AfD-Wahlkämpfer der Woche: Jakob Augstein

Jens Berger
Ein Artikel von:

Was hat Jakob Augstein da nur geritten? In seiner aktuellen Kolumne konstruiert der berühmte SPIEGEL-Erbe einen Zielkonflikt zwischen dem Sozialstaat und einer humanen Asylpolitik, erklärt dann im selben Gedankengang den Sozialstaat zur Verhandlungsmasse und überlässt die Verteidigung sozialpolitischer Standards ohne jede Not den Rechten. Als ich diese Zeilen las, war ich zutiefst schockiert und suchte erst einmal nach der Ironie, die ich offensichtlich verpasst haben musste. Doch ich fand keine Ironie. Jakob Augstein meint das tatsächlich so. Da werden in der AfD-Zentrale ja die Sektkorken knallen. Meine Bitte an künftige Historiker: Merken Sie sich bitte diesen Augstein-Text; liefert er doch eine Antwort darauf, warum die AfD im vermeintlich aufgeklärten Deutschland des jungen 21. Jahrhunderts so viel Zulauf bekommen konnte. Von Jens Berger.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Es sind Worte, die wie Schläge auf den Solarplexus progressiver Politik wirken:

[Kurzfristig] kosten Einwanderer erst mal Geld. Der Sozialstaat kümmert sich. Aber je mehr Einwanderer kommen, desto stärker gerät der Sozialstaat unter Druck. Was geschieht, wenn so viele vor der Tür stehen, dass sie zu den jetzigen Standards nicht mehr versorgt werden könnten? Schließt man die Grenzen? Oder ändert man die Standards? Für das Einwanderungsland Deutschland ist das eine Schicksalsfrage. Auf der politischen Rechten ist sie schnell beantwortet. Weil man dort keine Einwanderung will, finden sich plötzlich ungeahnte Verteidiger des Sozialstaats. […]

Aber man kann das Argument auch umdrehen und den Rechten recht geben: Weil sich die Einwanderung nicht mit dem bisherigen Sozialstaat verträgt, entscheiden wir uns für die Einwanderung und für einen anderen Sozialstaat.

Das lässt sich moralisch begründen: wenn der Preis für unseren Sozialstaat die Toten im Mittelmeer sind, ist er es nicht wert. Wenn der Preis die Versklavten in den libyschen Lagern sind, ist der Preis zu hoch. Aber moralisch Begründetes hält in der Politik bekanntlich nicht viel aus. Die Moral allein trägt nicht.

– Jakob Augstein im Artikel „Ein deutscher Traum

Man darf bereits zu Beginn nicht den Fehler machen und Augsteins Logik auf den Leim gehen. Denn seine Argumentation steht bereits von Anfang an auf tönernen Füßen. Augstein konstruiert hier einen Zielkonflikt: „Schließt man die Grenzen? Oder ändert man die Standards?“. Wer hat diesen Zielkonflikt eigentlich aufgestellt? Kann man denn keine humane Asylpolitik betreiben und(!) gleichzeitig die sozialstaatlichen Standards beibehalten? Selbstverständlich kann man das. Bereits bei diesen falschen Prämissen erweist sich Jakob Augstein fahrlässig oder vorsätzlich als Sprachrohr derjenigen, die stets Ängste schüren und ohnehin nicht viel vom Sozialstaat halten. Mit Verlaub, aber diese Äußerungen hätte man eigentlich eher von Beatrix von Storch und nicht von einem vermeintlich linksliberalen Publizisten erwartet. Dass er dann auch noch moralinsauer die „Toten im Mittelmeer“ und „Versklavte in libyschen Lagern“ ohne Sinn und Verstand als „Preis für unseren Sozialstaat“ in die Debatte wirft, ist ein intellektueller und moralischer Tiefpunkt, der an Schäbigkeit kaum zu unterbieten ist. Noch einmal: Warum sollte der Sozialstaat in einem Zielkonflikt mit einer humanen Asyl- und Flüchtlingspolitik stehen? Die inhumane Abschottung der EU-Außengrenzen, der Verzicht einer wirkungsvollen Seenotrettung im Mittelmeer und fragwürdige Deals mit libyschen Warlords sind doch um Himmels Willen keine Akte zur Sicherung des Sozialstaats. Die NachDenkSeiten haben das mehrfach (u.a. hier oder hier) thematisiert.

Ist Augsteins Argumentationsführung bereits schockierend, so lässt seine Bereitschaft, den Sozialstaat als Verhandlungsmasse willfährig zu opfern und dessen Verteidigung vollkommen ohne Not „den Rechten“ zu überlassen, den Leser wirklich fassungslos zurück. Ist das wirklich sein Ernst? Um dies besser bewerten zu können, lohnt sich ein Blick auf einen der Artikel, die Augstein wohl im Hinterkopf hat, wenn er „den Rechten Recht geben“ will. Der rechtsextreme Publizist Henryk M. Broder will ja nicht – wie Augstein dies zwischen den Zeilen offenbar herauslesen will – den Sozialstaat bewahren, sondern fordert ganz im Gegenteil, den Sozialstaat zu schleifen, da er der Meinung ist, ein Großteil der Migranten käme nur wegen der Versprechen des Sozialstaats nach Deutschland. Sind diese Versprechen erst mal weg, bleiben auch die Migranten zu Hause, so Broders gewagte These. Broder und Co. wollen also den Sozialstaat abschleifen, um die Migration zu verhindern. Augstein will ihn abschleifen, um die Migration zu ermöglichen. Es ist wie im Tollhaus – und die Unternehmerverbände können sich über diese eigenwillige Querfront von Broder bis Augstein als Unterstützung im Kampf gegen den Sozialstaat natürlich nur freuen.

Nun ist Broder aber nicht der einzige Rechtsextreme und die AfD wird Augsteins Steilvorlage sicher mit Freude vernehmen. Natürlich ist auch die AfD beileibe keine Freundin des Sozialstaats – ganz im Gegenteil. Aber wenn noch mehr exponierte Vertreter der gesellschaftlichen oder politischen Linken Augsteins Beispiel folgen und frank und frei erklären, die Öffnung bislang geschlossener Grenzen einer Verteidigung des Sozialstaats vorzuziehen und das Thema Sozialstaat ohnehin lieber der politischen Rechten zu überlassen, wird dies den Rechten die Wähler in Massen in die Arme treiben. Alleine die Vorstellung, Menschen mit derlei wirren Gedankensprüngen mitnehmen zu können, erscheint absurd. Vielleicht sollte der Multimillionär Augstein auch mal seinen Elfenbeinturm im Regierungsviertel verlassen und mit normalen Menschen sprechen. Das ist hin und wieder ganz hilfreich, um seinen Kompass zu norden.

Man hat es derzeit als Mensch, der sich politisch links verortet, wirklich nicht einfach. Die gesamte Migrationsdebatte wird mittlerweile auch von Teilen der Linken derart unseriös geführt, dass man als bedingungsloser Verteidiger eines echten und fairen Asylrechts, das nicht nur in der Theorie, sondern auch in der Praxis gewährleistet wird, und als Verfechter einer durchdachten Integrationspolitik, oft bereits in die „rechte Ecke“ gedrängt wird, nur weil man abstruse Maximalforderungen ablehnt. Wenn es nun á la Augstein auch noch Schule macht, die Verteidigung des Sozialstaats als moralisches Verbrechen an ertrinkenden Migranten zu deuten, hat die politische Linke sich wohl endgültig selbst ins Aus manövriert.

Doch warum sollte man sich selbst in die Defensive begeben? Wer hat Jakob Augstein eigentlich die Prokura gegeben, für „die politische Linke“ zu schreiben? Niemand. Es ist ja richtig – Jakob Augstein schreibt öfters auch sehr kluge, aber eben auch manchmal sehr dumme Sachen. Er ist meinungsstark und überzieht gerne. Und wenn er mal in die falsche Richtung läuft, dann aber auch im gestreckten Galopp und mit wehenden Fahnen. Dass es ihm wohl eher um einen polarisierenden Meinungsbeitrag ganz im Sinne der Aufmerksamkeitsökonomie und nicht um die Sache ging, sollte eigentlich klar sein. Und was noch wichtiger ist: Augsteins Kolumne beschreibt doch überhaupt nicht die Position der gesellschaftlichen oder politischen Linken.

Mit keinem Wort geht er auf die Fluchtursachen ein. Er träumt seinen „deutschen Traum“ und verkennt dabei offensichtlich, dass niemand freiwillig flieht und es ziemlich egoistisch ist, die Flucht anderer Menschen zu seinem eigenen Traum zu verklären. Wenn man aus progressiver Sicht einen Traum haben kann, dann doch wohl den, dass kein Mensch mehr gezwungen ist, aus politischen oder ökonomischen Gründen seine Heimat zu verlassen. Dies ist aber nicht Augsteins „deutscher Traum“. Man könnte also sagen: Da waren wir wirklich schon weiter.

Oder ist es vielleicht vielmehr so, dass wir Jakob Augstein viel zu ernst nehmen? Kann es nicht auch sein, dass er nicht der große Denker, sondern auch nur ein ganz normaler Autor ist, der mal mehr, mal weniger schlaue Artikel und hin und wieder auch mal so richtigen Unsinn schreibt? Kann es vielleicht sogar sein, dass kein Subalterner sich dann traut, den großen intellektuellen Verleger darauf hinzuweisen und zu stoppen? Die Elitenverwahrlosung hat viele Gesichter. Und um Sie, liebe Leserinnen und Leser, wenigstens mit einer positiven Vision aus diesem nötigen, aber unerfreulichen Zwischenruf zu entlassen, hier noch ein Verweis auf die Genfer Rede von Jeremy Corbyn, der – anders als Jakob Augstein – seinen Kompass noch nicht verloren hat und überzeugend darlegt, dass Sozialstaat und Humanität keinesfalls Widersprüche sind.