PISA: Das deutsche Schulsystem ist unsozial – Und doch ändert sich nichts

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Der unsoziale Charakter des deutschen Schulsystems ist lange bekannt – ohne, dass diese Erkenntnisse Folgen hätten. So müsste die frühe Aufteilung unserer Kinder auf verschiedene Schulformen lange abgeschafft sein. Weil aber unsoziale Praktiken beibehalten werden, kommt eine aktuelle Erhebung der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) erneut zu einem für Deutschland inakzeptablen Ergebnis: So stark wie in kaum einem anderen Land entscheidet hierzulande die soziale Herkunft über den Bildungserfolg. Diese bittere Erkenntnis wird nun von vielen Medien hinter scheinbaren Erfolgsmeldungen versteckt. Von Tobias Riegel.

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Das deutsche Schulsystem steht international in der Kritik. Die Aufteilung zehnjähriger Kinder auf Gymnasien, Real- und Hauptschulen wird etwa von der UNO regelmäßig und schon lange scharf getadelt: So stellte der UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Bildung, Vernor Muñoz Villalobos, bereits 2007 und 2010 fest, dass das dreigliedrige Schulsystem in Deutschland – vor allem wegen der frühen Aufteilung in Schulformen mit krass unterschiedlichem Zukunfts-Potenzial – nicht „darauf abziele, alle gleich einzubeziehen“. Eine aktuelle Studie der OECD zu den unsozialen Folgen des hiesigen Bildungssystems zeigt nun, dass diese alte Kritik bis heute nicht beherzigt wird: Das deutsche Schulsystem produziert sehenden Auges dramatische Ungleichheiten.

Bildungspolitik: Stillstand trotz altbekannter Diagnosen

Es herrscht trotz dieser eindeutigen Diagnosen Stillstand. Um das zu verstehen, muss man sich erinnern, wie scharf etwa Muñoz von deutschen Bildungsfunktionären und Lobby-Verbänden angegangen wurde. Am weitesten trieb die Diffamierung des Kritikers wohl der deutsche Lehrerverband (DL), dessen damaliger Präsident Josef Krauss Muñoz’ Einlassungen als “öffentlich massenhaft verbreitetes und von so manchem Ghostwriter flankiertes Querulantentum“ abkanzelte: „Noch dreister freilich sind die Empfehlungen, Deutschland müsse sein gegliedertes Schulwesen überdenken“. Die sozialen Forderungen der UNO-Gesandten konnten laut Krauss nur Folge einer internationalen Verschwörung sein: „Aber passen Sie auf, dass Sie nicht von einem internationalen Gesamtschulkartell vor den Karren gespannt werden! Und bilden Sie sich nichts darauf ein, wenn sie in Zeitungen wie ‚Neues Deutschland‘, ‚junge Welt‘, ‚taz‘ oder in den Blättern der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft Jubelkommentare erfahren“, gab er Muñoz mit auf den Weg.

Krauss hätte noch die NachDenkSeiten als Teil des „Kartells“ erwähnen können, die sich kürzlich etwa hier, hier oder hier kritisch mit der „Digitalisierung des Klassenzimmers“ befasst haben, oder hier die Bedeutung der musischen Bildung verteidigt haben. In diesem Interview der NachDenkSeiten mit Katja Urbatsch von der Initiative arbeiterkind.de werden viele der jetzt besprochenen sozialen Hindernisse auf dem Weg zu einem gleichberechtigten Bildungszugang bereits thematisiert.

Medien verstecken Defizite hinter „Erfolgs“-Meldungen

Der ehemalige Chef des Lehrerverbandes liest wahrscheinlich auch dieser Tage lieber die „Süddeutsche Zeitung“ als die von ihm verteufelten Blätter. Denn die großen Medien drehen in ihren Berichten zu einer aktuellen Neu-Auswertung von PISA-Studien ein schlechtes Zeugnis für Deutschland in einen „Erfolg“: „Sozial benachteiligte Schüler holen auf“ jubelt die „Süddeutsche“ anlässlich der Studie “Chancengleichheit in der Bildung: Abbau von Hindernissen für soziale Mobilität“ der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) und fährt fort: „Der größte Fortschritt in Deutschland dürfte tatsächlich sein, dass sich die soziale Schere in allen getesteten Themengebieten – Naturwissenschaften, Mathematik und Deutsch – leicht geschlossen hat.“ Eine – wie die Zeitung selber einräumt – marginale „Verbesserung“ wird hier genutzt, um ein schlechtes Prinzip (die frühe Selektion) zu verteidigen.

Eine ähnliche Herangehensweise nutzen unter viele anderen Medien auch der „Spiegel“ („Deutschland holt auf“) oder die „Tagesschau“ („Bildung weniger abhängig von Herkunft“). Interessant ist, dass ausgerechnet die „Bild“-Zeitung die tatsächliche Botschaft des Berichts in die Überschrift packt: „Soziale Herkunft bestimmt unser Bildungs-Schicksal“. Aber schon in der Unterzeile wird beschwichtigt: „Doch 17 Jahre nach dem PISA-Schock wird es langsam besser!“

Deutschland ungleicher als OECD-Durchschnitt

Die Kernaussage der Untersuchung ist aber selbst laut „Süddeutscher Zeitung“:

„Dennoch bleiben sozial benachteiligte Schüler noch immer deutlich hinter ihren Klassenkameraden zurück. Im Bereich Naturwissenschaften erzielten sie 466 Punkte (…). Das waren 103 Punkte weniger als Kinder aus bildungsnahen Milieus. Dieser Unterschied entspricht den Pisa-Forschern zufolge einem Bildungsrückstand von dreieinhalb Schuljahren, der kaum aufzuholen ist. Deutsche Bildungspolitiker wird vor allem beunruhigen, dass der Unterschied zwischen diesen Schülergruppen im OECD-Durchschnitt nur bei 88 Punkten liegt.“

Also auch im internationalen Vergleich: Die vom deutschen Schulsystem produzierten Ungleichheiten zwischen den Schichten sind so gravierend („Bildungsrückstand von drei Jahren“), dass die minimalen und quälend langsam erreichten, nun aber nach vorne gestellten Verbesserungen das Defizit niemals werden ausgleichen können. Eine grundlegende Reform tut not: Das dreigliedrige Schulsystem und das Kooperationsverbot zwischen Bund und Ländern in Bildungsfragen sollten ersatzlos und schnell abgeschafft werden. Die Klassen müssen sozial durchmischt sein. Die Kinder sollten möglichst lange gemeinsam lernen, ohne auf verschiedene Schulformen aufgeteilt zu werden.

Erkenntnisse führen nicht zu Veränderungen

Es ist gut und wichtig, dass nun nochmals festgestellt wurde, dass Deutschlands Schulsystem laut den aktuellen Befunden erheblich unsozialer wirkt als das vieler seiner Nachbarn. Bedenklich ist aber, dass die Defizite und die Konflikte schon sehr lange bekannt sind und auch die neue Studie nun mutmaßlich folgenlos bleiben wird. Die oben erwähnte Katja Urbatsch von der Initiative arbeiterkind.de kann über die Frage, warum Deutschland Ungleichheiten schon in der Schule produziere, in einem aktuellen Interview nur noch den Kopf schütteln: „Ich kann gar nicht verstehen, warum wir uns überhaupt noch mit dieser Frage befassen müssen. Die pädagogischen Konzepte sind längst da.“ Aber sie dringen nicht durch.

So wie auch die Appelle der UNO von 2007 und 2010 bereits genau die heutigen Defizite beschreiben: Laut UN-Sonderberichterstatter Muñoz gebe es an Hauptschulen viele Migrantenkinder, an Gymnasien zu wenige. In Deutschland seien Herkunft und schulische Leistungen immer noch eng miteinander verknüpft. “Die soziale Ungleichheit spiegelt sich wider in den Bildungschancen”, sagte Muñoz. Dies setze sich auf dem Arbeitsmarkt fort. Ein zentrales Anliegen vieler fortschrittlicher Bildungs-Akteure in Deutschland, um die Reformblockaden aufzuheben, macht sich auch die UNO immer wieder zu eigen: die Abschaffung des Kooperationsverbots zwischen Bund und Ländern.

Lobbys zementieren Ungleichheit

Zusammengefasst: Abschaffung der unsozialen, weil viel zu frühen Auswahl unter unseren Kindern, langes gemeinsames Lernen in sozial gemischten Klassen sowie die Abschaffung des Kooperationsverbots – das sind die zentralen Vorbedingungen für eine Angleichung der Bildungs- und Berufschancen zwischen den sozialen Schichten. Wer sich fragt, warum diese scheinbar offensichtlichen Schritte nicht in Angriff genommen werden, sollte sich etwa die aktuellen „wichtigsten berufspolitischen Ziele“ des deutschen Lehrerverbands ansehen, der nur eine Lobby gegen Schulreformen unter vielen ist:

„1. Erhalt und Weiterentwicklung eines vielfältig gegliederten Schulsystems, das eine je individuelle Bildung in Hauptschule, Realschule, Gymnasium, Sonderschule oder in verschiedenen Formen berufsbildender Schulen erlaubt; 2. Stärkung des Kulturföderalismus, d. h. Verteilung der Hoheitskompetenzen im Schulbereich auf die Länder.“