Studiengebührenentscheidung des Bundesverfassungsgerichts – ein politisches Urteil

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Das Karlsruher Urteil, den Grundsatz der Studiengebührenfreiheit im Hochschulrahmengesetz zu kippen, ist weniger ein juristisches, sondern eher ein politisches Urteil.
Ein politisches Urteil, weil es sich erstens die Position der CDU-regierten Länder in der Föderalismuskommission zu eigen macht und dem Bund nahezu jede Zuständigkeit in der Bildungspolitik abspricht. Von der Rahmenkompetenz des Bundes bleibt nur noch ein „Rahmen“ ohne Kompetenz.
Weil es zweitens das aus der Wissenschaftsfreiheit (Art. 5 GG) in Verbindung mit dem Recht auf freie Berufswahl (Art 12 GG) und dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20 GG) abgeleitete Recht auf freien Zugang zu einer Hochschulausbildung bei allen Abwägungen komplett ausblendet.
Weil es drittens alle Argumente für das „Erfordernis“ einer bundesgesetzlichen Regelung der Gebührenfreiheit ohne jede Begründung negiert, dafür aber allen Behauptungen und Annahmen der Gebührenbefürworter kritiklos folgt.

Zum Ersten: Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, wonach die Bestimmung der Gebührenfreiheit in § 27 Abs.4 Hochschulrahmengesetz nichtig ist, hat die bisherige Wertentscheidung über die gesellschaftspolitische Einordnung eines Studiums in Deutschland grundlegend revidiert:
Eine Hochschulausbildung wird nicht mehr – wie es seit der „Bildungskatastrophe“ der sechziger Jahre allgemeiner gesellschaftlicher Konsens war – als ein gemeinnütziges öffentliches Gut betrachtet, dessen Förderung eine öffentliche Aufgabe ist, sondern als ein privates Gut, als eine Ware angesehen, für die ein Preis verlangt oder eine „private Investition“ erwartet werden kann.
Wenn sogar ein derart grundlegender Paradigmenwechsel in der Hochschulpolitik nicht die Einheitlichkeit des Rechts auf Bildung (Art. 72 Abs. 2 GG) berührt und keine Rahmenzuständigkeit für den Gesamtstaat begründen kann, dann bleibt für den Bund nur noch ein „Rahmen ohne Bild“.

Die Karlsruher Richter können zwar nicht leugnen, dass mit der Entscheidung, „dass seit dem Jahr 1970 keine allgemeinen Studiengebühren erhoben werden“, ein „allgemeiner hochschulpolitischer Grundsatz fixiert“ worden sei, sie geben aber diesen „Grundsatz“ der damaligen Hochschulreform ohne weitere Abwägungen preis, indem sie dem wohlfeilen Argument folgen, dass Studiengebühren den Hochschulen eine dringend notwendige zusätzliche „Einnahmequelle“ verschafften.
Die Frage, warum es zu einer Unterfinanzierung der Hochschulen gekommen ist, wird völlig außen vor gelassen. Dass hinter der Sparpolitik der öffentlichen Hände eine politische Wertentscheidung steht, dass allein mit dem Verzicht auf die Senkung des Spitzensteuersatzes ein Mehrfaches an Einnahmen erzielt werden könnte als mit der Einführung der Studiengebühr, das wird nicht zur Kenntnis genommen.

Das politische Credo des neoliberalen Mainstreams, das da lautet, Steuern senken, staatliche Verantwortung zurückdrängen, öffentliche Leistungen privatisieren, wird von den Richtern nun auch zur Grundlage ihrer Rechtsauslegung erhoben.

Wie schon beim Urteil über die Juniorprofessur (siehe Nachdenkseiten vom 27.7.04)
ergreift die Mehrheit der den Unionsparteien nahestehenden Richter des Zweiten Senats Partei für die vor allem von den CDU-Ministerpräsidenten in der Föderalismuskommission vertretene Position, dass der Bund in der Bildungspolitik zu einer „außerordentlich zurückhaltenden Gesetzgebung verpflichtet“ sei und leistet damit – paradoxerweise – im Zeitalter der Internationalisierung der Hochschulausbildung der hochschulpolitischen Kleinstaaterei weiter Vorschub. Von der Rahmenkompetenz des Bundes bleibt nur noch ein Rahmen ohne Kompetenz.

Zum Zweiten: Da die Richter in der Einführung der Studiengebühr keine bildungspolitische Grundsatzfrage des Hochschulwesens mehr sehen, sondern eben nur noch eine Frage nach der Erschließung einer zusätzlichen Einnahmequelle für die Hochschulen, können sie das Grundrecht auf Bildung, die Grundsätze der Freiheit der Berufswahl oder gar das Sozialstaatsgebot – alles konstituierende Begründungen für die Studiengebührenfreiheit von Verfassungsrang – ja auch den Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, locker beiseite schieben: „Auf die bildungspolitische Einschätzung der Erhebung allgemeiner Studiengebühren und des dazu vorgelegten Materials kommt es hier indes nicht an“ sagen die Richter.
Gebühren-Geld macht eben sinnlich und das Geld blendet „Justitia“ offenbar so sehr, dass sie meint, auf das Tuch vor ihren Augen – will sagen, auf ihre Unabhängigkeit und Neutralität gegenüber den vor Gericht stehenden Parteien – verzichten zu können.

Zum Dritten: Letztlich stützte das Gericht seine Entscheidung darauf, dass die Normierung der Studiengebührenfreiheit im Hochschulrahmengesetz nicht „erforderlich“ sei, um die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in den Ländern der Bundesrepublik zu wahren.

Die Art und Weise, wie die Überprüfung der „Erforderlichkeit“ erfolgt, ist mehr als ärgerlich. Sie entbehrt jeglicher juristischen Begründung und folgt ausschließlich politischer Wertung. Noch mehr: Die Richter bügeln jeden empirischen Hinweis und jedes ernst zu nehmendes Argument für die Studiengebührenfreiheit mit spekulativen Annahmen und unbewiesenen Behauptungen ab, so als gehe es von vornherein nur noch darum, den Befürwortern der Studiengebühren und ihren ideologischen Begründungen „den Weg frei zu machen“. Karlsruhe macht den Weg für Studiengebühren frei, so lauten denn auch die triumphierenden Schlagzeilen von SPIEGEL und ZDF.

Ob die Einführung von Studiengebühren, wie der Bundesgesetzgeber meint, „zu einer Verunsicherung derjenigen führe, die in den nächsten Jahren ein Studium aufnehmen wollten“, was in letzter Konsequenz zu einem Rückgang der Zahl der Studienanfänger führen könne, ob die „Festschreibung der Gebührenfreiheit Rechtssicherheit“ schaffe und die „Studierneigung für das ganze Bundesgebiet“ unterstütze, ob damit „bildungsferne Bevölkerungskreise an das Hochschulstudium herangeführt“ werden könnten, für alle diese Argumente – so das Urteil – „bestehen jedoch zurzeit keine hinreichenden Anhaltspunkte“. Das behaupten die Richter einfach so, ohne dass sie sich auch nur die geringste Mühe machten, auch nur ein einziges Gegenargument zu nennen.

Was jede Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks seit Jahren empirisch erhärtet, nämlich dass für die überwiegende Anzahl der Studierenden (vor allem aus Kostengründen) sowohl für die Wahl des Studienortes als auch für die grundsätzliche Entscheidung, überhaupt zu studieren, die „Heimatnähe“ der Hochschule von großem Gewicht ist, das ist für unsere Karlsruher Richter „nicht ohne weiteres einschätzbar“.
Sehr wohl meinen die Richter dagegen einschätzen zu können, dass „Studiengebühren in der bislang diskutierten Größenordnung von 500€ je Semester im Vergleich zu den …Lebenshaltungskosten von nachrangiger Bedeutung sind.“ Das nenne ich schlicht ein die Lebenswirklichkeit der Unter- und Mittelschichten verweigerndes „Oberschicht-Denken“. Zumal man keine prophetische Gabe haben muss, um vorher zu sagen, dass die derzeit gehandelten 500€ nur eine Einstiegdroge sind.

Obwohl es schon konkrete Schubladengesetze zur Einführung von Studiengebühren in mehreren Ländern gibt und obwohl es noch kein einziges durchdachtes, geschweige denn durchfinanziertes Fördermodell gibt, das „bei einer Einführung von Studiengebühren den Belangen einkommensschwacher Bevölkerungskreise angemessen Rechnung trägt“, meinen die Richter ohne jede weitere Auflage „davon ausgehen“ zu können, dass die Länder die geeignete Regelungen schon schaffen würden. Das ist blauäugiger Optimismus, aber keine Juristerei.

Auch die von der Bundesregierung angeführte historische Tatsache, „das nach Einführung von Langzeitstudiengebühren in Hessen im Sommersemester 2004 rund 1400 Studierende hauptsächlich von hessischen Hochschulen an die Universität Mainz gewechselt sind“, „erschüttert“ die Richter nicht.
Sie verweisen dazu nur ziemlich zynisch darauf, dass „Verschlechterungen der Studienbedingungen an einzelnen Hochschulen…die freie Wahl der Ausbildungsstätte“ schließlich nicht einschränkte und verlassen sich auf „die nahe liegende Annahme“, dass die mit der Überbelegung von Hochschulen ohne Studiengebühr „verbundenen Qualitätsverluste regulierend auf des Verhalten der Studierenden“ einwirke und sich dadurch binnen kurzem wieder eine ausgewogene Inanspruchnahme der Hochschulen einstelle. Empirische Sachverhalte werden also mit ziemlich studierendenverachtenden hypothetischen Betrachtungen, dass sich das alles von selbst regelt, aus der Welt geräumt. Die „invisible hand“ lässt grüßen.

Selbst die jetzt schon vorhersehbare „Erwägung, dass durch die Entscheidung einzelner Länder allgemeine Studiengebühren zu erheben, die anderen Länder …politisch gezwungen sein könnten, ebenfalls Studiengebühren einzuführen, zeigt keine Gefahr für die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse auf“, meint das Gericht.

Man kann einen Tatsachenhinweis und ein Argument der Befürworter der Studiengebührenfreiheit nach dem anderen nehmen, keines wird entkräftet, sondern allenfalls mit spekulativen und hypothetischen Behauptungen der Gebührenbefürworter abgebügelt.

Die gesamte Urteilsbegründung könnte auch aus den Broschüren der wichtigsten PR-Agentur für die Einführung der Studiengebühren, dem Centrum für Hochschulentwicklung der Bertelsmann-Stiftung entnommen sein. Das gilt bis hin zu der Behauptung, dass Studiengebühren die Chance eröffneten, „die Qualität der Hochschulen und eine wertbewusste Inanspruchnahme ihrer Ausbildungsleistungen zu fördern und auf diese Weise auch Ziele der Gesamtwirtschaft zu verfolgen.“ Um die Ziele der „Gesamtwirtschaft“ und nicht mehr um die Förderung der wissenschaftlichen Ausbildung geht es also?

Man kann dieses juristisch furchtbare Urteil mit einem Satz bewerten:
Die millionenschweren Investitionen in die Propagierung von Studiengebühren von INSM, von Stifterverband der Wirtschaft oder von der Bertelsmann-Stiftung haben sich gelohnt. Ihre andauernde pseudoökonomische Propaganda für Studiengebühren hat sich im Laufe der letzten Jahre in weiten Teilen der Politik und den Medien durchgesetzt. Die Betriebswirte vom Centrum für Hochschulentwicklung aus Gütersloh haben jetzt eben auch in Karlsruhe gewonnen.

P.S.: Dass en passant mit diesem Urteil noch die „verfasste Studierendenschaft“ abgeschafft wurde, passt in das Bild, dass der künftige Student als zahlender „Kunde“ ja zum „König“ wird und deshalb keine demokratische Mitbestimmung mehr nötig hat.