„Chemnitz ist das punktuelle Brennglas“ – Wilhelm Heitmeyer im Interview

Ein Artikel von:
Wilhelm Heitmeyer

Die Eruptionen von Chemnitz haben sich lange angekündigt, sagt der Soziologe und Erziehungswissenschaftler Wilhelm Heitmeyer im Interview. Die Rufe nach einer „klaren Kante“ gegen „Nazis“ bezeichnet er ebenso als „leere Eliten-Rituale“ wie die aktuelle „Empörung“ weiter Teile der Politik. In Chemnitz äußere sich dieser Tage eine explosive Mischung aus kulturellen und sozialen Problemen – frühe Warnungen seien als „Alarmismus“ abgetan worden. Das Interview führte Tobias Riegel.

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Als Sie letzte Woche die Bilder der Demonstrationen in Chemnitz gesehen haben – haben Sie sich da im Stillen gedacht: „Ich habe es schon immer gesagt“? Schließlich stellen Sie – basierend auf Ihren anerkannten Langzeitstudien – seit den 90er Jahren die nun aufbrechende Problementwicklung dar.

Die Ereignisse von Chemnitz sind ja nicht plötzlich vom Himmel gestürzt. Insofern sind auch manche Äußerungen und Verwunderungen insbesondere von politischen Eliten selbst verwunderlich. Außerdem muss man die Analyse breiter anlegen. In 2001 habe ich einen Aufsatz veröffentlicht mit dem Titel „Autoritärer Kapitalismus, Demokratieentleerung und Rechtspopulismus“. Die These war, dass der globale Kapitalismus immer mehr Kontrollgewinne erzielt, während die nationalstaatliche Politik immer mehr Kontrollverluste erfährt. Daraus entstehen auch soziale Desintegrationserfahrungen bzw. Ängste in Teilen der Bevölkerung mit Gefühlen der individuellen Kontrollverluste über das eigene Leben. Damit geht eine Demokratieentleerung einher, dass Teile der Gesellschaft nicht mehr das Gefühl haben, dass die regierende Politik die sozialen und auch kulturellen Probleme lösen kann. Am Ende habe ich 2001 behauptet, dass ein rabiater Rechtspopulismus der Gewinner sein wird. Die These war wohl nicht völlig falsch.

Sie bezeichnen die Phrasen von der „klaren Kante“ gegen „Nazis“ als leere Eliten-Rituale. Wie beurteilen Sie aktuelle Aufrufe von an der sozialen Fehlentwicklung mitverantwortlichen Politikern, die Bürger sollten mehr Engagement gegen Rechts zeigen? Ist das Heuchelei? Oder wichtige Handlungsanweisung? Oder beides?

Das mit der „klaren Kante“ ist wie das Pfeifen im Walde. Selbstverständlich müssen sich mehr Menschen in der Öffentlichkeit und vor allem im privaten Rahmen quasi als Basisarbeit engagieren. Gerade der private Rahmen in der Verwandtschaft, im Freundeskreis, am Arbeitsplatz, im Sportverein, in der Kirchengemeinde etc. ist aber ein viel härterer „Kampfplatz“ um Deutungen, als etwa durch das Teilnehmen an einer öffentlichen Demonstration. Auf diesem „Kampfplatz“ will man seine Verwandtschaft nicht vergrätzen, die Freunde will man nicht verlieren und man möchte Mitglied in der Sportmannschaft bleiben. In diesen nahen Umfeldern die Grenzen gegen gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit zu setzen, erfordert viel Mut und Training.
Und gesellschaftlich ist es wichtig, dass nicht die „Schweigespirale“ greift. Sie besagt, dass immer dann, wenn Menschen glauben, sie seien mit ihren menschenfeindlichen Einstellungen in der Minderheit, sie sehr zurückhaltend sind mit der Äußerung ihrer Positionen in der Öffentlichkeit. Sie bleiben damit hinter den privaten Gardinen. Haben Sie aber den Eindruck, sie seien Teile einer Mehrheitsmeinung, dann „hauen“ sie ihre Positionen vehement in der Öffentlichkeit heraus. Und dann gibt es nicht selten den Anpassungseffekt durch Politikerinnen und Politiker.

Sie kritisieren ein falsches Bild von einer „zweigeteilten“ Gesellschaft: Hier die Nazis, dort die guten Bürger. Was ist an diesem Bild unrealistisch?

Dieses Bild wurde direkt nach den NSU-Morden von maßgeblichen Politikern gemalt, um eine gesellschaftliche Selbstentlastung zu fabrizieren, also eine gesellschaftliche Selbsttäuschung zu entwerfen durch diese dichotomische Beschreibung. Tatsächlich haben wir es mit einem Eskalationskontinuum zu tun. Dies kann man sich als „Zwiebelmuster“ vorstellen. Die äußere, große Schale stellt die Einstellungsmuster zur gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit in der Bevölkerung dar. Sie liefern damit Legitimationen für die Aktivitäten des autoritär-nationalradikalen Milieus und der AfD. Diese wiederum ist Stichwortgeber (bei gleichzeitig formaler Distanz) für systemfeindliche Milieus und rechtsextreme Akteure, die z.T. schon mit Gewalt hantieren. Dort gibt es dann Übergangslinien zu neonazistischen, gewalttätigen Freien Kameradschaften, die wiederum als Unterstützer des Nationalsozialistischen Untergrund als Terrorzelle gewirkt haben. Der NSU hatte in Chemnitz offensichtlich ein breites Netzwerk zur Verfügung.
Das Wichtigste ist in diesem Eskalationskontinuum: „Wir“, die Bevölkerung, können uns nicht einfach „vom Acker“ machen. Es ist ein Leichtes, sich von den extremen Formen zu distanzieren, aber das Destruktive in unserer Normalität zu entdecken, ist außerordentlich schwer. Und: Alles was als normal gilt, kann man zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr problematisieren. Deshalb ist auch die Aufforderung „Wehret den Anfängen“ bloß noch eine überholte Formel. Es geht um „Wehret der Normalisierung“.

Kann man Rechtsextreme mit sozialen Investitionen in ihre Nachbarschaften „bestechen“ und sie so aus diesen Zusammenhängen lösen? Welchen Anteil hat die soziale Spaltung am Rechtsruck? Welche Aspekte befeuern ihn noch?

Wir haben es mit einer Mischung aus kulturellen und sozialen Problemen zu tun. Allein Hartz IV und eine mögliche finanzielle Aufstockung wird das Problem nicht wesentlich verändern. Die kulturellen Probleme rund um die Flüchtlingsbewegung, um „den“ Islam etc. sind besonders schwerwiegend, weil sie die eigene kollektive Identität als „Deutsche“ berühren. Und drittens kommt die politische Komponente hinzu, d.h. das Gefühl, von der etablierten bzw. regierenden Politik nicht wahrgenommen zu werden. Es ist doch klar: Wer nicht wahrgenommen wird, der ist ein Nichts. Daraus entsteht ein weiterer Faktor, nämlich die Anerkennungsdefizite, die dann dazu führen, dass sich die Menschen „alternative“ Anerkennungsquellen suchen.

Sie haben empirisch belegt, dass Rechtsextremismus auch in der Mitte der Gesellschaft verwurzelt ist. Muss man das akzeptieren und lernen, damit zu leben, und also dieses „feste“ Potenzial möglichst ruhig (ohne einzulösende „radikale Postulate“) zu halten?

Man muss schon unterscheiden zwischen rechtsextremistischen Einstellungen in Teilen der Bevölkerung, die wir vor allem über das Ausmaß und die Ursachen der „gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“ in unseren Langzeitstudien durch repräsentative Bevölkerungsbefragungen untersucht und in zehn Bänden „Deutsche Zustände“ publiziert haben. Davon abzugrenzen sind die rechtsextremen Organisationsformen sowohl in Parteiform als auch in den bewegungsförmigen Ausprägungen etwa der „Freien Kameradschaften“ etc. Dabei haben sich die etablierten Parteien vor allem auf die Parteiform, vornehmlich die NPD fokussiert, obwohl diese Partei schon lange wirkungslos ist. Demgegenüber ist der bewegungsförmige Rechtsextremismus völlig vernachlässigt worden. Das liegt auch daran, dass mit dem politischen „Werkzeugkasten“, d.h. Gesetze, Appelle und Geld, diese Form nur schwerlich zurückzudrängen ist. Und die latenten Einstellungsmuster, die wir seit 2002 jährlich publiziert haben, haben nicht sonderlich interessiert, obwohl wir z.B. 2002 schon rechtspopulistische Einstellungen von 20 Prozent der Bevölkerung auf der Basis eines Musters von Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit und autoritärer Aggression ermittelt haben. Das wurde vielfach als Bielefelder „Alarmismus“ abgetan, insbesondere von den konservativen Parteien.

Schon vor über zehn Jahren haben Sie prophezeit, dass Wahrnehmungen kultureller Überfremdung zunehmen würden sowie das Gefühl einer politischen Entfremdung, was in die bereits erwähnte „Demokratieentleerung“ münden würde. Erleben wir das gerade exemplarisch in Chemnitz?

Chemnitz ist jetzt das punktuelle Brennglas, weil fünf Faktoren zusammengekommen sind. Erstens das emotional ausbeutbare Signalereignis des Totschlags oder Mordes, mutmaßlich durch Asylbewerber, zweitens die außerordentliche Gewaltbereitschaft rechtsextremer Netzwerke und die Instrumentalisierungsfähigkeit der AfD und Pegida, drittens die effektive und professionelle Mobilisierungsfähigkeit dieser Netzwerke und viertens die Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit in Teilen der sogenannten normalen Bevölkerung. Und fünftens schließlich die Unterschätzung der kritischen Masse durch die politische und polizeiliche Führung.
Die seit langem vorhandene Latenz von Feindseligkeit wurde durch das Zusammenwirken dieser Faktoren dann manifest. Es ist diesen Akteuren gelungen, aus individuellen Ohnmachtsgefühlen dann kollektive Machtfantasien zu machen.

Sie haben Begriffe wie die gerade erwähnte “gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ und „rohe Bürgerlichkeit“ geprägt. Wie genau stehen diese in Zusammenhang mit den Vorgängen in Chemnitz?

Mit „gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“ sind Abwertungen und Diskriminierungen von Menschen allein aufgrund ihrer Gruppenzugehörigkeit und unabhängig von ihrem individuellen Verhalten gemeint. Es geht also nicht nur um Rassismus, sondern auch um Antisemitismus, Abwertung und Diskriminierung von Homosexuellen, Obdachlosen, Behinderten, Flüchtlingen, Islamfeindlichkeit. Auch Sexismus und Etabliertenvorrechte gehören dazu. Dahinter steckt eine Ideologie der Ungleichwertigkeit als gemeinsamer Kern. Diese Abwertungen haben die Funktion, sich selbst aufzuwerten und Überlegenheit zu demonstrieren. Solche Ausprägungen finden wir aktuell in dem Kontext von Chemnitz im Zusammenwirken mit den schon erwähnten Faktoren, die auf der Straße sichtbar geworden sind. Aber die gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit als Einstellungsmuster ist weit verbreitet in Deutschland.
Mit großen Datenmengen konnten wir auch Ländervergleiche anstellen, bei denen sich zeigte, dass die ostdeutschen Länder immer die höchsten Abwertungsquoten hatten. Diese Ergebnisse wurden insbesondere von ostdeutschen Politikern immer wieder bestritten. Und ein weiterer sozialgeografischer Faktor wird immer noch politisch unterschätzt. Es ist die Siedlungsgeographie. Ostdeutschland – mit Ausnahme von Dresden und Leipzig – ist gekennzeichnet von kleinen Dörfern und kleinen Städten. In diesen Kontexten existiert ein besonderes Problem des Nicht- Wahrgenommen–Werdens, der sozialen Homogenität und des Konformitätsdrucks.
Sieht man sich die sozialen Gruppen an, so sind die Zustimmenden nicht ausschließlich in den unteren sozialen Lagen zu finden, sondern es gibt diese „rohe Bürgerlichkeit“. Damit ist nicht Bürgertum als Stand oder Klasse gemeint, sondern eine bestimmte Attitüde, in der hinter einer glatten Fassade und gewählter Sprache eine Rohheit im Sinne eines Jargons der Verachtung existiert, insbesondere auch in Westdeutschland.

Was bedeutet in diesem Zusammenhang Ihre Theorie von der „sozialen Desintegration“?

Diese Theorie haben wir in Bielefeld entwickelt, um gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit und auch Jugendgewalt etc. zu erklären. Dabei reservieren wir den Integrationsbegriff nicht für Migranten oder Flüchtlinge, weil wir davon ausgehen, dass ein Teil der ursprünglichen Deutschen auch nicht integriert ist. Dabei geht es um drei Dimensionen. Erstens die sozialstrukturelle Dimension der Teilhabe an den materiellen und kulturellen Gütern dieser Gesellschaft, insbesondere über Arbeit. Dies ist eine besonders wichtige Quelle für die positionale Anerkennung von Status etc. Anerkennung ist der ganz zentrale Begriff, weil niemand auf Dauer ohne Anerkennung leben kann. Zweitens geht es politische Partizipation. Habe ich oder hat meine Gruppe eine Stimme, die wahrgenommen und gehört wird in der Auseinandersetzung z.B. um Fairness, Gerechtigkeit und Solidarität? Erst wenn das geschieht, erhalte ich moralische Anerkennung. Drittens geht es um Vergemeinschaftungen, d. h. kann ich meine Identität entwickeln und es wird die Identität meiner Gruppe akzeptiert. Erst dann erhalte ich emotionale Anerkennung.
Überall dort, wo es erhebliche Anerkennungsdefizite gibt, geht die Suche nach alternativen Anerkennungen los (z.B. im Kontext des „Autoritären Nationalradikalismus“ der AfD) und mitsamt der Abwertung und Diskriminierung im Sinne der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit, um – wie schon gesagt – sich selbst aufzuwerten.

Sie erklären, staatliche Repression führe bei Rechtsextremen zu Innovation. Wie meinen Sie das? Welche Rolle weisen Sie im Fall Chemnitz staatlicher Härte zu? Und welche – als Gegenpol zur Repression – der „vorbeugenden Sozialarbeit“?

Neben z.T. halbherzigen oder zurückhaltenden Interventionen und viel zu späten sozialen Ansätzen einer vorbeugenden Sozialarbeit, die ich schon Ende der 80er Jahre nach meiner Untersuchung zu rechtsextremistischen Orientierungen bei Jugendlichen in Westdeutschland immer wieder gefordert habe, setzen die staatlichen Verfolgungsbehörden unverdrossen vorrangig auf Repression, vor allem auf das Verbot von Organisationen. Diese Strategie hat enge Erfolgschancen. Es sind inzwischen unzählige Gruppen verboten worden. Wenn dieses Instrument wirksam wäre, dann dürften wir die heutigen Probleme gar nicht haben. Natürlich muss der Staat solche Markierungen setzen, um die geltenden Normen deutlich zu machen. Aber man darf keine durchschlagende Erfolge erwarten, weil insbesondere der bewegungsförmige Rechtsextremismus sehr erfindungsreich ist, da er keine formal-juristischen Strukturen aufweist – oder wenn etwa die Gruppe der „Autonomen Nationalisten“ in Dortmund verboten wird, dann flüchtet sie unter das schützende Dach der neuen Mini-Partei „Die Rechte“ und macht weiter wie bisher.
Der Erfindungsgeist betrifft auch die Mobilisierungsstrategien, die bereits vor einigen Jahren durch die Hogesa-Demonstration (Hooligans gegen Salafisten) in Köln die Polizei völlig überrascht hat mit ihrer kritischen Masse zur gewaltsamen Aktion. All dies müsste doch in Polizeistrategien einfließen – oder benötigt etwa sowohl die politische Führung ebenso wie die Polizeiführung verstärkte politische Bildung, um die Prozesse und Mechanismen zu erkennen?

Sind Sie also enttäuscht von den aktuellen Reaktionen der offiziellen Politik auf Chemnitz?

Nach 30 Jahren der Forschung zu diesen Problemen bin ich der Empörungsrituale überdrüssig. Ich stelle dann immer den Fernsehapparat aus.


Wilhelm Heitmeyer ist Soziologe, Erziehungswissenschaftler und Professor für Sozialisation am Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld, dessen Gründungsdirektor er von 1996 bis 2013 war.
Im Oktober erscheint sein neues Buch „Autoritäre Versuchungen. Bedrohungen der offenen Gesellschaft und liberaler Demokratie“ bei Suhrkamp.

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