Der Fall Magnitski – Meisterstück politischer PR und trauriges Versagen der Medien

Jens Berger
Ein Artikel von:

2009 starb der russische Wirtschaftsprüfer Sergei Magnitski in einem Moskauer Untersuchungsgefängnis. Drei Jahre später schafften es die Betreiber eines dubiosen Hedge-Fonds, durch monumentale Lobbying-Aktivitäten in den USA ein Gesetz namens “Magnitsky Act” durchzudrücken, das als Vorläufer weiterer Anti-Russland-Sanktionen gelten kann. Auch auf europäischer Ebene läuft die Lobby-Maschinerie in Sachen Magnitski auf Hochtouren. Doch was ist in diesem Fall überhaupt wahr? War Magnitski ein Whistleblower, der Verbrechen des russischen Staates aufdecken wollte und deshalb sterben musste, wie es die PR des Hedge-Fonds und Verbündete aus den transatlantischen Think Tanks rund um die ehemalige Grünen-Politikerin Marieluise Beck behaupten? Dies können Sie in jeder Zeitung so nachlesen. Doch es gibt berechtigte Zweifel an dieser Geschichte. Zweifel, denen auch in einem vom ZDF und Arte produzierten Dokumentarfilm nachgegangen wird. Der ist offensichtlich so brisant, dass die Anti-Russland-Lobby rund um Marieluise Beck den Film, der auf Festivals bereits mit Preisen überhäuft wurde, bis heute durch rechtliche Drohungen zurückhalten konnte. All dies sollte man im Hinterkopf behalten; vor allem dann, wenn Beck und Co. mal wieder über die Bedrohung der Pressefreiheit in Russland dozieren. Von Jens Berger.

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Der Versuch einer Kurzfassung der Vorgeschichte

Um die sehr komplizierte Thematik ein wenig greifbarer zu machen, lohnt es sich, die Vorkommnisse vor zehn Jahren von der medialen und politischen Aufarbeitung erst einmal zu trennen. Wer war Sergei Magnitski und warum musste er sterben? All dies ist wohl nicht zu beantworten, wenn man die Geschichte nicht mit der eigentlichen Schlüsselperson beim “Fall Magnitski” anfängt – dem britischen Hedge-Fonds-Manager Bill Browder. Der gebürtige US-Amerikaner, der aus Steuergründen die britische Staatsangehörigkeit annahm, gehörte in den “wilden Jahren” der Jelzin-Ära zu den größten ausländischen Finanzspekulanten, die ihren Teil vom gigantischen russischen Kuchen abbekommen wollten. Sein Hedge-Fonds “Hermitage Capital” konnte in der Russischen Föderation binnen weniger Jahre vom Steuerparadies Guernsey über weitere Steuerparadiese, wie die russische Republik Kalmückien, Aktiva von mehr als vier Milliarden US-Dollar ergattern. Hermitage war damit die Nummer Eins auf dem russischen Markt. Dass man es mit den Gesetzen und vor allem der Steuerpflicht nicht so genau nahm, versteht sich schon fast von selbst. So waren halt die “Räuberjahre” im “wilden Osten”, wie sie heute retrospektiv genannt werden. Vor Gericht gelten solche Ausreden jedoch bekanntlich nicht.

Das Ende dieser Ära begann um das Jahr 2003 herum, als der neue Präsident Putin seine Position gefestigt hatte und langsam, aber immer deutlicher gegen diejenigen Oligarchen und Glücksritter vorging, die sich nicht an die neuen Regeln hielten. Die ordnungsgemäße Versteuerung der Gewinne, sowie das Verbot, Anteile an strategischen Unternehmen außer Landes zu verschieben, gehörte nun mit zu den Regeln. Bill Browder, der anfangs opportunistisch Putin durchaus unterstützte, nahm diese Drohungen offenbar nicht ernst und geriet sowohl wegen Steuerhinterziehung als auch (das hängt miteinander zusammen) wegen des Verschiebens von Firmenanteilen über Briefkastenfirmen in Steueroasen schnell in das Visier der Behörden. Da Browder nicht kooperieren wollte, wurde ihm 2005 die Einreise nach Russland verwehrt. Bis zu diesem Zeitpunkt verlaufen die Erzählstränge von Browder und Co. und seinen Kritikern weitestgehend gleichförmig, obgleich der Spekulant natürlich andere Akzente setzt. Was ab 2007 mit Browders Firmengeflecht geschah, ist jedoch bis heute nicht klar zu beantworten.

Die „offizielle“ Browder/Beck-Variante

Geht es nach Bill Browder und seinen Unterstützern, wie der antirussischen Publizistin Marieluise Beck, setzte eine mafiöse Vereinigung aus Halbweltgrößen und Staatsbeamten 2007 zur großangelegten Enteignung von Browders Imperium an. Dazu habe man angeblich ohne Grund die Firmenzentrale gestürmt und wichtige Stempel und Gründungsurkunden entwendet und später gefälscht, um die Browder-Firmen an einen Strohmann zu überschreiben und dann mit gefälschten Firmenkennzahlen vom russischen Staat eine Steuerrückerstattung i.H.v. 230 Mio. US-Dollar zu ergaunern. Die Täter hatten demnach Erfolg und der geprellte russische Staat übernahm die “Sicherheiten” aus dem Browder-Imperium, um wieder an das gestohlene Geld zu kommen. 2009 tauchte jedoch der von Browder beauftrage Moskauer Staranwalt Sergei Magnitski auf, entdeckte den Betrug, wurde dann von korrupten Beamten inhaftiert, rückte selbst unter Folter nicht von seinen Anschuldigungen ab und musste dies mit seinem Leben bezahlen. Dass Magnitski unter den menschenunwürdigen Bedingungen in russischen Gefängnissen litt und wegen der unzureichenden und inkompetenten medizinischen Versorgung im Untersuchungsgefängnis starb, ist dabei auch unstrittig. 20 Beamte wurden im Rahmen einer vom russischen Staat veranlassten Untersuchung entlassen, grundlegende Gesetze mussten geändert werden. Strittig ist jedoch, ob Magnitski ein heldenhafter Whistleblower oder ob er nicht als Teil der Browder-Maschinerie selbst an Straftaten beteiligt war, erwischt wurde und in diesem Zusammenhang auf tragische Art und Weise während der Untersuchungshaft starb.

Die alternative Nekrasov-Variante

Dies legt zumindest der von ZDF und Arte produzierte Dokumentarfilm “The Magnitsky Act – Behind the Scenes” nahe, in dem der Grimme-Preisträger Andrej Nekrasov den Magnitski-Fall akribisch untersucht. Nekrasovs wohl wichtigste Erkenntnis ist dabei, dass die im Westen verbreitete “offizielle Version”, die aufgrund der Relevanzkriterien natürlich auch zur „Wikipedia-Wahrheit“ wurde, sich nahezu 1:1 einzig und allein auf Aussagen und Dokumente von Browder und seinen Anwälten stützt. Selbst wenn Browder nun eine hoch seriöse, über sämtliche Zweifel erhabene und ehrbare Person wäre, läge hier doch ein Interessenkonflikt vor. Selbstverständlich hat Browder das Ziel, sich als Opfer dubioser Machenschaften und nicht selbst als verurteilten Wirtschafts- und Steuerkriminellen darzustellen; stets mit dem Fernziel versehen, Putin zu stürzen und sein Milliardenvermögen in Russland irgendwann einmal zurückzubekommen. 

Gesichert ist auch, dass Browder mehrfach die Unwahrheit gesagt hat und seine Version etliche logische Lücken aufweist. So war Sergei Magnitski beispielsweise gar kein Anwalt, sondern ein auf Steuerrecht spezialisierter Betriebsprüfer, der für Browder öfters als Berater tätig war. Die Akten legen wohl auch nahe, dass Browder selbst – vielleicht sogar mit Hilfe Magnitskis – den Trick mit den fälschlicherweise zurückgeforderten Steuerrückzahlungen praktiziert hat. Es ist also ebenso gut möglich, dass Browder und Magnitski nicht Opfer, sondern Mittäter der Mafia waren, um auf illegale Art und Weise den russischen Staat wieder um die Millionen und Milliarden zu bringen, die Browder wohl nach eigenem Ermessen “zustehen”. 

Auch diese Variante, die im Dokumentarfilm zumindest angedacht wird, ist keinesfalls belegbar und was sich genau in diesem Wirtschaftskrimi abgespielt hat, werden wir wohl auch nie in Erfahrung bringen. Nun gibt es zahlreiche Kriminalfälle, die niemals aufgeklärt werden. Aber der Fall Magnitski ist etwas Besonderes, da er mittlerweile ein Politikum ist. Betrachten wir also nun die zweite Ebene, die politische und mediale Aufarbeitung des Falls Magnitski.

Ein grandioser Lobby-Erfolg

Kaum war Sergei Magnitski unter der Erde, begann Bill Browder bereits mit seinen intensiven Lobby-Anstrengungen. Der Brite, der die US-Staatsbürgerschaft aus steuerlichen Gründen abgegeben hatte, betätigte sich nun in Washington als Lobbyist in eigener Sache. Einer seiner ersten großen Erfolge war es, den heute schwerkranken republikanischen “Falken” John McCain mit ins Boot zu holen. Gemeinsam schaffte man es 2012, eine Gesetzesnovelle mit dem Namen “Magnitsky Act” einzubringen, die als eine der ersten Russland-Sanktionen der Gegenwart noch zu Obamas Zeiten das politische Klima zwischen den USA und Russland ruinierte und die den Beginn einer bis heute nicht endenwollenden Kaskade gegenseitiger Sanktionen und Beschuldigungen einleitete. 2016 wurde der “Magnitsky Act” sogar erweitert und dient nun als “Global Magnitsky Act” als Rechtsrahmen, weltweit die Vermögenswerte ausländischer Regierungsbeamter zu beschlagnahmen, die in Verdacht stehen, die Menschenrechte zu verletzen. Es versteht sich schon fast von selbst, dass damit keine “pro-amerikanischen” Verbrecher gemeint sind. Die meisten nicht-russischen Personen auf der Sanktionsliste stammen aus Nicaragua und gehören den Sandinisten an, die Washington ohnehin ein Dorn im Auge sind.

Der “Magnitsky Act” ist jedoch kein rein amerikanisches Phänomen. Auch auf EU- und Europarat-Ebene hat Bill Browder ganze Arbeit geleistet. 2013 verabschiedete das Europaparlament eine “Empfehlung” an die europäischen Regierungen, ähnliche Gesetze wie den amerikanischen “Magnitsky Act” zu verabschieden. Dies wurde bislang von Estland, Lettland, Litauen und erst im Mai diesen Jahres auch von Großbritannien befolgt. Erstaunlich ist hier vor allem, dass die Empfehlung des Europaparlaments sich auf den Bericht des Schweizer Sonderberichterstatters Andreas Gross bezieht, der sich seinerseits offenbar vor allem auf Dokumente gestützt hat, die er direkt und indirekt von Bill Browder bekommen hat. Als Partnerin von Browder trat auf europäischer Ebene übrigens die dubiose ehemalige Grünen-Politikerin Marieluise Beck auf, die als ausgemachter Falke gilt und mittlerweile ihr eigenes Think Tank betreibt. 

Politik und Medien gehen im Fall Magnitski Seit´ an Seit´. Im gesamten medialen Mainstream wird die hierzulande offizielle “Browder/Beck-Version” nicht hinterfragt, obgleich es dazu zahlreiche Gründe gäbe. Im Gegenteil – bis heute gilt Bill Browder als wackerer Kämpfer für Menschenrechte und edler “Putin-Gegner”. Risse an diesem Narrativ werden gar nicht erst zugelassen.

Wir beerdigen die Pressefreiheit am Tag der Pressefreiheit

Der 3. Mai 2016 wurde als Tag der Pressefreiheit gefeiert. An diesem Tag sollte auf Arte der Dokumentarfilm “The Magnitzky Act – Behind the Scenes” ausgestrahlt werden. Der Film ist eine Dokumentation des als Putin-Kritiker geltenden Grimme-Preisträgers Andrej Nekrasov. Nekrasov kamen selbst erst während der Recherche zum Film erhebliche Zweifel an der Browder-/Beck-Version und als guter Journalist ließ er diese Zweifel auch in seinen sehr kritischen Film einfließen. Nekrasov stellt unbequeme Fragen und wenn man den Film verfolgt hat, kann man die unkritischen Berichte der großen Medien und die politischen Entscheidungen auf Basis der Schilderungen Browders nicht mehr ohne weiteres teilen. Genau dies war für Browder und Marieluise Beck ein zu großes Risiko. Also ging man in die Offensive.

Kurz vor Ausstrahlung der Dokumentation lobbyierte Marieluise Beck in den Gremien von ZDF und Arte und Bill Browder ließ aus den fernen USA eine gepfefferte Klagedrohung an die Öffentlich-Rechtlichen versenden. Er fühle sich in seinen Persönlichkeitsrechten verletzt. Das ist zwar Unsinn, aber das Prozesskostenrisiko bei einem Streit um die Persönlichkeitsrechte eines milliardenschweren Hedge-Fonds-Managers ist nicht eben unerheblich. So knickten ZDF und Arte ein und strichen die Dokumentation am Tag der Pressefreiheit aus ihrem Programm.

Hat Putin etwas in den Hinterhand?

Daraufhin wurde es ruhig um den Magnitski-Fall. In den USA brachte Robert Parry auf der Seite consortiumnews.com immer wieder etwas zum Thema, in Deutschland war es das Münchner Onlinemagazin Telepolis, das den Fall ehrenwerterweise häufig kritisch begleitete. Aufhorchen mussten jedoch alle Pressevertreter, als Wladimir Putin bei der abschließenden Pressekonferenz zum Gipfel in Helsinki den Namen Browder in den Mund nahm. Laut Putin habe Browder sein in Russland ergaunertes Vermögen unter anderem auch für nicht unerhebliche Wahlkampfspenden an Hillary Clinton eingesetzt und dabei sollen ihm offenbar auch die amerikanischen Dienste zu Hilfe gekommen sein. Das ist durchaus im Rahmen des Möglichen und wäre – so Russland diese Vorwürfe denn belegen kann – ein echter Knaller in der verrückten Debatte darum, wer im Wahlkampf wen wann warum unterstützt hat. Ein Wirtschaftskrimineller, der es auf Russlands Schätze abgesehen hat und Clinton unterstützt, wäre da natürlich ein Punkt, der den Trump-Gegnern äußerst ungelegen kommt.

Auf die Medien ist leider kein Verlass

Warten wir also ab. Was man jedoch bereits jetzt als Zwischenresümee sagen kann, ist, dass (nicht nur) in dieser Frage auf unsere Medien absolut kein Verlass mehr ist. Man plappert nach, was ein einschlägig voreingenommener Beteiligter erzählt, lässt sich seine Kommentare von einer radikal subjektiven Lobbyistin in den Block diktieren und nimmt Zweifel an dieser Version noch nicht einmal zur Kenntnis. Schlimmer noch – man unterdrückt Kollegen, die ihren Job noch ernst nehmen und stellt sich nicht hinter sie, wenn sie Opfer von Zensur werden. Das ist – mit Verlaub – hundserbärmlich und das ist dann auch das eigentliche Fazit aus dem “Magnitski-Fall”.