Linkspopulismus als progressive politische Strategie der Zukunft

Chantal Mouffe
Ein Artikel von Chantal Mouffe

Die NachDenkSeiten haben die inflationäre und abwertende Verwendung des Begriffs „Populismus“ schon immer sehr kritisch begleitet. Bereits vor zwei Jahren schlug Albrecht Müller vor, den Begriff aus unserem Sprachgebrauch zu streichen, da er vor allem der Diffamierung und im Umkehrschluss der Reinwaschung der Diffamierenden diene. Einen anderen Weg schlägt nun die belgische Politikwissenschaftlerin Chantal Mouffe in einem Gastartikel für den Guardian vor. Mouffe will den Begriff positiv besetzen und sieht in einem radikalen Linkspopulismus nicht nur die einzige Chance, um dem grassierenden Rechtspopulismus etwas entgegenzusetzen, sondern auch den besten Weg, die Demokratie wieder zurückzugewinnen. Jens Berger hat den Guardian-Artikel für die NachDenkSeiten übersetzt. Beachten Sie bitte auch das sehr lesenswerte Interview, das Chantal Mouffe der Schweizer „Republik“ gegeben hat und das wir bereits heute morgen in unseren Hinweisen empfohlen haben. Es ist schön mitzubekommen, dass einige der Forderungen, die die NachDenkSeiten seit Langem formulieren, nun auch von politischen Vordenkern aufgenommen werden.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Lesen Sie dazu bitte auch Chantal Mouffes interessanten Artikel zur Post-Politik des Emmanuel Macron, der auf den NachDenkSeiten vor einem Jahr in deutscher Übersetzung erschienen ist.

Populisten sind auf dem Vormarsch, aber dies kann auch eine Gelegenheit für die Progressiven sein

Der Neoliberalismus hat echte Missstände geschaffen, die von der radikalen Rechten politisch ausgenutzt wurden. Die Linke muss einen neuen Weg finden, sie zu artikulieren.

Es sind unruhige Zeiten für die demokratische Politik. Schockiert durch den Sieg der euroskeptischen Koalitionen in Österreich und Italien skandieren die neoliberalen Eliten, die sich bereits durch das Brexit-Votum und den Sieg Donald Trumps in Sorge sind, nun, die Demokratie sei in Gefahr und warnen vor einer möglichen Rückkehr des “Faschismus”.

Es ist nicht zu leugnen, dass Westeuropa derzeit einen “populistischen Moment” erlebt. Dies ergibt sich aus dem Anwachsen zahlreicher Anti-Establishment-Bewegungen – ein klares Signal für eine Krise der neoliberalen Hegemonie. Diese Krise könnte in der Tat den Weg für autoritärere Regierungen bereiten. Sie könnte aber auch die Möglichkeit bieten, die demokratischen Institutionen zurückzugewinnen und zu vertiefen, die durch 30 Jahre Neoliberalismus geschwächt sind.

Unser derzeitiger post-demokratischer Zustand ist das Ergebnis mehrerer Phänomene. Das erste Phänomen, das ich “Post-Politik” nenne, ist das Verschwimmen der Grenzen zwischen rechts und links. Dies ist die Folge des Konsenses zwischen den Mitte-Rechts- und Mitte-Links-Parteien bei dem Dogma, dass es keine Alternative zur neoliberalen Globalisierung geben könne. Unter dem Schlagwort der “Modernisierung” haben die Sozialdemokraten das Diktat des globalisierten Finanzkapitalismus akzeptiert und dessen Beschränkungen für Politik und staatliche Interventionen verinnerlicht.

Politik ist so zu einer rein technischen Verwaltungsfrage geworden – einem Feld, das Experten vorbehalten ist. Die Souveränität des Volkes, Seele und Herz des demokratischen Ideals, wurde für überholt erklärt. Post-Politik erlaubt nur einen Machtwechsel zwischen Mitte-Rechts und Mitte-Links. Die für die Demokratie entscheidende Konkurrenz zwischen verschiedenen politischen Konzepten wurde beseitigt.

Diese post-politische Entwicklung ist durch die Dominanz des Finanzsektors gekennzeichnet, mit verheerenden Folgen für die produktive Wirtschaft. Dies ging einher mit einer Privatisierungs- und Deregulierungspolitik, die zusammen mit der Austeritätspolitik nach der Krise von 2008 zu einem exponentiellen Anstieg der Ungleichheit geführt hat.

Besonders betroffen davon sind die Arbeiterklasse und die ohnehin bereits Benachteiligten, aber auch ein bedeutender Teil der Mittelschicht, die immer mehr mit Armut und Unsicherheit konfrontiert wurde.

In den letzten Jahren haben sich verschiedene Widerstandsbewegungen herausgebildet. Sie verkörpern das, was Karl Polanyi in seinem Werk „The Great Transformation“ als „Gegenbewegung“ präsentierte – nämlich den Prozess, mit dem die Gesellschaft gegen die zunehmende Ökonomisierung reagiert und auf sozialen Schutz drängt. Diese Gegenbewegung könne sowohl progressive als auch regressive Formen annehmen. Diese Zwiespältigkeit gilt auch für den heutigen Populismus. In mehreren europäischen Ländern wurde der Widerstand von den rechten Parteien gekapert, die die Forderungen derjenigen, die von der politischen Mitte aufgegeben wurden, in einem nationalistischen und fremdenfeindlichen Vokabular artikulierten. Rechtspopulisten verkünden, dass sie dem Volk die Stimme zurückgeben werden, die ihm von den „Eliten“ geraubt wurde. Sie haben verstanden, dass Politik immer auch parteiisch ist und eine Konfrontation zwischen „uns“ und „denen“ verlangt. Darüber hinaus haben sie die Notwendigkeit erkannt, auch an die Emotionen und Gefühle zu appellieren, um eine gemeinsame politische Identität zu erschaffen. Sie ziehen eine Trennlinie zwischen dem “Volk” und dem “Establishment” und lehnen den post-politischen Konsens offen ab.

Das sind genau die politischen Schritte, zu denen die meisten Parteien der Linken aufgrund ihres konsensorientierten Politikkonzepts und einer rationalen Sichtweise, die Leidenschaft ignoriert, nicht in der Lage sind. Für sie ist nur eine rationale, vernunftgesteuerte Debatte akzeptabel. Dies erklärt ihre Feindseligkeit gegenüber dem Populismus, den sie mit Demagogie und Irrationalität verbinden. Leider wird die Herausforderung des Rechtspopulismus nicht dadurch bewältigt werden, dass der post-politische Konsens beharrlich aufrechterhalten und die Anhänger der Rechtspopulisten als “Pack” verachtet werden.

Es ist wichtig zu erkennen, dass die moralische Verurteilung und Dämonisierung des Rechtspopulismus völlig kontraproduktiv ist – sie verstärkt lediglich die Anti-Establishment-Haltung bei denjenigen, denen es am Vokabular fehlt, die eigentlichen Missstände zu formulieren.

Rechtspopulistische Parteien als “rechtsextrem” oder “faschistisch” zu klassifizieren, sie als eine Art moralische Krankheit zu präsentieren und ihre Anziehungskraft mit den Bildungsdefiziten ihrer Anhänger zu erklären, ist natürlich für die linke Mitte sehr praktisch. Damit können sie die Forderungen der Populisten ablehnen und gleichzeitig vermeiden, die eigene Verantwortung für ihren Aufstieg anzuerkennen.

Der einzige Weg, den Rechtspopulismus zu bekämpfen, ist eine progressive Antwort auf die Forderungen, die sie in einer fremdenfeindlichen Sprache äußern. Dies bedeutet, die Existenz eines demokratischen Kerns in diesen Forderungen anzuerkennen und durch einen anderen Diskurs die Möglichkeit zu eröffnen, diese Forderungen in einer radikaldemokratischen Richtung zu artikulieren.

Dies ist die politische Strategie, die ich als “linken Populismus” bezeichne. Ihr Zweck ist die Konstruktion eines kollektiven Willens, eines “Volkes”, dessen Gegner die “Oligarchie” ist, die Kraft, die die neoliberale Ordnung aufrechterhält.

Hier verliert auch die klassische Links-Rechts-Einordnung ihre Aussagekraft. Im Gegensatz zu den Konflikten, die charakteristisch für die Ära des fordistischen Kapitalismus waren, als es noch eine Arbeiterklasse gab, die ihre spezifischen Interessen verteidigte, hat sich heute der Widerstand über den industriellen Sektor hinaus entwickelt. Ihre Forderungen entsprechen nicht mehr klar definierten sozialen Gruppen. Es geht vielmehr auch um Fragen der Lebensqualität und es gibt Überschneidungen mit Themen wie Sexismus, Rassismus und anderen Formen der Herrschaft. Bei dieser Vielfalt an Interessen und Themen kann die traditionelle Links-Rechts-Grenze keinen kollektiven Willen mehr artikulieren.

Um diese verschiedenen Konflikte zusammenzubringen, muss eine Verbindung zwischen sozialen Bewegungen und einer neuen Art von Partei hergestellt werden, um ein “Volk” zu schaffen, das für Gleichheit und soziale Gerechtigkeit kämpft.

Wir finden eine solche politische Strategie in Bewegungen wie Podemos in Spanien, La France Insoumise von Jean-Luc Mélenchon oder Bernie Sanders in den USA. Dies beeinflusst auch die Politik von Jeremy Corbyn, dessen Bemühungen, die Labour-Partei in eine große Volksbewegung zu verwandeln, die “for the many, not the few” („für die vielen, nicht die wenigen“) arbeitet, bereits dazu geführt haben, Labour zur größten linken Partei in Europa zu machen.

Diese Bewegungen wollen durch Wahlen an die Macht kommen, aber nicht, um ein “populistisches Regime” einzuführen. Ihr Ziel ist es, demokratische Institutionen wiederzuerlangen und zu vertiefen. Diese Strategie wird verschiedene Formen annehmen: Je nach nationalem Kontext könnte sie “demokratischer Sozialismus”, “Ökosozialismus”, “liberaler Sozialismus” oder “partizipative Demokratie” genannt werden. Was jedoch wichtig ist, wie auch immer der Name lautet, ist, dass die “Demokratie” stets als Ziel im Mittelpunkt der Konflikte steht, und dass die politisch-liberalen Institutionen nicht abgelehnt werden.

Der Prozess der Radikalisierung demokratischer Institutionen wird zweifellos Bruchlinien und eine Konfrontation mit den vorherrschenden wirtschaftlichen Interessen auslösen. Es ist eine radikal-reformerische Strategie mit einer antikapitalistischen Dimension, die jedoch nicht den Verzicht auf liberale demokratische Institutionen erfordert.

Ich bin überzeugt, dass in den nächsten Jahren die zentrale Achse des politischen Konflikts zwischen Rechtspopulismus und dem Linkspopulismus verlaufen wird, und es ist unerlässlich, dass progressive Sektoren verstehen, wie wichtig es ist, sich in diesen Kampf einzubringen.

Die Popularität von Mélenchon, François Ruffin und anderen Kandidaten von La France Insoumise bei den Parlamentswahlen im Juni 2017 – auch in Marseille und Amiens, früheren Hochburgen von Marine Le Pen – zeigt, dass viele Menschen dem progressiven Kampf beitreten, wenn es einen egalitären Diskurs gibt, der ihre Beschwerden zum Ausdruck bringt. Dieser Populismus wurde konzipiert, um radikale demokratische Ziele zu verwirklichen und ist weit davon entfernt, eine Perversion der Demokratie zu sein – dies ist vielmehr die subjektive Sichtweise der Kräfte, die den Status quo verteidigen und all jene als “Extremisten” ausschließen wollen, die den postpolitischen Konsens ablehnen. Dieser Populismus ist im heutigen Europa die beste politische Strategie zur Wiederbelebung und Erweiterung unserer demokratischen Ideale.


Chantal Mouffe ist Professor für politische Theorie an der Universität von Westminster