politisch begrenzt wurde. Erreichte er früher noch 1-2 Millionen, gibt es ihn heute, KenFM ähnlich, hauptsächlich übers Internet. Dort gibt es auch eine grosse, vielfältige Zahl oppositioneller Medien, Blogs … einige nach Zensurmaßnahmen allerdings nur über IP-Generatoren erreichbar.

Inhaltlich sind diese Medien  zT extrem scharf und berichten mit westlicher Agenda über angebliche Schwulen-KZs in Tschetschenien, Korruption, rus. Soldaten im Donbass, Krim-Annektion u.ä.

Auch zahlreiche ausländische Medien aus den USA, GB oder DEU wie radio Liberty. BBC, Deutsche Welle u.a. senden und berichten auf Russisch.

Eine Medienvielfalt in RUS ist trotz gegenteiliger westlicher Behauptungen tatsächlich vorhanden. Politisch genügt es dem Kreml, ähnlich wie auch der dt. Politik, die Staatsmedien, das TV, eben den Mainstream zu kontrollieren. Für die kritischen 10-15% existieren aber auch in RUS trotz diverser Repressalien mindestens ebenso viele, große und kritische Medien wie in DEU.

Nachzulesen ist die kritische rus. Medien-Opposition sogar auf deutsch unter dekoder.org.

Journalistenmorde gab es schon in den sog. demokratischen Zeiten RUS unter Jelzin und westlicher Führung. In der halben Zeit gar ein Vielfaches!  So wurden u.a. lt. wikipedia zwischen 1993 und 1999 in Russland gemäß einer Statistik der russischen Journalisten-Gewerkschaft 201 Journalisten ermordet. (Roland Haug zählt in seinem Buch Die Kreml AG 261 Attentate.)

Diese haben also offensichtlich nichts damit zu tun, dass Putin, der Kreml ab 2000 seine neu-autoritäre Agenda durchsetzen wollte und Mordbefehle an unliebsame, kritische Journalisten ausstellen würde, sondern damit, dass die Politik in RUS immer noch mafiös und die Mafia politisch unterwegs sind. 

Auch werden die grossen Geschäfte in RUS immer noch in und durch die Politik gemacht. Beeinflusst die Finanzoligarchie im Westen direkt die Politik, Gesetzgebung und Parlamentsentscheidungen zu ihren Gunsten, herrschen in RUS neben Lobbyismus immer noch Korruption, die Lenkung von Verwaltungs- oder Rechtsentscheidungen und auch Verbrechen als Mittel zu Durchsetzung der Interessen der Oligarchen etwa gegen störende Konkurrenten oder lästige Journalisten. Es gilt in RUS als offenes Geheimnis, dass alle führenden Oligarchen der 90er Beresowski, Chodorkowski, Potanin oder Gussinski ihre Milliarden nicht ohne Verbrechen, nicht ohne Ermordung störender Politiker, Beamter, Journalisten zusammenrauben konnten. Und nicht ohne Grund werden bis heute bei vielen politisch motivierten Morden tschetschenische Täter ermittelt, Heimat der, wie auch im Westen bekannt, grössten Mafia-Organisation RUS. Journalisten sind in RUS dann besonders gefährdet wenn sie im Dunstkreis von Korruption recherchieren, dem grossen Geld, Verbrechen, den Schandtaten der Oligarchie auf der Spur sind, irgendjemand Reichem und Mächtigem in die Quere kommen.

Und nicht nur nach eigenen Aussagen waren es diese Reichen und Mächtigen, Oligarchen wie Beresowski, Chodorkowski, Potanin oder Gussinski, die Russlands Medien und Politik dominierten, Wahlen und politische Entscheidungen nach ihren Belieben beeinflussen und kaufen konnten. Ein merkwürdiges Demokratieverständnis beweisen westliche Kommentatoren, wenn sie die Übernahme der Oligarchen TV-Sender wie etwa NRT oder ORT als staatliche Zensurmaßnahmen gegen die Pressefreiheit geißeln. Die Begrenzung der medialen und politischen Macht dieser Oligarchen war und ist aber vielmehr eine Grundvoraussetzung für die Herstellung einer funktionierenden Demokratie in RUS. Dass der russische Staat diese Mainstream-Medien nicht mit ausreichenden Freiheitsgraden versorgt, sondern in seinem Sinne dominiert, ist bedauernswert. Ich kann das im Hinblick auf unsere öffentlich-rechtlichen Medien aber nicht als Alleinstellungsmerkmal erkennen. Noch niemals seit dem Kalten Krieg waren ARD- oder ZDF-Nachrichten so treu auf Regierungslinie. Und selbst die Sport-„Berichterstattung“ betreibt politische Propaganda.

Fehlende Meinungsfreiheit? Wer sich schon einmal politisch mit Russen unterhalten hat, der weiß, wie kritisch, zT verächtlich sich diese über ihre Regierung, Politiker, Staatsbeamten äussern – öffentlich, immer wieder, ohne jede Hemmungen oder irgendwelche Gefahr. Kritiker werden nicht einfach – wie immer wieder in westlichen Medien behauptet – weggesperrt. Ja, wer beim Staat als Professor, Lehrer oder Journalist Karriere machen will, der sollte sich in RUS besser nicht ausserhalb des Mainstreams stellen. Vielfach wird Druck ausgeübt, der Linientreue oder gar vorauseilenden Gehorsam fördert. Das ist zu kritisieren. Aber sicher nicht von oben herab. Denn wie werden systemkritische Journalisten, Professoren, .. in Deutschland behandelt? Wer beschäftigt die denn noch? Werden kritische Stimmen in DEU nicht vom Mainstream als Verschwörungstheoretiker, Querfrontler bekämpft und ausgegrenzt? 

Einen regelrechen Kampagnenfeldzug betreibt die westliche „Berichterstattung“ mit den angeblichen Demonstrationsverboten und Verhaftungswellen bei Nawalny. Nichts davon ist hierbei tatsächlich eine Menschenrechtsverletzung des rus. Staates. Denn Nawalny legt seine Demo-Vorhaben immer bewusst dorthin, wo sie nie genehmigt werden können – in Moskau etwa auf die Tverskaya, einer 10spurigen Hauptverkehrsstrasse in der Nähe des Roten Platzes, am besten noch, wenn 1 Millionen Russen dort einen Umzug abhalten – um der westlichen Propaganda Bilder und Futter für angebliche Menschenrechtsverletzungen zu geben. Dass er jedesmal Alternativvorschläge der Moskauer Verwaltung ablehnt, dass 98 der 100 angemeldeten Demos im Land völlig unbehelligt staffinden können, dass Verhaftete bereits nach wenigen Stunden und Feststellung der Personalien freikommen, wird im Westen verschwiegen. Die fröhlichen Party-Selfies der verhafteten Nawalny-Anhänger aus den Polizeiautos in den sozialen Medien sprechen Bände und konterkarieren die Schreckensbilder ihrer Verhaftungen. Hier werden nicht Demonstrations- oder Menschenrechte unterdrückt, hier werden medienwirksame Provokationen inszeniert.

Insgesamt betreibt RUS ein übles Mainstream-Spiel der Mächtigen, wie es das auch in den USA oder DEU gibt. Man kann und sollte es beklagen. Aber wer das tut, ohne auch die eigenen Machenschaften mit einzubeziehen, kritisiert verlogen und doppelzüngig.

Viele Grüße
Michael Steinke


Zweiter Leserbrief:

Sehr geehrte Nachdenkseiten Redaktion,

Auch wenn dieser Leserbrief vielleicht keine Berücksichtigung findet, würde ich mich freuen, wenn er zur Kenntnis genommen wird, denn ich musste mir einfach ein wenig den Frust von der Seele schreiben.

Ich möchte jedoch zuerst Gert-Ewan Ungar für seine Berichte aus Russland danken und Sie in dem Zusammenhang auf den folgenden Artikel der taz aufmerksam machen. Er erschien bereits vor 5 Tagen und ich weiß, obwohl ich ein aufmerksamer NDS Leser bin, nicht ob mir in den Hinweisen evtl. etwas entgangen ist. Mir wurde dieser Artikel gestern Abend von meinem Newsfeed vorgeschlagen, und hat kurz vor dem Einschlafen noch einmal meinen Blutdruck in die Höhe getrieben. (Was ich vorher hätte wissen können, denn die taz vermag dies regelmäßig und mit spielerischer Leichtigkeit)

„Russland entdeckt die Welt“

Die abgehobene Borniertheit und Überheblichkeit, mit der man die Ereignisse rund um die WM in Russland, seien sie noch so positiv, von oben herab, mehr verurteilt als beschreibt, spritzt wie ich finde, aus nahezu jeder Zeile, beginnend mit der Subline des Titels „Putin bekommt die TV Bilder die er braucht“. Denn die putinsche Selbstdarstellung ist ja offenbar – wie kaum ein deutsches Leitmedium müde wird uns tagtäglich einzuhämmern – einer der Hauptgründe, warum Russland sich um Ausrichtung der WM beworben hat, denn das hat er bei “nur” gut 70% Zustimmung im Volk, dringend nötig. Es wimmelt von abwertenden Formulierungen, negativen Assoziationen und Interpretationen, die wohl mehr mit der Russophobie des Autors, als mit der Realität zu tun haben. Und wenn es nichts Schlechtes zu berichten gibt, dann kreiert man sich eben etwas. Im Nachtzug nach Sotschi, wird man von einer „resoluten Russin“ mit „hochgestecker Betonfrisur“ mit – impliziert ekelhaftem – „weich gewordenem Salzspeck“ (Salo) zum Frühstück bewirtet. Wir lernen: Russland „sammelt unaufhörlich Land” – der Verweis auf die angebliche Krim-Annexion und weiterer Expanisonsgelüste, darf natürlich in keinem Artikel mit Bezug zu Russland fehlen (Man muss eine Lüge nur oft genug wiederholen… lassen wird das) – “ahmt Kulturen nach und will doch immer nur das eine bleiben: Russland. Jetzt wird gerade die globalisierte Fußballkultur imitiert.” Wusst ich’s doch – Alles nur Schein. Wer erinnert sich nicht an das „Sommermärchen“ 2006, das ja scheinbar, in der Auffassung des Autors, ein Sommer in Deutschland wie jeder Andere war. In Russland ist diese WM Stimmung natürlich unecht und eine Imitation unserer Fußballkultur, die es in Russland eigentlich gar nicht gibt. Wenn ein englischer Fan sagt „Ich habe keine Probleme mit Putin!“, dann weiß der weltbewandte taz-Schreiberling natürlich, dass er nicht das meinte was er sagte, sondern das bedeutet „es lässt sich ganz gut trinken in Russland.“ Wie er zu diesem aberwitzigen Schluss kommt, teilt er uns nicht mit. Und generell kann es jedem der nicht auf der Hut ist passieren, wenn er etwas positives über Russland sagt, wenn er es wagt zu behaupten, dass Land, Leute und Stimmung toll seien und sie mit falschen, weil eher negativen Vorurteilen nach Russland gereist sind, vom „Kreml-Propagandisten“, nicht Journalisten, Dimitri Kisseljow für genau diese Darstellung missbraucht wird – sicher nicht weil es das normalste der Welt ist, dass ein TV Sender, ob staatlich oder privat, ob regierungskritisch oder -nah, sich über positives Feedback und die tatsächlich gute Stimmung der Veranstaltung freut und darüber berichtet, sondern um perfide Propaganda für Putin zu machen. Und daran stören sich die Fans, die sich dann abends selbst in den TV Nachrichten sehen, nicht einmal – Unverschämtheit. Gut, dass der Autor uns hilft das richtig einzuordnen.

Putin sagte im Verlauf der WM: „Sport bringt Länder und Nationen zusammen, und wir, als Gastgeber dieses Turniers, freuen uns für diejenigen, die gewonnen haben, und leiden mit denen, die gescheitert sind.“ Für den taz Schreiberling wahrscheinlich nur leere Worte, deren Ehrlichkeit höchstens jemand Glauben schenken kann, der von so dubiosen Webseiten wie den Nachdenkseiten oder gar RT Deutsch propagandistisch eingeseift wurde. Wir erfahren: „Die WM liefert genau die Bilder, die sich Wladimir Putin gewünscht hat.” – Schade, brennende Barrikaden, Heere von gewalttätigen Hooligans und brutale Polizeigewalt, wären dem Autor offenbar lieber gewesen, dann hätter er seinem Russlandhass freien Lauf lassen, und sich in “ich hab’s ja gewusst”-Manier in seiner Selbstherrlichkeit sonnen können, statt zähneknirschend Positives schlecht schreiben zu müssen. Aber auch Letzteres ist immernoch besser, als dass der Gottseibeiuns – russische Präsident, sich einer gelungenen Veranstaltung, im Namen der Völkerfreundschaft, durch die verbindende Wirkung des Sports, rühmen könnte. Und der beliebteste Trinkspruch zwischen den Fans unterschiedlichster Nationen – „Druschba Narodow“ – Auf die Völkerfreundschaft – wenn es um Russland geht, offensichtlich die Horrorversion der sogenannten “Journalisten” in der taz-Redaktion. Traurig 

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit, mit freundlichen Grüßen
David Meuer


Dritter Leserbrief:

Vielleicht sollte Herr Ungar statt dem Begriff “Denkfabriken” lieber die 1:1-Uebersetzung von Think-Tanks verwenden: Denkpanzer.

Das trifft die Aufgabe dieser Organisationen ziemlich gut.

Ansonsten vielen Dank fuer den guten Artikel.

Meine Familie wird Anfang kommendes Jahr nach Russland auswandern.

Und dafuer gibt es viele Gruende.

Fuer die Vorbereitung haben wir uns mehr als 2 Jahre Zeit genommen.

2 Ingenieure und ein sehr junger Buerger weniger in Dtl. Aber gerade den jungen Buerger wollen wir nicht auf deutsche Schulen schicken.

MfG Ronald


Vierter Leserbrief:
v.walter:

“Sicherlich. Es gibt in Russland Zensur Webseiten werden zugemacht, weil sie gegen Gesetze verstoßen.”

Na, dann ist ja alles gut, denn was für Gesetze das sind, ist egal. Mit derselben legalistischen Argumentation könnte man auch Vieles rechtfertigen, was die Nazis gemacht haben (z.B. Menschen ins KZ stecken, weil sie gegen die Nürnberger Rassegesetze verstoßen hatten).


Fünfter Leserbrief:

Liebe NDS, Lieber Gert-Ewen Ungar,

vielen dank für diesen interessanten Einblick in die russische Medienwelt. Die Vorstellung, RT-Deutsch würde zum Boykott der Bundestagswahlen aufrufen – und was dann hier los wäre – war tatsächlich erheiternd. Zumindest ganz kurz. Spätestens beim Schreiben dieser Zeilen hat mich die Dystopie der Realität wieder fest im Griff.

Als neutraler Beobachter würde ich anmerken, dass der Teil über ‘Whataboutism‘ da nicht reingehört.

Und dann habe ich in der Wiki nachgelesen, was das ist und es hat mir einfach nur die Sprache verschlagen. Als neutraler Beobachter muss ich daher zugestehen, dass das unbedingt zum Thema gehört.

Für mich persönlich war dieser Teil darum sogar der mit dem größten Informationsgehalt.

Zum Wikiartikel – der gehört einfach verissen.

Inhaltsverzeichnis

  1. Wortbedeutung und Herkunft
  2. Logischer Fehlschluss und rhetorisches Mittel
  3. Verwendung zur Kennzeichnung einer sowjetischen und russischen Propagandataktik
  4. Allgemeine Verwendung als Propagandamethode
  5. Einschränkungen der Kritik
  6. Siehe auch
  7. Weblinks
  8. Einzelnachweise

Bedarf das noch eines Kommentars?

Inhaltlich ist es auch Grütze. Zitat aus dem Punkt 2: “Whataboutism ist ein Spezialfall des tu quoque (lat. du auch, Bezeichnung für einen Gegenvorwurf), das eine Unterart des ad hominem Arguments ist.”

Die Methode als Gegenargument zielt ja darauf, die Vorwürfe und Argumente der Gegenseite in einen Kontext zu setzen, der eine moralische Bewertung erst möglich macht. Das heißt, es dient dazu das zuvor gesagte besser einordnen zu können. Das als eine Unterart von ‘ad hominem’ zu bezeichnen löst bei mir spontane Heiterkeit aus. Zumindest solange es nicht ernst wird, wie im Punkt 3 Verwendung zur Kennzeichnung einer sowjetischen und russischen Propagandataktik.

Dazu wäre zuerst mal anzumerken – die zitierte ‘wissenschaftliche’ Quellenbasis ist dünn. Sie beschränkt sich auf einen Artikel im Economist im Atlantic und eine wenigstens vermutet wissenschaftliche Arbeit von der Universität North Dakota, die nicht mehr verfügbar ist, weil die Domain eingestellt wurde.

Das sind die Quellen, denen die Analyse des Begriffs sowie die Untersuchung des Zusammenhangs mit Russland unterstellt wird. Der Rest sind im wesentlichen Fallbeispiele von denen sich überall tausende finden lassen – schon weil die Methode üblich ist, zum Beispiel bei allen Männern, die mal wieder nicht abgewaschen aber dafür das Türscharnier repariert haben.

Richtig abstrus wird es dann beim Unterpunkt ‘Im Rückblick’.

Ich pauschalisiere jetzt mal ein wenig. Da müssen Leute, die sonst keine 3 Jahre historischen und geopolitischen Kontext überblicken können, wenn zum Beispiel ein syrisches Staatsoberhaupt den Verbündeten Russland bittet bei der Bekämpfung von Söldnermilizen zu helfen, auf das Zarenreich um das Jahr 1850 zurückgehen, um der heutigen russischen Regierung Propaganda nachzuweisen? Was ist das – WTFism?

Um das jetzt mal klar zu machen “vom Panslawisten Michail” ist eine Unterform von ad hominem weil hier eine Person mit einer unbelegten Verleumdung belegt wird, um sie von vornherein in Miskredit zu bringen. Die “vermeintliche Doppelmoral der europäischen Kolonialmächte” ist, damals wie heute, offensichtlich es sei denn das eigene Einkommen oder die eigene Gier steht zwischen einem selbst und dieser Erkenntnis. Und last but not least “(wobei anzumerken ist, dass Russland währenddessen in Mittel- und Ostasien weiter kräftig expandierte)” ist ein eindrücklicher Beleg für einen Satz von Gert-Ewen Ungar:

Er baut Rechtfertigungsdruck in einer Richtung auf, ohne quantitative Gegenargumente zuzulassen. Eine perfide Technik.

Soviel zu Punkt 3, dem größten Punkt im ganzen Wikiartikel. Der zweitgrößte Absatz ist die Einschränkung der Kritik, und die ist sogar noch perfider. Denn die Überschrift impliziert eine maßvolle Einordnung des zuvor vorgebrachtem. Weit gefehlt. Es geht darum, grundsätzlich zuzugestehen, dass die Methode nicht immer schlecht sei. Wenn sie nur nicht von Russland kommt. Mit anderen Worten, hier verteidigen die Autoren das Recht des Westens, die Methode zu verwenden, wenn sie denn für die Gute sprich die westliche Sache eingesetzt wird. Zum Glück ist das keine Doppelmoral sondern American Exceptionalism.

Artikel wie dieser bestärken mich einerseits darin die Wikipedia als Informationsquelle gänzlich abzuschreiben. Im übrigen auch – im Gegensatz zur Meinung von anderen Kritikern – bei wissenschaftlichen Themen, das halte ich für besonders betonenswert. Alle Praxis, die ich kenne, weist nachdrücklich darauf hin, dass die von der Wikipedia eingesetzten Methoden auch wissenschaftliche Diskurse zerstören, und zwar nachhaltig und entgültig (bis die beteiligten in der Regel an Altersschwäche sterben und neuen Köpfen mit neuen Ideen Platz machen). Sie sind in so einem Kontext nicht mehr möglich, und damit ist auch die Idee der Wikipedia vom Wissen aller zu profitieren, hinfällig. Deshalb sind auch die naturwissenschaftlichen Beiträge dort korrumpiert – schlimmer noch, bei den streng naturwissenschaftlichen Beiträgen fällt das überhaupt nicht mehr auf, weil der Konsens da oft sehr stark, und die eigenen Kenntnisse eher dünn sind. Aber das wissenschaftliche Denken wird durch die Verankerung in den Bahnen des wissenschaftlichen Mainstreams zerstört, und eingeübt wird diese Zerstörung jedes mal, wenn man selber die Wikipedia aufruft und benutzt.

Und andererseits macht es mir Angst, dass so etwas ernsthaft im wichtigsten Nachschlagewerk der Gegenwart stehen bleiben kann. Für mich ist das ein Beispiel dafür, wie nah wir bereits dem Faschismus von 1935 gekommen sind – eben weil es im Mainstraem verankert ist, im Gegensatz zu beschriebenem russischen Sender mit Namen REN TV. Was jetzt noch fehlt ist eine gewaltbereite Polizeimacht vergleichbar mit der SS und der SA.

Unsere Polizei wird gerade militarisiert – egal in welchem Bundesland wir uns die Polizeigesetzgebung anschauen, es gibt wohl bald Handgranaten für Polizisten – entgrenzt (wie in Bayern mit dem Begriff der Gefährder) und in weiten teilen privatisiert (das läuft dann unter Security).

Und dann sagt uns unser Innenminister, wir sollten Wasservorräte für den Ernstfall anlegen…

heute mit flauem Magen,
Sebastian Domschke