Lasst uns Sachsenversteher werden!

Jens Berger
Ein Artikel von:
Jens Berger

Chemnitz am Sonntagmorgen – drei junge Deutsche werden mit Messern niedergestochen, einer von ihnen erliegt wenige Stunden später den Verletzungen. Tatverdächtig sind ein Syrer und ein Iraker. Als erste Meldungen über den Totschlag über die sozialen Netzwerke verbreitet werden, eskaliert die ohnehin bereits angespannte Lage vor Ort, rechtsextreme Hooligans nutzen die Situation und treffen auf eine planlos agierende Polizei. „Sachsen halt“, wie einige besonders schlaue Intellektuelle nun hämisch spötteln. Doch die Vorfälle von Chemnitz sind nicht die Ursache, sondern vielmehr ein Symptom einer gesellschaftlichen Fehlentwicklung, die sich nicht durch Häme, Arroganz und schablonenhaftes Denken aus der Welt schaffen lässt. Wenn wir nicht bald damit anfangen, den Ursachen der Unzufriedenheit auf den Grund zu gehen, droht dem Land ein epischer Rechtsruck. Nicht nur in Sachsen. Von Jens Berger.

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Jakob Augstein hat es gut. Der millionenschwere Verlagserbe und Vorzeigelinke hat offenbar allen Grund, auf Menschen herabzuschauen, die beim Spermienlotto keine sechs Richtigen mit Zusatzzahl hatten. „Pimmel mit Ohren“, so nennt er die „stiernackigen Männer“ aus den Videos aus Chemnitz in seinem denkfaulen SPIEGEL-Kommentar zu den Vorkommnissen. Sicher, diese „Manifestationen einer parallelen Netzgesellschaft“ (Zitat Augstein) werden keine Ausbildung auf teuren Eliteuniversitäten genossen haben und wahrscheinlich noch nicht einmal wissen, was eine „Manifestation“ eigentlich ist. So sind sie halt, „die Sachsen“, die Augstein als „deutsche Ungarn“ bezeichnet, die zwar unser Geld, aber von „der liberalen Demokratie des Westens“ und unseren „Werten“ nichts wissen wollen. Vielleicht sollte Jakob Augstein diese neunmalklugen Weisheiten einmal auf einer Bühne vor dem Chemnitzer Nischel zum Besten geben. Die „Pimmel mit Ohren“ werden sicher tief beeindruckt sein, sich eine vernünftige Frisur stehen lassen, bei einer Eliteuniversität einschreiben und fortan Augsteins Werte predigen. Die Botschaft hör ich wohl, allein mir fehlt der Glauben. Schlussendlich bespaßt Augstein mit derlei selbstgerechten Predigten von der linksliberalen Kanzel doch ohnehin nur seine eigene Echokammer, die bei derlei wortgewandten Sachsen-Bashing sicher ihren Flat White auf die MacBook-Tastatur prustet. Wen interessieren schon die gemeinen Chemnitzer? Die linksliberalen Eliten sicherlich nicht.

Dabei hätte Augstein eigentlich nur die beiden durchaus lesenswerten Vor-Ort-Berichte seiner Kollegen Steffen Lüdke und Raphael Thelen anschauen müssen, um seine Selbstgerechtigkeit zumindest mit einem Anfangsverdacht zu hinterfragen. Denn wenn man nur die richtigen Fragen stellt, erhält man „sogar“ von den Chemnitzern sehr aussagekräftige Antworten. Da werden dann die soziale Schieflage, die prekäre Situation am Arbeitsmarkt oder die Altersarmut klar als eigentliche Gründe für eine recht konkrete sozioökonomische Unzufriedenheit genannt, die sich offenbar mangels realistisch erscheinender politischer Perspektiven in einer diffusen Fremdenfeindlichkeit den Weg bahnt, die jedoch recht selektiv zu Tage tritt – „die Stadt sei nicht mehr so sicher wie früher“, man habe nichts gegen Migranten, aber „die Bösen [unter ihnen] sollen wieder gehen“. Statistik hin, Statistik her, die Menschen fühlen sich unsicher. Darüber kann man nun lamentieren oder die Sorgen ausnahmsweise auch einmal ernst nehmen. Denn dies sind anscheinend beileibe keine Einzelmeinungen, sondern durchaus Ausdruck einer allgemeinen Stimmungslage.

Daran kann man bereits erkennen, was alles schief läuft. Eigentlich ist die politische Linke ja als Sprachrohr der Menschen prädestiniert, die sich sozioökonomisch benachteiligt fühlen. Gefragt, warum sie dann gegen Flüchtlinge sei und nicht „einfach mehr Umverteilung fordere“, gab eine 64-jährige Chemnitzerin dem SPIEGEL folgende Antwort: „Weil man ja gegen irgendwen sein muss, und mit denen ist es einfach.“ Diesen Satz sollte sich vor allem die politische Linke ganz genau anschauen und sich darüber Gedanken machen, warum der Protest gegen die sozioökonomischen Verhältnisse von breiten Schichten der Bevölkerung offenbar gar nicht mehr als Option wahrgenommen wird. Ja, das „teile und herrsche“ scheint sich in unseren Köpfen festgesetzt zu haben. Chemnitz ist ein Symptom dafür. Die Frage ist: Wo sind die Antworten? Und wie lassen sich Ursachen bekämpfen?

Hier wären nun wahre intellektuelle Vordenker auf Seiten der Linken gefordert. Vordenker, die die nötige radikale Selbstkritik nicht scheuen und Perspektiven für progressive Antworten entwickeln, die von den Betroffenen als echte Option wahrgenommen werden. Sich nun über „Pimmel mit Ohren“ lustig zu machen, ist intellektuelles Dünnbrettbohren – nur nicht anecken, nur nichts Falsches denken oder gar sagen, immer den Weg des geringsten Widerstandes. So ist einem zwar der Applaus der Echokammer sicher, aber wen interessieren schon „parallele Netzgesellschaften“? Wer sich lieber mit opportunistischen Albernheiten abgibt, vertut in der heutigen Situation nicht nur die Chance, der Gesellschaft einen Schubs in die richtige Richtung zu verpassen, sondern erledigt indirekt die Kärrnerarbeit der politischen Rechten. Das gilt auch für die linken „Wohlfühlthemen-Hipster“, die die Sorgen und Probleme einer kleinen großstädtischen Elite aufs Tableau des linken Diskurses gehievt haben und sich mit profanen Verteilungsfragen gar nicht mehr abgeben wollen.

Wenn die Linke keine Antworten gibt und keine Optionen liefert, wird die Rechte den Sieg davontragen. Alleine schon, weil es so viel einfacher ist, „gegen Flüchtlinge zu sein“, als sich gegen eine Gesellschaftsform zu positionieren, die durch eine derart massiv sozioökonomische Schieflage geprägt ist wie die unsere. Wollen wir Dünnbrettbohrer oder Sachsenversteher sein? Ich plädiere für Letzteres.