Endstation Manila

Rainer Werning
Ein Artikel von Rainer Werning

Es war ein beklemmend-schauriger Anblick, zum Wochenbeginn ausgerechnet den Hitler-Idi-Amin-Marcos-Verehrer Rodrigo R. Duterte und eingefleischten Palästinenserfeind Benjamin Netanyahu gemeinsam händeschüttelnd auf Fotos diverser Nachrichtenagenturen abgebildet zu sehen. Der erste Israel-Besuch eines philippinischen Präsidenten hätte nebst Waffengeschäften und anderen bilateralen Verträgen weitaus Interessanteres im Umgang zwischen Filipinos und Juden zutage fördern können – zahlreichen jüdischen Intellektuellen, Schriftstellern, Wissenschaftlern und Künstlern bot der südostasiatische Inselstaat während des Zweiten Weltkriegs immerhin eine sichere Zufluchtstätte vor Hass, Verfolgung und Naziterror. Von Rainer Werning[*].

Als während der sogenannten Reichspogromnacht ein aufgebrachter Nazimob randalierte, jüdische Häuser und Geschäfte zerstörte, Synagogen in Brand setzte und Kinder aus dem Fenster warf, organisierten Filipinos am 19. November 1938 im fernen Manila eine riesige Protestrallye, um diese barbarischen Akte zu brandmarken. Rasch sollten auch Taten folgen; zahlreiche Verfolgte fanden Schutz in den Philippinen. Ermöglicht wurde dies durch das Engagement von Einzelpersonen und der philippinischen Commonwealth-Regierung (damals noch unter US-Hoheit) mit Präsident Manuel L. Quezon an der Spitze. Manila und Schanghai waren zu jener Zeit die Orte in der Welt, wo eine vergleichsweise nachsichtige und für politisch Verfolgte liberale Immigrationspolitik herrschte.

Willige Helfer/innen

Den Philippinen war es möglich, eine eigene Einwanderungspolitik – frei von Beschränkungen etwa bei der Festlegung der Einwanderungsquoten – zu betreiben. Nachdem die erste Welle von Flüchtlingen im September 1938 angekommen war, wuchs die jüdische Community zahlenmäßig weiter an. Sie erreichte mit etwa 2.500 Mitgliedern Ende 1942 ihren Höchststand.

Anfang April 2005 meldete der philippinische Botschafter in Israel, Antonio C. Modena, seinem Außenministerium in Manila, dass man an der gebührenden Anerkennung der Rolle arbeite, die dem philippinischen Volk im Hinblick auf die Hilfestellungen zukomme, die man jüdischen Flüchtlingen bei ihrer Flucht aus dem von Nazis besetzten Europa gewährte. Er führte aus:

„Das philippinische Volk begrüßte die jüdischen Flüchtlinge zu einer Zeit auf den Philippinen, als der Rest der Welt einem Volk die Türen zuschlug, das eine sichere Zuflucht vor der Tyrannei der Nazis suchte. Man sollte dem philippinischen Volk sicherlich dafür Anerkennung zollen, dass es an einem hohen moralischen Standard festhielt und Humanität zeigte.“ [1]

Der Botschafter wies darauf hin, dass es u.a. auch die US-amerikanische Regierung (in Miami) ablehnte, über 930 Juden aufzunehmen, die sich an Bord des Schiffes „MS St. Louis“ befanden. Dieses war vom Deutschen Reich gechartert worden, um zu beweisen, dass kein anderes Land die Juden wollte. Die Geschehnisse sind in dem Film „Reise der Verdammten“ nach dem Buch von Gordon Thomas und Max Morgan-Witts dokumentiert worden.

Neben Alaska, Madagaskar, Mexiko, der Dominikanischen Republik und Palästina zählten eben auch die Philippinen weltweit zu den Ländern beziehungsweise Gebieten, die als neue Heimat für die weltweit verstreute jüdische Diaspora in Betracht gezogen wurde. So war ursprünglich geplant, eine Wohnsiedlung für jüdische Flüchtlinge in Marikina (heute ein Teil von Metro Manila) sowie einen größeren Farmkomplex für Juden auf der größten südlichen Insel Mindanao zu errichten.

Präsident Quezon und die Autoritäten des Commonwealth waren 1939 darauf vorbereitet, im Zuge der weiteren Kolonisierung des an natürlichen Ressourcen überaus reichen Mindanao (wo bereits vor dem Krieg eine der weltweit größten japanischen Kolonien existierte) etwa 2.000 jüdische Familien sofort in die Philippinen hereinzulassen. Jährlich sollten dann etwa 5.000 weitere Familien folgen – bis zu einer Obergrenze von 30.000. Mindanao, insbesondere die Ebene von Bukidnon im nördlichen Teil der Insel, war als Hauptansiedlungsgebiet vorgesehen. Gesetzliche Verzögerungen, aber auch die japanische Invasion und Eroberung der Philippinen vereitelten letztlich diesen Plan. Dennoch gelangten die ersten jüdischen Flüchtlinge bereits im September 1938 nach Manila, wo deren Gemeinde mit etwa 2.500 Mitgliedern Ende 1942 ihren Höchststand erreichte. Eine für beide Seiten vorteilhafte Regelung; den Flüchtlingen blieben Repression und Verfolgung erspart, während die philippinische Seite von den vielfältigen Talenten der Immigrant/innen profitierte.

Vitale jüdische Gemeinde in Manila

Mit Emil Bachrach und Morton I. Netzorg tauchten zwei bedeutsame Namen zur vorletzten Jahrhundertwende in der jüdischen Community in Manila auf. Emil Bachrach erreichte 1901 Manila und hatte bald ein Wirtschaftsimperium von beträchtlichem Ausmaß aufgebaut. Weil er als erster amerikanischer Jude angesehen wird, der sich in den Philippinen dauerhaft niederließ, trugen die Synagoge und ein Kulturgebäude seinen Namen: Temple Emil und Bachrach Hall. Die Familie hatte diese beiden Einrichtungen über Jahrzehnte finanziert. Sein wirtschaftlicher Erfolg erlaubte es Bachrach, sowohl jüdische als auch christliche Anliegen zu unterstützen. Zur jüdischen Community in Manila gehörten der Gründer der Börse in Manila, der Dirigent des Manila Symphony Orchestra sowie Angehörige anderer Berufe wie zum Beispiel Ärzte und Architekten. Während des Zweiten Weltkriegs wurde der Temple Emil von japanischen Truppen zerstört. [2]

Als die Nazis die Macht in Deutschland übernahmen und die Welt den jüdischen Flüchtlingen den Rücken zukehrte, bemühten sich vier Brüder, die eine Zigarrenfabrik in den Philippinen betrieben, in aller Ruhe darum, 1.200 nach Manila geflohenen Juden Hilfestellungen zu geben. Die Frieder-Brüder – Alex, Philip, Herbert und Morris – „waren ganz normale jüdische Geschäftsleute, aber sie scheuten keine Umwege, um Leben zu retten“, sagte Frank Ephraim. Frank Ephraim war acht Jahre alt, als seine Familie 1939 von Deutschland nach Manila floh. Unter dem Titel „Escape to Manila: From Nazi Tyranny to Japanese Terror“ beschrieb er später die Geschichte ihrer Rettung. [3]

Während der 1920er und 1930er Jahre kamen die Frieder-Brüder aus Cincinnati immer wieder für zwei Jahre nach Manila, um die Helena Cigar Factory zu leiten, die ihr Vater 1918 aufgebaut hatte. Als sie wieder im Lande weilten, gründeten sie ein jüdisches Flüchtlingskomitee und arbeiteten mit Freunden in höheren Stellen zusammen, um den meist aus Deutschland, Österreich und Polen stammenden Flüchtlingen bei der Pass-, Visa-, Arbeits- und Wohnraumbeschaffung behilflich zu sein. [4] Es war tatsächlich ein gegenseitiges Geben und Nehmen. Die Philippinen halfen auf unterschiedliche Weise, das Leben vieler Juden zu retten und diese brachten ihre mitgebrachten Talente in ihr Wirken im Gastland ein.

Auf dem Höhepunkt der Immigrationsjahre war die Ankunft von bekannten Persönlichkeiten wie Dr. Herbert Zipper für die Philippinen sicherlich ein Gewinn. Er gründete und leitete das Manila Symphony Orchestra, während seine Frau Trudl geb. Dubsky zahlreiche philippinische Tänzer/innen in den modernen Stilrichtungen unterrichtete. Dr. Eugene Stransky, ein Spezialist für Bluterkrankungen, und Ernest Konfeld, ein fähiger Architekt, trugen mit ihrem Schaffen zur Bereicherung des Lebens in den Philippinen bei.

Die dramatische Flucht des Kantors Joseph Cysner von Polen über Deutschland nach Manila wurde in B. Harris’ Publikation „From Zbaszyn to Manila: The Creation of an American Holocaust Haven“ anschaulich beschrieben [5]. Cysner wurde später als Musikprofessor am De La Salle College in Manila verpflichtet. Seine Lehrveranstaltungen zur klassischen Musik genossen einen exzellenten Ruf. Die unter der Leitung von Philip Frieder stehende Manila Jewish Community und das Jewish Refugee Committee of Manila (JRC) umfassten einflussreiche und wohlhabende amerikanische Mitglieder der Jüdischen Community und wurden auch mit der Zielsetzung gegründet, deutsche Mitglieder der jüdischen Community in Schanghai zu retten.

Das Ehepaar Herbert und Trudl Zipper

Eine der herausragenden Persönlichkeiten unter allen jüdischen Flüchtlingen war der am 24. April 1904 in Wien geborene Herbert Zipper. Vor dem Zweiten Weltkrieg war Zipper ein klassischer Musiker, Komponist und Dirigent. Er kannte die damaligen Koryphäen der Musikszene – unter ihnen Igor Strawinski, Paul Hindemith, Sergej Prokofjew und Kurt Weill. Während des Krieges wurden er und seine Brüder wie so viele andere Juden von den Nazis verhaftet und in das Konzentrationslager Dachau verfrachtet. Dort baute er ein geheimes Orchester auf, das mit selbstgebauten Instrumenten auf einer verlassenen Latrine spielte. 1938 komponierte er das Dachau Lied, für das sein Freund und Mitgefangener Jura Soyfer den Text verfasst hatte. (Soyfer war weniger Glück beschieden als seinem Kollegen und Freund; er wurde nach Buchenwald deportiert und verstarb dort an Typhus.)

Das Tor zum Lager trug die Aufschrift: Arbeit macht frei. Diese Parole erscheint im Text des Liedes, dessen erster Vers wie folgt lautet

Stacheldraht, mit Tod geladen,
ist um unsere Welt gespannt.
Drauf ein Himmel ohne Gnaden
sendet Frost und Sonnenbrand.
Fern von uns sind alle Freuden,
fern die Heimat, fern die Frauen,
wenn wir stumm zur Arbeit schreiten,
Tausende im Morgengraun.
Doch wir haben die Lösung von Dachau gelernt
und wurden stahlhart dabei:
Sei ein Mann, Kamerad,
bleib ein Mensch, Kamerad,
mach ganze Arbeit, pack an, Kamerad,
denn Arbeit, Arbeit macht frei!

Das Lied wurde zu einer Hymne des Widerstands und von Lager zu Lager weitergereicht. Die Nazis gründeten in jedem der fünf Vernichtungslager Orchester, die sich aus inhaftierten Häftlingen zusammensetzten. Sie wurden gezwungen, Musik zu spielen, während ihre Mitgefangenen in die Gaskammern getrieben wurden. Obwohl diese Musiker saubere Kleidung und andere Vergünstigungen erhielten, war unter ihnen die Selbstmordrate höher als unter den meisten anderen versklavten Lagerarbeitern. Eine Ausnahme hiervon bildeten die, die in die Tötungsmaschinerie eingebunden waren oder Bestattungen durchführen mussten. [6]

Später wurde Zipper von Dachau nach Buchenwald verlegt. Mit Hilfe seiner Familie konnte seine Freilassung bewirkt werden, die er nutzte, um sich nach den Philippinen abzusetzen. Als die Japaner in das Land einmarschierten, wurde er abermals interniert. Während der Besetzung Manilas (von Anfang Januar 1942 bis Sommer 1945), nebst Warschau die am meisten zerstörte Hauptstadt während des Zweiten Weltkriegs, war Zipper Mitglied der im Untergrund operierenden Widerstandsbewegung und funkte unter anderem Schiffsinformationen an die US-Flotte.

Als schließlich philippinische Partisanen und US-amerikanische Verbände 1945 Manila nach schweren, äußerst verlustreichen Kämpfen zurückeroberten, organisierte er ein Konzert für die US-Truppen. Das Konzert erwies sich als so erfolgreich, dass das US-Militär Zipper und das Manila Symphony Orchestra mit der Fortführung der Konzerte beauftragte. Einmal spielten sie vor über 200.000 Militärangehörigen. Nach dem Krieg siedelten die Zippers in die Vereinigten Staaten über, wo Herbert bis zu seinem Tode 1997 im kalifornischen Santa Monica seine Kompositions-, Dirigenten- und Unterrichtstätigkeit fortsetzte.

Japanische Militaristen und Nazis Hand in Hand

Die zuvor von Amerikanern dominierte jüdische Community, die das Leben von weit über 1.000 europäischen Juden vor der möglichen Ausrottung sicherte, sah sich selbst einer unerwarteten Verfolgung ausgesetzt. Als die japanischen Truppen um die Jahreswende 1941/42 ins Land eindrangen, wurden innerhalb weniger Tage jeder Amerikaner, Brite, Commonwealth-Angehörige, Holländer, Pole, Belgier oder Angehörige eines Staates, der sich mit Japan oder Deutschland im Krieg befand, mit dem Bus zur renommierten, von Dominikanern geleiteten Santo Tomas University ins Stadtzentrum von Manila verbracht und dort interniert.

Der Januar 1943 brachte eine neue und dennoch alte Bedrohung für die jüdische Community von Manila. Antisemitische Verfolgungen zielten auf die nicht internierten deutschen Juden ab. Im Zuge der Allianz von Hitler-Deutschland mit dem japanischen Kaiserreich hatten nazistische Schmähreden die Philippinen erreicht. Im Januar 1944 beförderte schließlich der deutsche Botschafter in Japan, Heinrich Stahmer, mit Franz Josef Spahn einen Mann, der fortan als neuer nationalsozialistischer Parteiaufseher über die German Community in Manila wachen sollte. Bald kursierten Gerüchte, wonach die deutschen Juden in ein Ghetto verbracht werden sollten. Spahn verlangte die sofortige Internierung von Fremden, die sich „feindlicher, gegen den Frieden, die Sicherheit und Interessen der philippinischen Republik gerichteter Aktionen schuldig“ gemacht hatten. [7]

Die Nazi-Partei auf den Philippinen fälschte Tatsachen in Bezug auf das mittlerweile aufgegebene Mindanao-Ansiedlungsprojekt und behauptete, die Juden sabotierten dieses. Sie verfolgten nunmehr das Ziel, die städtische philippinische Wirtschaft im Schlepptau der japanischen Militaristen zu dominieren. Mit anhaltender Kriegsdauer verschlechterte sich die allgemeine Lage in Manila dramatisch. Sämtliche Zivilpersonen galten nunmehr als „subversiv“ und die meisten flohen aus der Stadt in die angrenzenden Berge, um möglichen Vergeltungen zu entgehen.

Allein die „Schlacht um Manila“, die offiziell am 3. Februar 1945 begann und einen Monat lang dauerte, in der erbittert um jede einzelne Häuserzeile gekämpft und schwere Artillerie eingesetzt wurde, kostete über 100.000 Menschenleben. Zurück blieb eine Ruinenstadt. Über 1.000 Juden entkamen der Vernichtung in der einst florierenden Metropole der Philippinen, indem sie den Pasig River in Richtung Norden überquerten. Sie mussten 67 tote und mehr als zweihundert verwundete Mitglieder zurücklassen. Viele Überlebende verließen schließlich Manila in Richtung Vereinigte Staaten, um sich dort dauerhaft anzusiedeln.

Weiterführende Lektüre

Ernest Heppner: Shanghai Refuge: A Memoir of the World War II Jewish Ghetto, Lincoln, NE: University of Nebraska, 1993; David Kranzler: Japanese, Nazis, & Jews: The Jewish Refugee Community of Shanghai, 1938-1945, Hoboken, NJ: KTAV Publishing House, Inc., 1988 & Paul Cummins: Musik trotz allem – Herbert Zipper: Von Dachau um die Welt, Wien: Lafite-Verlag, 1993.


[«*] Dr. Rainer Werning, Politikwissenschaftler & Publizist mit den Schwerpunkten Südost- und Ostasien, ist u.a. Philippinen- und (Nord-)Korea-Dozent an der Akademie für Internationale Zusammenarbeit (AIZ) in Bonn-Röttgen. Er ist Koherausgeber der Ende des Jahres im Berliner regiospectra Verlag erscheinenden 6. Auflage des Handbuch Philippinen.

[«1] Philippine Ambassador to Israel Pushes for Recognition of Filipinos’ Role in Saving Jews, Department of Foreign Affairs, Pressemitteilung (SFA-AGR-186-05), Jerusalem, Israel, April 01, 2005.

[«2] Die einzige heute existierende Synagoge im Land ist die 1983 gebaute Makati’s Beth Ya’acov Synagoge. Zuvor gab es den Mitte der 1920er Jahren gebauten Temple Emil. Siehe: Jews in the Philippines, Wikipedia; siehe auch hier (dann weiter: The Philippines) & jewishphilippines.org

[«3] Frank Ephraim: Escape to Manila: From Nazi Tyranny to Japanese Terror, Chicago: Univ. of Illinois Press, 2003.

[«4] Joseph Berger: A Filipino-American Effort to Harbor Jews Is Honored, in: The New York Times, February 14, 2005.

[«5] Bonnie Harris: Cantor Joseph Cysner: From Zbaszyn to Manila – The Creation of an American Holocaust Haven, University CSB, research paper, February 6, 2005, 75 S.

[«6] Ein weiteres Lied – Die Moorsoldaten – wurde ebenfalls weltberühmt. Es ist zuerst im Börgermoorer Konzentrationslager, das sich im Nordwesten Deutschlands nahe der holländischen Grenze befand, aufgeführt worden. Das Lied geht auf das tägliche Leben und die in den Lagern verrichtete Zwangsarbeit ein.

[«7] B. Harris: Cantor Joseph Cysner …, a.a.O.

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