Ein Stadtratsbeschluss soll in München tabu sein

Rolf-Henning Hintze
Ein Artikel von Rolf-Henning Hintze

Vorbei sind die Zeiten, in denen man sich in München mit israelischer Besatzungspolitik befassen konnte, jedenfalls in städtischen Räumen. Das war das Ziel eines Stadtratsbeschlusses vom vergangenen Dezember, den SPD und CSU gemeinsam herbeigeführt haben. Aber nicht nur das: Selbst für ein Streitgespräch über eben diesen Stadtratsbeschluss wurde unlängst ein städtischer Saal verweigert. Der Initiator der Veranstaltung klagt nun beim Verwaltungsgericht. Von Rolf-Henning Hintze[*].

„Das verstößt doch eindeutig gegen das Grundgesetz“, war die erste Reaktion des Münchner Rentners Klaus Ried, als er das Schreiben las, mit dem ihm das Münchner Stadtmuseum einen Saal für ein Streitgespräch mit dem Titel „Schränkt München die Meinungsfreiheit ein?“ verweigerte. Ried, ein früheres Mitglied des GEW-Landesvorstands, hatte mit Unterstützung von Freunden eine Podiumsdiskussion veranstalten wollen, bei der ein Befürworter aus dem Stadtrat und eine Kritikerin vom „Bündnis zur Beendigung der israelischen Besatzung“ (BIB) ihre kontroversen Positionen zum Stadtratsbeschluss vertreten sollten. Wörtlich schrieb ihm das Museum: „Es ist davon auszugehen, dass die von Ihnen geplante Diskussion, deren Titel sich explizit auf den oben genannten Stadtratsbeschluss bezieht, nicht ohne eine Thematisierung von BDS sowie deren Inhalte, Themen und Ziele auskommt.“ BDS steht für die internationale Boykottkampagne „Boycott, Divestment, Sanctions“, mit der die israelische Regierung zur Beendigung der Besatzung gedrängt werden soll.
Wie einschneidend die Wirkung des Stadtratsbeschlusses ist, haben die meisten Münchner nicht mitbekommen, auch aufgrund der sehr dürftigen Berichterstattung der lokalen Medien. Deshalb sollte eine Podiumsdiskussion, moderiert von einem ehemaligen Richter des Verwaltungsgerichtshofs, zur Klärung beitragen.

Der Stadtratsbeschluss vom 13.12. 2017 trägt die Überschrift „Gegen jeden Antisemitismus! Keine Zusammenarbeit mit der antisemitischen BDS-Bewegung“. Bei aufmerksamer Durchsicht des 19 Seiten langen Textes wird klar, dass Veranstaltungen, die die israelische Besatzung Palästinas thematisieren, in städtischen oder städtisch geförderten Räumen nun nicht mehr möglich sind. Der Beschluss beschränkt sich nicht nur auf Vorträge und Diskussionen, die einen Boykott befürworten, sondern schließt bereits jede „Befassung“ mit der Problematik aus. Damit wäre ein Vortrag des israelischen Journalisten Gideon Levy über die Besatzung, wie er noch vor einem Jahr im städtischen Kulturzentrum Gasteig stattfinden konnte, nicht mehr möglich.

Ein Änderungsantrag der Grünen, das Wort „befassen“ durch „unterstützen“ zu ersetzen, wurde von SPD und CSU niedergestimmt. Groteskerweise wäre damit selbst eine Veranstaltung „Warum Boykott abzulehnen ist“ nicht mehr möglich. Obwohl ihr Änderungsantrag abgelehnt wurde, stimmte die Mehrheit der Grünen am Ende dennoch für die Vorlage von SPD und CSU. Dagegen stellten sich nur die vier Stadträte der Linken und der „Ökologisch-Demokratischen Partei“ (ÖDP) sowie der Vertreter einer ausländerfeindlichen Gruppe.

Die Frage, ob der Stadtratsbeschluss die vom Grundgesetz geschützte Meinungsfreiheit einschränkt, wird dadurch, dass sich die drei stärksten Rathausfraktionen der öffentlichen Debatte entziehen, natürlich nicht hinfällig. Das Verhalten der Fraktionen facht die Debatte eher neu an. Wolfgang Killinger, Vorstandsmitglied der Humanistischen Union Bayern, wirft der Stadt vor, jegliche Kritik an dem Beschluss und selbst jede Information über ihn in ihren Räumen unterbinden zu wollen und meint: „Dies ist einer Stadt, die sich Toleranz, Demokratie und Rechtsstaat auf ihre Fahnen schreibt, unwürdig.“

Noch härter urteilt Jochem Varchmin, Mitglied der „Jüdisch-Palästinensischen Dialoggruppe München“: „Beschlüsse des Stadtrats sind für die Öffentlichkeit bestimmt. Wenn diese Beschlüsse aus welchen Gründen auch immer nicht diskutiert werden dürfen, so betrachtet der Stadtrat die Adressaten als Untertanen, die ohne Widerspruch den Beschlüssen gehorchen sollen. Mit solchem Vorgehen wird offensichtlich versucht, die demokratische Kultur in München von Grund auf zu zerstören.“ Gegenüber den NachDenkSeiten erklärte Varchmin, er beobachte eine „absolute Israel-Loyalität, die jede Kritik an der israelischen Politik und den damit verbundenen Maßnahmen ablehnt und im besten Fall schweigt, wenn die Verletzung der Menschenrechte allzu offensichtlich ist.“ Damit werde den Israelis eine Sonderrolle in der Welt eingeräumt, das könne „antisemitische Tendenzen geradezu verstärken.“
Für Brigitte Wolf, Stadträtin der Linkspartei, ist mit der Saalverweigerung exakt das eingetreten, was ihre Partei zur Ablehnung des Beschlusses bewogen hat: „Es werden nicht nur vorhersehbar antisemitische Veranstaltungen untersagt, sondern das Verbot wird auch auf Diskussionen anderer Politikfelder ausgedehnt.“ Und das „auf reinen Verdacht hin.“

Einwände gegen den Beschluss hat auch Attac München erhoben. Die Stadt behindere damit die grundgesetzlich geschützte Möglichkeit, sich frei und unabhängig eine eigene Meinung zu bilden, heißt es in einer Stellungnahme, die nach langen Diskussionen beschlossen wurde. Die Formulierung „Keine Zusammenarbeit mit der antisemitischen BDS-Bewegung“ stelle eine weltweite und sehr heterogene Bewegung „unter pauschalen Antisemitismusverdacht“. Der Beschluss sei geeignet, eine freie Diskussion über den Nahostkonflikt in städtischen oder städtisch geförderten Räumen unmöglich zu machen.

Völlig anders sieht das Marian Offman, Stadtrat der CSU und Vorstandsmitglied der Israelitischen Kultusgemeinde in München. Offman beantwortete dem unabhängigen Bürgerradio „Lora München“ eine Reihe von Fragen. Als der Reporter seine Verwunderung äußerte, dass jegliches „Befassen“ mit der Boykottkampagne BDS sanktioniert werde, entgegnete Offman: „Das ist eine grobe Missinterpretation des gesamten Sachverhalts. Wir sind in einem Land mit Meinungsfreiheit, das ist im Grundgesetz verankert, und jeder kann sagen und verbreiten, was er will, es sei denn, es ist Volksverhetzung.“ Natürlich könne man BDS unterstützen und einen Boykott Israels verlangen, kein Mensch werde deshalb juristisch belangt. „Der Beschluss des Stadtrats besagt nur, dass wir keine öffentlichen Räume für Veranstaltungen von BDS zur Verfügung stellen.“ Als der Reporter einhakte, er fände es schwierig, dass die Stadt bestimme, was in öffentlichen Räumen diskutiert werde, antwortete Offman: „Wenn nun jemand sagt, ich bin mit dieser Entscheidung nicht zufrieden, dann hat er die Möglichkeit, bei der nächsten Wahl dementsprechend zu reagieren.“ Natürlich weiß Offman, dass SPD und CSU auch nach der nächsten Kommunalwahl wieder die stärksten Parteien im Rathaus sein werden und der Beschluss damit nicht aufgehoben werden wird.

Zur Vorgeschichte des Stadtratsbeschlusses gehört, dass die lokalen Medien Einwände aus der Zivilgesellschaft ihren Lesern vorenthielten, die „Süddeutsche Zeitung“ nicht ausgenommen. So hatte z.B. der Bundesvorstand der Humanistischen Union im November in einer Stellungnahme an bedeutsame Festlegungen aus einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Meinungsfreiheit erinnert: „Ein Eingriff in das Grundrecht liegt nicht nur dann vor, wenn eine Meinungsäußerung verboten wird, sondern auch dann, wenn die Grundrechtswahrnehmung behindert, oder nachteilige Rechtsfolgen daran geknüpft werden. Der Grundrechtsbindung unterliegt der Staat nicht nur bei hoheitsrechtlichem Handeln, sondern auch, wenn er in Formen des Privatrechts agiert. Das ist z.B. der Fall, wenn eine Gemeinde unter Hinweis auf zu erwartende missliebige Meinungsäußerungen die Vermietung eines Veranstaltungsraums verweigert.“ („Lüth-Urteil“ von 1958)

Ein öffentlicher Aufruf „Hände weg von der Meinungsfreiheit in München“, den im September über 20 Schriftsteller, Künstler und Journalisten als Erste unterzeichneten und in kurzer Zeit über 500 Münchnerinnen und Münchner, wurde nicht einmal als kurze Meldung registriert. Darin hieß es, falls der Antrag von SPD und CSU beschlossen würde, könnten viele internationale Referenten, z.B. auch der israelischen Friedensbewegung, nicht mehr in städtischen Räumen auftreten. „Wer mit falschen Begründungen Auftrittsverbote erlässt, beschädigt die Demokratie, Demokratie lebt von kontroversen Diskussionen.“ Zu den ErstunterzeichnerInnen zählten Tilman Spengler, Anatol Regnier, Johano Strasser, Lisa Fitz und Clemens Verenkotte, ein früherer ARD-Korrespondent in Israel.

Dass sich die bayerische Landeshauptstadt weit von ihrer bisherigen liberalen Haltung entfernt hat, offenbart auch ein Konflikt um eine Preisverleihung der Humanistischen Union München und Südbayern. Mit dem Preis „Aufrechter Gang“ sollten Ende Januar Judith und Reiner Bernstein im städtischen Kulturzentrum Gasteig geehrt werden. Das Ehepaar setzt sich publizistisch und in Vorträgen seit Jahren für eine Versöhnung zwischen Israelis und Palästinensern ein. Beide haben sich besonders auch für „Stolpersteine“ zur Erinnerung an ermordete Juden engagiert, die in München bisher noch immer untersagt sind. Judith Bernstein, in Jerusalem geborene Tochter von Überlebenden des Holocaust, ist zudem Sprecherin der Jüdisch-Palästinensischen Dialoggruppe München. Noch bevor der Stadtrat am 13. Dezember seinen Beschluss gefasst hatte, lehnte das städtische Kulturzentrum offenbar in vorauseilendem Gehorsam einen Saal für die Preisverleihung ab. Die Feier musste daraufhin in ein privates Kino verlegt werden. Auch dies drohte zu scheitern, weil eine kleine Gruppe mit dem irreführenden Namen „Münchner Bürger gegen Antisemitismus und Israelhass“ die Betreiber des Filmtheaters mit falschen Behauptungen zur Kündigung des Vertrags drängte.

München ist nicht die einzige Stadt, in der eine kritische Auseinandersetzung mit der Politik der israelischen Regierung behindert wird. In Frankfurt und Tübingen gab es Vorstöße, kritische Veranstaltungen oder Lesungen zur Nahostproblematik zu untersagen. Auch bei der Berliner SPD plant man ähnliche Einschränkungen wie in München.

Die Klage gegen die Stadt München hat der bekannte Münchner Anwalt Gerd Tersteegen formuliert. Im Mittelpunkt steht die Verletzung der Meinungsfreiheit (Art. 5 GG). „Dass die Diskussion eines so folgenschweren Beschlusses eines Kommunalparlaments nur noch in privaten Räumen möglich sein soll und nicht mehr in Räumen der Kommune selbst oder von ihr geförderten Räumen, ist mit dem Geist des Grundgesetzes unvereinbar,“ heißt es an einer Stelle der Klageschrift. Am Rande noch: Zwei wesentliche Protagonisten des Stadtratsbeschlusses, der stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende Christian Vorländer und der Fraktionsvorsitzende der Grünen, Florian Roth, lehnten es ab, Fragen der NachDenkSeiten zur Entscheidung des Stadtmuseums zu beantworten.


[«*] Rolf-Henning Hintze war früher Redakteur bei der Frankfurter Rundschau, dem NDR (Hörfunk) und der Deutschen Welle, danach freie journalistische Arbeit. Er war als Landesbeauftragter des Deutschen Entwicklungsdienstes in Sambia tätig und hat als Journalist und für Entwicklungsorganisationen mehrere Jahre im südlichen Afrika gearbeitet. Starkes Interesse an Nahost nach fünf alternativen Studienreisen nach Palästina und Israel. Bei Attac auf EU-Handelsabkommen wie CETA, EPA, TTIP und TiSA spezialisiert. Lebt in München.

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