Von Bürgern zweiter Klasse – Anmerkungen zu einem Interview im Tagesspiegel

Gert-Ewen Ungar
Ein Artikel von Gert-Ewen Ungar

Tja, da war der Tagesspiegel leider schneller. Über einen guten Freund, der hier in Moskau in einem schwulen Sportverein Volleyball spielt, wollte ich eigentlich an ein Interview mit dessen Vorstand kommen. Ich hatte angefragt, aber man hat sich offensichtlich für ein Interview mit dem  Berliner Tagesspiegel entschieden. Ein Zwischenruf von Gert-Ewen Ungar, der für die NachDenkSeiten die WM in Russland vor Ort beobachtet.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Die Auswahl war bestimmt nicht zufällig. Der Tagesspiegel passt deutlich besser zu der von Vorstand Alexander Agapov verbreiteten Meinung als ich. Bevor man sich jetzt der im Tagesspiegel verbreiteten These anschließt, dass in Russland Schwule Menschen zweiter Klasse sind, sollte man sich die impliziten Informationen des Interviews deutlich machen.

Die offensichtlichste davon ist: Es gibt in Russland ein Netz von LGBT-Sportvereinen. Wer hätte das gedacht nach all den Nachrichten über unterdrückte Schwule und mangelnde Rechte?

Darüber hinaus nehmen die Vereine des LGBT-Sportnetzwerks nicht nur an internationalen Veranstaltungen teil, sondern richten selbst internationale und nationale Turniere aus, bieten darüber hinaus vielfache Möglichkeiten zur Begegnung. Das klingt jetzt nicht so ganz nach staatlicher Unterdrückung von LGBT.

Diese Fakten decken sich auch nicht mit der Aussage Agapovs, in Russland sei alles nur schöne Fassade, dahinter sei dann nichts. Es gibt den Dachverband des LGBT-Sports, es gibt Vereine, es gibt eine gut funktionierende Infrastruktur für LGBT in Russland. Es sind eben keine Potemkinschen Dörfer, sondern tatsächlich existierende Gruppen, Diskotheken, Bars, Vereine. Hätte man so nicht gedacht, oder? Würdigt das der Tagesspiegel? Natürlich mit keinem Wort. Es geht um den Spin.

Allerdings verdeutlicht das Interview auch ein Problem. Das Problem ist eine in Russland wohlgezüchtete Erwartungshaltung. Alles, was im Westen als konträr zum russischen politischen Mainstream wahrgenommen wird, alles, was in irgendeiner Weise nach westlichen, liberalen Werten riecht, wird hier in Russland aus dem Ausland finanziert und man erwartet eine solche Finanzierung auch.

Ich erinnere mich noch an eine Aussage von eben jenem Freund, der hier in einem Moskauer LGBT-Verein Volleyball spielt. Der meinte, durch die russische Gesetzgebung, insbesondere dem Anti-Gay-Propaganda-Gesetz, sei zu befürchten, dass die ausländischen Sponsoren wegbrechen. Mich ließ das aufhören. Ich war ja auch schon in zahlreichen Vereinen sportlich aktiv, aber ausländische Sponsoren hatten wir nie. Wozu auch? Wir haben die Finanzierung immer selbst gestemmt. Die Erwartungshaltung ist in Russland eine andere. Man erwartet Unterstützung aus dem Ausland. Die Frage ist jedoch, warum sollten ausländische Sponsoren kleine Vereine in Russland unterstützen?

Und genau bei dieser Frage wird es interessant. Welcher Sponsor finanziert gänzlich uneigennützig die Freizeitaktivitäten sexueller Minderheiten im Ausland? Die Antwort ist: Keiner!

Wenn Geld fließt, gibt es Interessen. Wenn beispielsweise der LSVD, der Lesben- und Schwulenverband Deutschland, im Ausland unterstützt, dann geht es – die Schwulen und Lesben unterscheiden sich hier nicht vom Rest der Republik – um Export. Dieses Mal zwar nicht um den Export von Gütern, wohl aber um den Export von Werten und Sichtweisen. Dieser Export erzwingt eine Verschuldung, die Alexander Agapov offensichtlich versucht, mit dem Interview abzutragen. Der Zins dafür ist die Verbreitung und Instrumentalisierung, die in Deutschland unmittelbar stattfindet. Zahlreiche deutsche Organisationen, unter anderem die den Grünen nahestehende Heinrich-Böll-Stiftung, springen sofort auf das Thema auf. Das Narrativ vom homophoben Unrechtsstaat Russland, in dem die Menschenrechte mit Füßen getreten werden, wird erneut gefestigt. Bedauerlich.

Die Tatsache, dass hier Gay-Prides seit einigen Jahren untersagt sind, hat übrigens genau mit dieser westlichen Einflussnahme zu tun. Es war einfach ein bisschen zu viel an westlichem Engagement. Denn es gilt für den Export von Werten vermutlich genau das Gleiche wie für den Export von Waren: Wenn es nicht zu allzu großen Ungleichgewichten kommt, die Bilanzen ausgeglichen sind, ist das alles okay und sogar bereichernd. Man nennt das kulturellen Austausch. Nur ist das in Bezug auf Deutschland natürlich weder im Bereich der Waren noch im Bereich der Werte und Sichtweisen der Fall.

Man muss es sich einfach nur andersrum vorstellen, um zu verstehen, was hier vor sich geht. Stellen wir uns also vor, russische Organisationen würden in Deutschland Vereine und Organisationen finanzieren und beraten, um eine russische Sicht der Dinge, um russische Werte in Deutschland zu implementieren. Ein politischer und medialer Aufschrei wäre sichergestellt. Es wäre sofort von russischer Aggression die Rede, von einem Angriff auf Demokratie und Freiheit.

Russland lebt seit Dekaden mit diesen Aktivitäten, den Versuchen der Einflussnahme unsererseits. Keine parteinahe deutsche Stiftung, die nicht in Russland vertreten ist, kein transatlantischer Think-Tank, der nicht versuchen würde, ein Bein in die russische Tür zu bekommen. Und es funktioniert ja auch ein Stück weit. Alexander Agapov weiß offensichtlich, was ihm zu sagen aufgegeben ist.

Ich spreche mit Nikolay, Gründer der Organisation Gay Russia. Auch er will Neuerungen, will Veränderung, aber er will sie alleine durchsetzen, ohne westliche Hilfe und vor allem ohne westliche Anleitung und Weisung. Er setzt auf den europäischen Menschenrechtsgerichtshof, um Gesetzesänderungen in Russland herbeizuführen, schließlich ist Russland Mitglied im Europarat. Zumindest noch. Nikolay klagt auf Teufel-komm-raus.

Bob von den Moskow Bears setzt dagegen einfach auf Veranstaltungen und meint, es wäre einfach wichtig, zusammenzukommen. Gesellschaftliche Sichtbarkeit hält er für unwichtig, sogar für kontraproduktiv. Es geht ihm nicht um die Herausstellung besonderer Merkmale und das Erzwingen von Akzeptanz ihnen gegenüber. Es geht ihm darum, Teil der Gesellschaft zu sein, aber eben kein exklusiver Teil.

Welche der beiden Herangehensweisen richtig oder besser ist, vermag ich nicht zu sagen. Letztlich muss Russland entscheiden, wie es leben und zusammenleben möchte.

Generell halte ich die Freiräume hier für relativ groß und die gelebte Toleranz für weitreichend.

Gestern beispielsweise haben wir als Mitbringsel einen Kokoschnik gekauft. Ein Kokoschnik ist eine traditionelle Kopfbedeckung für russische Frauen. Zu meiner Überraschung fragte uns die Verkäuferin, ob der Kokoschnik für einen Mann oder eine Frau sein soll. Ein Mann hätte in der Regel einen etwas größeren Kopfumfang, was beim Kauf zu beachten sei. Die Frage war kompetent und irgendwie so gar nicht homophob.

Was ich allerdings zu sagen vermag, ist, wie irritierend ich es finde, dass Fragen zur sexuellen Identität plötzlich zu etwas ganz Großem geworden sind, wie sie plötzlich zu einem  Instrument der Geopolitik geworden sind. Dabei sind die Unterschiede zwischen Russland und den Ländern des Westens in der Gesetzgebung im Prinzip gering.

Dass es soweit kommen konnte hat etwas mit dem Verlauf der Diskussionen der Bewegung im Westen zu tun. Es ist sicherlich ganz gut, sich zu vergegenwärtigen, was da in den letzten Dekaden passiert ist. Aus der Schwulenbewegung der 70-er und 80-er Jahre wurde die Schwulen- und Lesbenbewegung. Die Aidskrise verlieh der Bewegung einen gewissen Schub, denn plötzlich wurde zumindest männliche Homosexualität sichtbar, wenn auch nur als Krankheit und Tod. Teile der Lesbenbewegung bestanden damals darauf, ebenfalls Opfer der Aidskrise geworden zu sein, obwohl aus den Statistiken hervorgeht, dass dem nicht so ist. Das dental dam war damals bei den gleichgeschlechtlich verkehrenden Frauen in aller Munde, im wahrsten Sinne des Wortes. Aus dieser durch Krankheit bekannter und einflussreicher gewordenen Schwulen- und Lesbenbewegung wurde die Lesben- und Schwulenbewegung, denn die Lesben fühlten sich durch die Hintanstellung im Namen diskriminiert.

Einem Teil der Bewegung war das Sichtbar-Werden durch Krankheit und frühen Tod noch zu wenig zielführend. Es wurde mit einer Zwangsouting-Kampagne begonnen, die sich vor allem gegen Persönlichkeiten aus Politik und Entertainment-Geschäft richtete. Die Idee, dass sich durch gesellschaftliche Sichtbarkeit auch Veränderung herbeiführen würde, hat hier ihren Ursprung. Ein bisschen was Wahres ist dran, allerdings führt dies offensichtlich auch zu einer völligen Entsolidarisierung von Gesellschaft.

Irgendwann Mitte der Neunziger tauchte dann die Bezeichnung LGBT auf. Auch zwanzig Jahre danach habe ich noch keinen Vertreter des B, das für Bisexualität steht, kennengelernt, der sich hier politisch vertreten fühlt. Bisexuelle, so es das als Lebenskonzept tatsächlich geben sollte, haben offenbar kein Interesse an einer politischen Repräsentation. Die Transsexuellen wiederum haben ganz eigene Anliegen. Irgendwie ist es gelungen, eine Bewegung zu erschaffen, der für den Fall von Krisen die Sollbruchstellen unmittelbar eingeschrieben wurden und die allein schon durch die Heterogenität ihrer Zusammensetzung permanent mit sich selbst beschäftigt ist.

Generell sind die Diskussionen innerhalb der LGBT-Bewegung gekennzeichnet von einem Wettbewerb um die gefühlt größte Diskriminierung. Das hat sich mit den Jahren nicht geändert und wurde gleichsam zu ihrem Wesensmerkmal.

Tatsächlich linke Themen nach gerechter Verteilung und Teilhabe sind ausgeklammert. Man beweist sich gegenseitig das unglaubliche Ausmaß an vermeintlicher Diskriminierung gegenüber der je eigenen Gruppe und hält sich dabei für links und emanzipatorisch.

Aktuell fühlen sich Lesben von Transsexuellen diskriminiert. Man kann es nicht leugnen: So, wie der LGBT-Diskurs geführt wird, trägt er alle Anzeichen einer Dekadenzerscheinung. Er markiert den gesellschaftlichen Zerfall in Gruppen und Untergruppen, die sich wechselseitig die Solidarität verweigern, denen auch der Blick für das Ganze völlig fehlt.

Die politischen und ökonomischen Eliten halten das nicht ohne Grund für einen unserer größten Werte-Exportschlager, denn wo das implementiert wird, lässt sich Neoliberalismus ungestört exekutieren. Es wundert daher nicht, dass finanzstarke Oligarchen dies gerne unterstützen, denn von tatsächlicher Systemkritik, von tatsächlicher Solidarität ist die LGBT-Bewegung himmelweit entfernt. Sie verfügt über keine positive gesellschaftliche Vision von Miteinander. Eine solche Vision zu entwerfen, ist der Bewegung auch strukturell unmöglich.

Übersehen wird vor allem, dieser Einschub sei erlaubt, dass schwule Männer mit heterosexuellen Männern politisch wesentlich mehr verbindet als beispielsweise mit lesbischen Frauen. Männliche Sexualität generell scheint dem Gesetzgeber weitaus bedrohlicher und daher auch weitaus regulierungswürdiger zu sein als weibliche. Der Paragraph 175 betraf nur Männer, der Exhibitionismusparagraph betrifft nur Männer, die Freierbestrafung wird auch nur Männer betreffen, und so weiter und so fort.

Das hat weniger mit einer tatsächlich wilderen männlichen Sexualität zu tun, sondern hat historische Gründe. Unter anderem den, dass bis weit ins zwanzigste Jahrhundert als gesicherte wissenschaftliche Annahme galt, Frauen hätten gar keine eigene Sexualität. Dass das Humbug ist, ist erst seit ein paar Dekaden wissenschaftlicher Standard. Das Strafrecht jedenfalls versucht seit 150 Jahren nahezu ausschließlich männliche Sexualität zu regulieren und niemanden stört es. Dabei ist das tatsächlich diskriminierend.

Doch zurück zum Thema: Wir sollten hier sehr selbstkritisch mit unserem Exportschlager LGBT umgehen, denn er ist keiner. Er dient nicht der Verbesserung von irgendwas, sondern teilt und spaltet.

Wir diskutierten hier in Moskau das Interview von Alexander Agapov im Tagesspiegel. Mein Volleyball spielender Freund meinte, der Kampf gegen Diskriminierung wäre wichtig. Sein Lebenspartner hielt ihm entgegen, dass Schwule so sehr diskriminiert in Russland nicht seien. Die Antwort darauf war, dass man sich auf dem Roten Platz nicht küssen könne.

Ich hatte ein Deja-vu-Erlebnis. Seit ein paar Jahren ist das gleichgeschlechtliche Küssen auf dem Roten Platz in LGBT-Kreisen zum Maßstab für die in Russland herrschende Freiheit geworden. Dieser Maßstab zeigt eigentlich das ganze Elend der Diskussion.

Zum Einen weiß ich aus eigener Erfahrung: es geht, es interessiert ehrlich gesagt niemanden. Zum Anderen ist die Frage, wer implementiert solche Maßstäbe in einen Diskurs, der angeblich ernstgenommen werden will? Und die dritte Frage, die sich anschließt, ist: Wieso gelingt das auch noch? Sind wir wirklich schon so verblödet?

Die Diskussion endete in einer Beziehungskrise. Das Spaltende der LGBT-Argumentation funktioniert wunderbar. Jedenfalls hat Alexander Agapov weder Russland noch der russischen Community mit seinem Interview einen Gefallen getan und einem Zusammenwachsen wieder mal ein paar Steine in den Weg geschmissen. Es wäre besser gewesen, er hätte das Interview mir gegeben.

Die NachDenkSeiten sind für eine kritische Meinungsbildung wichtig, das sagen uns sehr, sehr viele - aber sie kosten auch Geld und deshalb bitten wir Sie, liebe Leser, um Ihre Unterstützung.
Herzlichen Dank!