„Wer von Russland die Einhaltung des Völkerrechtes erwartet, muss es auch selbst ohne Ansehung von ‚Bündnispflichten‘ hochhalten“

Ein Artikel von Marcus Klöckner

Eine „strategische Vision der Russlandpolitik“, ein „Abkommen zwischen Russland und der EU auf Augenhöhe“: Dessen bedarf es nach Aussagen von Andreas Heinemann-Grüder, um den Konflikt mit Russland zu entschärfen. Im Interview mit den NachDenkSeiten bewertet der Konfliktforscher die Manöver von NATO und Russland als „wechselseitiges Imponiergehabe“, zugleich warnt er vor „Zwischenfällen“, die ein „unkontrolliertes Eskalationspotential“ in sich tragen. Das Interview berührt eine Reihe von interessanten Aspekten. Deshalb veröffentlichen wir es, wohl wissend, dass etwa bei der zentralen Frage der “Annexion” der Krim es durchaus berechtigte andere Ansichten gibt, die wir bei den NachDenkSeiten mehrheitlich teilen. Das Interview führte Marcus Klöckner.

Herr Heinemann-Grüder, was halten Sie von den militärischen Manövern, die seit geraumer Zeit verstärkt von der NATO und Russland durchgeführt werden?

Seit Russland Teile der Ukraine annektiert hat, fürchten insbesondere Polen und die baltischen NATO-Staaten eine mögliche Aggression der Russen. Allerdings geht weder die russische Seite im Ernst davon aus, dass die NATO russisches Territorium angreift, noch hält die NATO Russland für so unberechenbar, dass es NATO-Staaten angreifen wird. Die Manöver sind Teil des wechselseitigen Imponiergehabes und einer Autosuggestion von Stärke. Manöver der NATO und die verstärkte Truppenstationierung lenken jedoch von dem eigentlichen Problem ab, nämlich dass es keine Sicherheitsgarantien in Europa für Staaten gibt, die außerhalb der NATO stehen. Nicht die NATO wird von Russland bedroht, sondern jene postsowjetischen Staaten, denen Russland nur begrenzt äußere und innere Souveränität zugesteht.

Sie haben den Begriff „Annexion“ angeführt. Der Rechtsprofessor Reinhard Merkel hat überzeugend dargelegt, dass die Krim, auch wenn es noch so oft wiederholt wird, nicht annektiert wurde. Sehen Sie das anders? Und wenn ja: Wie begründen Sie Ihren Standpunkt, dass die Krim doch annektiert worden sei?

Russlands Präsident Putin erklärte unmittelbar nach der Flucht des ukrainischen Präsidenten nach Russland am 23. Februar 2014, man müsse die „Rückholung der Krim zu Russland“ vorbereiten, während er zuvor entsprechende Vermutungen als Provokation abgetan hatte. Bereits am 25. Februar 2014 gab es erste gewalttätige Zusammenstöße zwischen Krim-Tataren und pro-russischen Demonstranten in Simferopol. Ab dem 27. Februar 2014 begannen dann russische Truppen strategisch wichtige Einrichtungen auf der Krim zu besetzen, gefolgt von einem Wechsel der Krim-Regierung und einem Votum des Krim-Parlaments, das unter Einsatz von bewaffneten “grünen Männchen” aus Russland zugunsten des Anschlusses an Russland votierte (6. März 2014). Am 16. März 2014 folgte ein nach ukrainischem Recht illegales Referendum über den Status der Krim, wonach sich angeblich 96,77 Prozent der Teilnehmer (83,1 Prozent Wahlbeteiligung) für einen Beitritt zur Russischen Föderation ausgesprochen hätten. Der Menschenrechtsrat des russischen Präsidenten widersprach jedoch später dieser Darstellung: „Nach unterschiedlichen Angaben haben 50 bis 60 Prozent der Abstimmenden für den Anschluss gestimmt, bei einer Wahlbeteiligung von 30 bis 50 Prozent.” Dieser Bericht des russischen Menschenrechtsrates war versehentlich ins Internet geraten. Professor Reinhard Merkel ist durch keinerlei Expertise zur Ukraine bzw. der Krim fachlich ausgewiesen.

Bei einer Diskussion mit Jan Phillip Reemtsma sagte Reinhard Merkel, die Erkenntnisse des Menschenrechtsrats beruhten auf Gesprächen mit gerade mal 20 Personen. Aber abgesehen davon noch einmal die Frage: Steht für Sie fest, dass die Krim annektiert wurde?

Professor Merkel schreibt selbst in der „FAZ“: „‚Annexion‘ heißt im Völkerrecht die gewaltsame Aneignung von Land gegen den Willen des Staates, dem es zugehört, durch einen anderen Staat. Annexionen verletzen das zwischenstaatliche Gewaltverbot, die Grundnorm der rechtlichen Weltordnung.“ Unter Anwendung dieser Kriterien müsste Professor Merkel von Annexion sprechen. Er widerspricht sich jedoch selbst, weil die „Geber“ völkerrechtswidrig gehandelt haben mögen, nicht aber der „Nehmer“, nämlich Russland. Dass Russland kein passiver „Nehmer“ war, sondern nur durch den aktiven Einsatz der Truppen der Schwarzmeer-Flotte und weiterer Spezialeinheiten die Sezession und Annexion ermöglicht hat, verdrängt er. Professor Claus Kreß, Direktor des Instituts für Friedenssicherungsrecht der Universität Köln, spricht von einer zynischen Verdrehung des Völkerrechts, wenn die Annexion, wie von Professor Merkel, verteidigt wird. Mit der Resolution 68/262 der UN-Generalversammlung vom 27. März 2014 haben 100 Staaten das Krim-Referendum vom 16. März 2014 für ungültig erklärt und die territoriale Integrität der Ukraine verteidigt. Gegen diese Rechtsauffassung der Mehrheit der internationalen Staatengemeinschaft haben neben Russland nur Armenien, Belarus, Bolivien, Kuba, Nordkorea, Nicaragua, Sudan, Syrien, Simbabwe und Venezuela gestimmt.

Sie haben angeführt, dass manche Nachbarstaaten von Russland bedroht würden. Bedroht Russland diese Staaten wirklich?

Ohne russische militärische Unterstützung hätte der Separatismus in Transnistrien, Südossetien, Abchasien, der Krim und im Donbass nie eine Chance auf Erfolg gehabt. Russland sieht sich nicht als Nationalstaat, sondern als Großmacht, die die äußere und innere Souveränität von Nachbarstaaten begrenzen kann.

Gibt es bei diesem Konflikt mit Russland auch ein Kommunikationsproblem?

Zu den Voraussetzungen des Ukrainekonfliktes gehörten die Vernachlässigung der OSZE, des NATO-Russland-Rates und die Nicht-Ratifizierung des Vertrages über konventionelle Streitkräfte in Europa durch die NATO-Staaten. Es gibt mit Russland keinen institutionellen Rahmen mehr für Vertrauensbildung, für militärische Transparenz und Krisenreaktion. Die Folge: Russland übergibt keine Informationen über seine konventionellen Streitkräfte, übermittelt keine Notifikationen, lässt weder Inspektionen der Streitkräfte zu, noch führt es selbst Inspektionen durch. Der NATO-Russland-Rat erwies sich als ein Potemkinsches Dorf. Die Haltung, Russland habe kein Vetorecht, entspricht dem Völkerrecht, ist jedoch politisch blauäugig. Russland hat sein Eskalationspotential demonstriert, darauf kann jedoch nicht nur mit Abschreckung reagiert werden. Russland konnte davon ausgehen, dass niemand im Westen bereits sein würde, wegen der Krim oder dem Donbass eigene Soldaten sterben zu lassen, insofern demonstrierte Russland Eskalationsdominanz. Russland hat gleichwohl die internationalen Folgen seiner Ukrainepolitik unterschätzt, es wird sich künftig der Kosten bewusster sein. Konfliktprävention besteht darin, die Kosten von Konfliktverhalten frühzeitig zu kommunizieren und sich der Effekte eigenen Verhaltens bewusst zu sein.

Wird sich die Situation mit Russland noch verschärfen?

Über der Ostsee kommt es regelmäßig zu Beinahe-Zusammenstößen zwischen russischen und NATO-Kampfflugzeugen. Die Gefahr eines militärischen Zusammenstoßes zwischen den beiden Atommächten USA und Russland nimmt auch zu, weil der Vertrag über Mittelstreckenraketen (INF-Vertrag von 1987), der ABM-Vertrag über das Verbot von Anti-Raketen, ja fast alle Errungenschaften der Rüstungskontrolle außer Kraft gesetzt sind. In Syrien führen die USA und Russland bereits seit Jahren einen Stellvertreterkrieg, 2015 wurden durch die Türkei zwei russische Kampfflugzeuge abgeschossen. Solche “Zwischenfälle” bergen ein unkontrolliertes Eskalationspotential.

Gerade wurde bekannt, dass Norwegen die USA um eine Verdoppelung ihrer in dem Land stationierten Soldaten bitten möchte. Wie bewerten Sie dieses Handeln der norwegischen Regierung? Es ist doch nicht realistisch, dass Russland einen Mitgliedsstaat der NATO angreifen würde, oder?

Norwegen hat die USA gebeten, 700 US Marines anstelle von bisher 330 US-Soldaten zu entsenden. Die Zahl an sich stellt keine Bedrohung dar.

Ist das nicht einer jener vielen kleinen Schritte, die in ihrer Gesamtheit zu einer immer weiteren Zuspitzung des Konfliktes mit Russland führen?

Von anderem Kaliber als die Truppenaufstockung in Norwegen ist das für Oktober 2018 geplante NATO-Manöver “Trident Juncture 18” in Norwegen mit 35.000 Soldaten aus 30 NATO-Staaten, an dem 70 Schiffe und 130 Flugzeuge teilnehmen sollen. Diese Art von Großmanövern kann eine Aktion-Reaktions-Spirale auslösen und ist das Gegenteil von Vertrauensbildung.

Welche Fehler machen denn aus Ihrer Sicht die Verantwortlichen auf westlicher Seite?

Es gibt keinen einheitlichen Westen, “der Westen” trägt auch nicht die alleinige oder die Hauptschuld an Russlands Politik. Auf beiden Seiten sitzen die Frustrationen tief, aufgrund des krassen Missverhältnisses zwischen ursprünglichen Erwartungen und tatsächlichem Verhalten nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes. Aber “der Westen” hat zur Erosion der Normen des Völkerrechtes durch den Kosovokrieg, den Irakkrieg, den gewaltsamen Regimewechsel in Libyen, durch “Guantanamo” und nicht-mandatierte Militäreinsätze in Syrien maßgeblich beigetragen. Solange der Raubtierkapitalismus eigenen Interessen entsprach, hat man über Demokratiedefizite im Russland der 1990er Jahre hinweggesehen. Wer von Russland die Einhaltung des Völkerrechtes erwartet, muss es auch selbst ohne Ansehung von “Bündnispflichten” hochhalten.

Was läuft noch falsch?

Russland hat eine autoritäre Regierung, aber es ist kein monolithischer Akteur, es gibt dort Kalte Krieger und Tauben, die die Annäherung an die EU suchen. Die hiesige Politik braucht Expertise, die die Wahrnehmung Russlands nicht auf die Deutung Putins beschränkt. Die EU darf sich nicht länger zur Geisel einer unvorhersehbaren US-Politik machen, sondern muss souverän werden, und sie muss Führungskapazitäten beim Management von Regionalkonflikten entwickeln.

Welchen Ausweg gibt es aus der verfahrenen Situation?

Russlands Außenpolitik steckt in einem Dilemma. Bestandteil Europas will es nicht werden, es kann dessen Ausbreitung aber nicht verhindern. Russlands Tragik ist seine Größe, aber für die Herausforderungen der Globalisierung, des Klimawandels, der Digitalisierung und durch fundamentalistische Ideologien bietet die Rückkehr ins 19. Jahrhundert keine Antworten, darauf kann es nur gemeinsame Antworten zusammen mit den Europäern geben. Es bedarf deshalb einer strategischen Vision der Russlandpolitik, die sich der Abschottung entgegenstellt, zum Beispiel eines Abkommens zwischen Russland und der EU auf Augenhöhe. Es bedarf eines neuen “Helsinki”-Prozesses, einer Verständigung mit Russland über geteilte Werte und Regeln in der Außen- und Sicherheitspolitik, vor allem zur Konfliktprävention, zur Frühwarnung und zu Krisenreaktions-Mechanismen.

Antje Vollmer hat vor kurzem angesprochen, dass es in Deutschland in Hinblick auf den Umgang mit Russland einen Konflikt zwischen den Eliten der alten Bundesrepublik und den „Nachwende-Eliten“ gibt. Während sich die „alten“ Eliten für einen friedlichen Umgang mit Russland einsetzten, würden die „neuen“ Eliten auf ein aggressives Vorgehen in der Außenpolitik setzen. Ist das auch Ihre Beobachtung?

Es handelt sich nicht um einen Generationenkonflikt, sondern um die Frage, wie mit Regimen umzugehen ist, deren autoritäre Regression im Innern sich im Außenverhalten niederschlägt. Jene Politiker, die heute für sich den “friedlichen Umgang” mit Russland reklamieren, gehörten übrigens fast durchgehend zu jenen, die die NATO-Erweiterung oder die Kosovo-Intervention zu verantworten haben und damit russische Einkreisungsängste ursprünglich befeuert haben. Die vermeintlichen “Russlandversteher” und die Russlandkritiker sind sich einig darin, dass eine militärische Konfrontation mit Russland zu vermeiden ist. Der Unterschied besteht darin, ob Russland im Sinne einer heiligen Allianz der Großmächte aus dem 19. Jahrhundert ein Recht zur Intervention in Nachbarstaaten eingeräumt werden soll. Frieden kann nur auf dem Völkerrecht, nicht auf einem antiquierten Interventionsrecht von Großmächten basieren.

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