Alte Freunde, neue Feinde – Die Türkei am geopolitischen Scheideweg

Jakob Reimann
Ein Artikel von Jakob Reimann

Die Beziehungen zwischen den USA und der Türkei sind in ihrer schwersten Krise seit Jahrzehnten. Ein türkischer Geistlicher im amerikanischen Exil, ein amerikanischer Geistlicher unter türkischem Hausarrest – in Ankaras Augen beides Terroristen. Ein gescheiterter Putschversuch, die Erdoğan-Regierung fordert Loyalität vom Westen; und bekommt sie nicht. Washington unterstützt jene Kurden, gegen die Ankara Krieg führt. Sanktionierung von Ministern, Strafzölle, Drohgebärden, Sanktionen und Gegensanktionen, die türkische Lira bricht ein, Twitter-Attacken, eine medienwirksame Schlammschlacht und nationalistisches Getöse – die Türkei-Krise als Paradebeispiel einer wild rotierenden Eskalationsspirale. Von Jakob Reimann[*].

Gern wird die gegenwärtige Krise auf einen Faustkampf seiner zwei Populisten an der Spitze reduziert, während der geopolitische Kontext einer aufstrebenden Türkei vernachlässigt wird. Denn angesichts eines Wirtschaftswachstums in Rekordhöhe in den letzten anderthalb Jahrzehnten strebt Ankara weiter danach, diesen Wirtschaftsboom derart in politische und militärische Macht zu übersetzen, dass im Nahen und Mittleren Osten keine Politik mehr an der Türkei vorbei implementiert werden kann.

Und so will sich die Türkei mehr und mehr als globalen Player positionieren und strebt dafür etwa die Aufnahme in die Gemeinschaft der BRICS-Staaten an – Erdoğan hat mit BRICST bereits das Update des Akronyms parat. Doch anders als etwa Griechenland, oder auch Irland und Portugal, die unter Preisgabe ihrer Souveränität unter den Europäischen Rettungsschirm gezwängt wurden, verfügt die Türkei über keine finanzstarken Akteure hinter sich, die den Fall der Lira ernsthaft aufhalten wollten – und ein demütiger Gang zum IWF käme politischem Selbstmord Erdoğans gleich. So bleibt es unwahrscheinlich, dass trotz gewisser Annäherungen kurzfristig substanzielle Hilfen aus den BRICS-Staaten zu erwarten wären. Gewiss nicht aus Moskau. Und auch wenn Peking zwar entsprechende Möglichkeiten durchspielt, würde es sich bei eventuellen Hilfszahlungen „eher um eine politische Geste handeln als um eine fundamentale Unterstützung der Lira“, wie chinesische Medien analysieren.

Katar und die türkische Lira

Erste Finanzspritzen kamen daher auch nicht aus den zumindest auf dem Papier noch immer befreundeten NATO-Staaten oder der EU, sondern aus Katar – einem Land, das wie die Türkei selbst im Zentrum sich verschiebender Bündnisse und Allianzen im Nahen Osten steht.

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Seit Juni 2017 wird die kleine, ultrareiche Golfmonarchie wegen ihrer guten Beziehungen sowohl zum Iran als auch zu den Muslimbrüdern von Saudi-Arabien, den Emiraten, Bahrain und Ägypten mit einem umfassenden Embargo belegt – Stichwort: Katar-Krise – welches soweit geht, dass Riad als Strafmaßnahme mittels eines 200 Meter breiten Kanals Katar vom Festland abschneidet und effektiv in eine Insel verwandelt. Katar wurde ohne Anlass vom pro-westlichen Lager der arabischen Golfmonarchien weiter ins pro-iranische Lager gedrängt. Die Türkei war daraufhin das erste Land, das Katar im Sommer 2017 öffentlich seine Solidarität bekundete und diplomatisch beistand. Die einzigen zwei Länder, die Katar mit Lebensmittelsoforthilfen unter die Arme griffen – um nach dem Abriegeln der einzigen Landgrenze durch die Saudis die Nahrungsmittelsicherheit der katarischen Bevölkerung sicherzustellen – waren der Iran und die Türkei.

Diesen Freundschaftsdienst erwidert Katar nun. Emir Tamim Bin Hamad Al Thani war der erste Staatschef, der Ankara nach Beginn der türkischen Finanzkrise Anfang August besuchte – im Gepäck ein Hilfspaket in Höhe von 15 Milliarden US-Dollar für „eine Reihe von Wirtschaftsprojekten, Investitionen und Einlagen“. Die bloße Ankündigung dieses Hilfspakets führte nur einen Tag später zu einer sofortigen Erholung der türkischen Lira, die sich auf einen Kurs von 5,85 zum US-Dollar im Vergleich zu 7,24 einige Tage zuvor leicht stabilisierte. Die von Washington vollkommen grundlos vom Zaun gebrochene Türkei-Krise führt somit zu einer weiteren Verbesserung der ohnehin bereits sehr guten Türkei-Katar-Beziehungen auf wirtschaftlichem, politischem, diplomatischem und militärischem Terrain. Um diese zu verstehen, ist ein kurzer Blick auf den Arabischen Frühling vonnöten.

Gemeinsame Feinde stiften Identität

2011 unterstützten sowohl Ankara als auch Doha in verschiedenen arabischen Ländern Gruppierungen der Muslimbrüderschaft in der Rebellion gegen die jahrzehntelangen Diktatoren der Region. Es mag in westlichen Ohren sonderbar klingen, doch vertreten die Muslimbrüder ein verhältnismäßig säkulares Demokratieverständnis, das in der arabischen Welt seinesgleichen sucht, und stellen als gemäßigtere Form des politischen Islams eine ideologische Bedrohung für den puristischen, proto-faschistischen Wahhabismus Saudi-Arabiens und anderer Golfmonarchien dar. Während die vom Westen und seinen Alliierten unterstützten, teils offen faschistischen oder dschihadistischen Kräfte im Zuge des Arabischen Frühlings flächendeckend obsiegten – Militärputschist al-Sisi in Ägypten etwa oder die Al-Qaida in Libyen –, wurden Ankaras und Dohas Protegés vernichtend geschlagen.

In den Folgejahren zementierte daraufhin ein anderes Alleinstellungsmerkmal die türkisch-katarischen Beziehungen: die massive Unterstützung des Ablegers der Muslimbrüder im Gazastreifen – der Hamas. Denn nachdem die historisch enge Partnerschaft zwischen dem Iran und Gaza mit Beginn des Syrienkriegs 2011 – zum Missfallen Teherans stellte sich die Hamas gegen ihren ehemaligen Gönner Assad – auf Eis gelegt wurde, waren die Türkei und Katar die einzigen Länder der islamischen Welt, die Gaza überhaupt unterstützten und dies bis heute tun. Die Hamas verlegte 2012 gar ihr langjähriges Auslandsbüro von Damaskus nach Doha.

Seit wenigen Wochen ist auch der Iran wieder im großen Stile zurück im Hamas-Business – Gaza-seitig aus finanzieller Not geboren, von Seiten Teherans gewiss als Trotzreaktion gegen US-amerikanisch-israelisches Säbelrasseln zu interpretieren – und ist laut Hamas-Führung „mit Geld und Waffen [unser] größter Unterstützer“. Und so wurde bizarrerweise die Unterstützung der Hamas im Gazastreifen ein zentrales Element, das die drei von den USA und seinen Golf-Verbündeten grundlos losgetretenen Krisen – die Katar-Krise, die Iran-Krise und die Türkei-Krise – eint und als nicht zu unterschätzendes, identitätsstiftendes Moment zur Blockbildung und weiteren Verschiebung von Allianzen im Nahen und Mittleren Osten beiträgt.

Während die Beziehungen der USA zu Katar trotz Embargo des Saudi-Blocks weiter gut sind – aktuell wird der massive Ausbau der bereits heute größten US-Basis im Nahen Osten nahe Doha geplant – verstärken die beiden anderen Krisen sich wechselseitig in ihrer Opposition zur beinahe dogmatischen Konfrontationspolitik aus Washington. Das türkisch-iranische Verhältnis ist ohnehin seit Jahrhunderten von gegenseitigem Respekt geprägt, Konflikte werden pragmatisch angegangen. Allen voran Trumps Drohung an die Welt, jedes Land mit Sanktionen zu belegen, das mit Stichtag 4. November seine Importe iranischen Öls nicht auf Zero herunterfährt, stärkt die Bande zwischen Ankara und Teheran weiter. Denn während die US-Verbündeten Indien und Südkorea als zweit- und drittgrößte Käufer iranischen Öls ihre Importmengen massiv drosseln – Südkorea importierte im Juli tatsächlich Zero – machte die Türkei als Nummer vier unmissverständlich klar, dass es nicht vorhabe, dem Druck Washingtons kleinbeizugeben, sondern weiter an der Seite des Iran zu stehen. Auch für China als mit Abstand größtem Einkäufer iranischen Öls kommt eine Unterwerfung unter Trumps Forderungen natürlich nicht in Frage. Angesichts der regelrechten Obsession des Trumpschen White House auf das Feindbild Iran fungieren daher sowohl der eskalierende Wirtschaftskrieg gegen China als auch der Angriff auf die türkische Wirtschaft auch als Strafmaßnahme für die Weigerung beider Länder, Washingtons Forderung nach hermetischer Isolation des Iran mitzutragen.

Die Türkei-Krise führt – gewiss gegen die Intention des Weißen Hauses – zu einer Stärkung des teils grundlos in diese Rolle gezwängten anti-westlichen Blocks Moskau-Teheran-Ankara: Dieser Tage treffen sich Putin, Erdoğan und Rouhani in Teheran zum dritten trilateralen Gipfel dieser Art in den letzten zehn Monaten und diskutieren dort neben dem Konfliktfeld Syrien vor allem auch Strategien zum koordinierten Vorgehen gegen Washingtons Sanktionsregime.

Syrien, Rojava und Erdoğans russisches Dilemma

Ein weiterer zentraler Aspekt, in dessen Rahmen die gegenwärtige Eskalation der USA-Türkei-Beziehungen analysiert werden muss, ist die Frage der Kurden in Nordsyrien, die in Rojava versuchen, einen auf radikaler Geschlechter- und sozialer Gleichheit beruhenden, graswurzeldemokratischen Gesellschaftsentwurf zu implementieren und die am Boden de facto die einzigen Kräfte waren, die in Syrien effektiv den IS bekämpften. Während Erdoğan die Rojava-Kurden als existenzielle Bedrohung der nationalen Sicherheit einstuft und als „Terroristen“ – zuletzt in Afrin – gegen sie Krieg führt, werden sie von den USA als eigene „Ersatzbodentruppen“ in Syrien instrumentalisiert und großzügig unterstützt.

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Neben weiterer Entfremdung zwischen der USA und der Türkei in anderen Konfliktherden der Region ist es insbesondere diese zunehmende Unterstützung der Rojava-Kurden, wegen derer sich Erdoğan in einem Schritt der Ausweglosigkeit um eine Annäherung an Putin bemühte – obwohl auch deren Beziehung am Boden war, nachdem das türkische Militär Ende 2015 einen russischen Kampfjet vom Himmel holte. Während Moskaus Beziehungen zu den Rojava-Kurden zwar äußerst ambivalent – jedoch keineswegs feindselig – sind, stellte die fortwährende Unterstützung der Kurden durch Ankaras westliche NATO-Verbündete eine derartige Bedrohung dar, dass Erdoğan fast zwangsläufig in den Block Moskau-Teheran-Damaskus hineingetrieben wurde, der ihn bereitwillig in seinen Reihen aufnahm.

Als Demonstration dieser neuen türkisch-russischen Annäherung entschied sich Ankara, statt des US-amerikanischen Patriot-Raketenabwehrschirms das nicht-NATO-kompatible S-400-System aus Russland zu erwerben, was Washington wie zu erwarten in Rage versetzte. Das Pentagon als globaler Waffenhändler hofft weiterhin auf den Patriot-Deal, jüngst wurden als Druckmittel Lieferungen von F-35-Kampfjets in die Türkei ausgesetzt. „Wir brauchen von niemandem die Erlaubnis“, poltert Erdoğan in Richtung Weißes Haus in Hinblick auf den S-400-Deal mit Russland. Auch nach Trumps jüngsten Attacken auf die türkische Lira wandte sich Erdoğan an Putin und lobte auf dem Gebiet des Handels „die Fortschritte in unseren Beziehungen zu Russland“ und pries „gemeinsame Vorteile und Interessen“. Doch diese in gemeinsamer Opposition zur USA demonstrative Zurschaustellung von türkisch-russischer Einigkeit kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Etablierung einer dauerhaften, engen Partnerschaft zwischen Ankara und Moskau keineswegs zwangsläufig ist.

Dies offenbart sich aktuell an der sich anbahnenden Großoffensive der Assad-Regierung auf die letzte syrische Rebellen-/Terroristenhochburg in Idlib. Russland – genau wie der Iran – steht hier eng an der Seite Assads; Moskau flog bereits erste Bombardements auf die Stadt, in der sich laut UN zwischen 3 und 4 Millionen Menschen aufhalten, ein Großteil Menschen, die aus anderen syrischen Regionen geflohen sind. Die Türkei zieht aktuell hingegen massiv schweres Gerät an den Grenzen zusammen und hat selbst eine enorme Militärpräsenz in der Region: zwölf als „Beobachtungsposten“ euphemisierte Militärbasen rund um Idlib beheimaten sowohl reguläre türkische Truppen, befehligen jedoch auch Tausende Kämpfer verschiedenster Rebellen-/Terrormilizen – darunter diverse Al-Qaida-Ableger –, die Ankara hauptsächlich im Zuge seiner illegalen Angriffskriege gegen die syrischen Kurdenprovinzen Kobanê im Herbst 2016 sowie Afrin im Frühjahr 2018 rekrutierte. Die Türkei kontrolliert in Idlib damit ein hochgerüstetes Heer unzähliger Gruppen, das zusammen bis zu 100.000 Kämpfer stellt – ein Großteil darunter exakt jene „Terroristen“, die Assad und Putin nun vernichten wollen, woraus ein potentiell hochexplosives Setting resultiert.

Doch neben diesen kaum vereinbaren Gegensätzen in den jeweiligen Syrien-Strategien würde eine dauerhafte türkisch-russische Allianz womöglich ebenso an innertürkischen Widersprüchen scheitern – allen voran am Widerstand der traditionell russlandfeindlichen, rechtsextremen „Partei der Nationalistischen Bewegung“ (MHP), die in der Breite des türkischen Staatsapparates äußerst mächtig ist und von deren Gunst Erdoğans Machterhalt abhängt. „Diese rechten türkischen Nationalisten“, schreibt Türkeiwissenschaftler Halil Karaveli in Foreign Policy über die MHP, „sehen Russland als Erzfeind des Osmanischen Reiches und als den Versklaver der türkischen Völker“. Entgegen den oft kolportierten „Mythos von Erdoğans Macht“ ist dieser keineswegs „der neue Sultan“, sondern im hohen Maße politisch abhängig von den Nationalisten der MHP, so Karaveli weiter.

Bei all seiner Megalomanie ist sich auch Erdoğan dieser inneren Zwänge natürlich bewusst, weshalb dessen martialische Rhetorik und sein – oft pragmatisches – Handeln streng getrennt voneinander analysiert werden sollten. Die gegenwärtige Stärkung der russisch-türkischen Beziehungen kann nicht außerhalb des Kontexts der sich in den letzten zwei bis drei Jahren verschlechternden US-Türkei-Beziehungen gesehen werden – sowie insbesondere im aktuellen Kontext des gemeinsamen Vorgehens gegen den wild um sich schlagenden Narzissten im Weißen Haus. Ein gestärkter Block Russland-Iran-Syrien-Türkei wird zusammen mit einem weiterhin Trump Contra gebenden Erdoğan gewiss die nächsten Monate und Jahre Geopolitik im Nahen und Mittleren Osten signifikant prägen. Dennoch ist es wenig wahrscheinlich, dass Ankaras sich verbessernde Beziehungen zu Moskau auf Dauer jene zu Washington – und darüber hinaus zu den anderen NATO-Staaten – ersetzen werden. Durch die binäre US-Russland-Brille betrachtet, erleben wir im Nahen und Mittleren Osten aktuell gewiss eine Machtverschiebung in Richtung des russischen Blocks, doch ist weder die politische noch die ökonomische Sprengkraft der Türkei-Krise explosiv genug, um Ankara dauerhaft aus dem westlichen Bündnis herauszubrechen.


[«*] Jakob Reimann bloggt auf JusticeNow! Er hat im Sommer 2014 sein Masterstudium in Biochemie in Dresden absolviert und arbeitet mittlerweile an der naturwissenschaftlichen Fakultät der An-Najah National University in Nablus, Palästina. Er forscht über die Auswirkungen chemischer Industrieanlagen auf Umwelt und Gesundheit der Menschen in der Westbank. Er ist zudem freiwillig für die Flüchtlingsorganisation PICUM tätig.

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