Von der Pressefreiheit in der freien Welt

Ein Artikel von:

Warum herrscht auf unserer Welt weiterhin so viel Ungleichheit? Steht die Menschheit am Rande der Selbstauslöschung? Warum begehren die „99 Prozent“ nicht gegen die „Eliten“, die „Herren der Menschheit“, wie Noam Chomsky sie einst nannte, auf? In seinem neuen Buch „Kampf oder Untergang!“, das gerade pünktlich zu Noam Chomskys 90. Geburtstag erschienen ist, spricht Chomsky genau über diese großen Fragen. Ein Auszug.

Mark Twain soll einst gesagt haben: »Dank Gottes Gnade besitzen wir in diesem Land drei unglaublich wertvolle Dinge: die Freiheit des Gewissens, die Freiheit der Rede und die Klugheit, keine der beiden jemals in Anspruch zu nehmen.«
In seiner unveröffentlichten Einleitung zu Animal Farm – gewidmet der »literarischen Zensur« im freien England – nannte George Orwell einen Grund für jene Klugheit, die Twain meinte. Es herrsche, so schrieb er, ein allgemeines, stillschweigendes Abkommen darüber, dass es nicht notwendig sei, bestimmte Tatsachen zu benennen. Dieses stillschweigende Abkommen bewirke eine »verschleierte Zensur« basierend »auf einer strengen Glaubenslehre, einer Sammlung von Ideen, die alle vernünftigen Menschen ohne jegliche Hinterfragung anerkennen«, und »jeder, der diese vorherrschenden Ideen in Frage stellt, wird mit überraschender Effizienz zum Schweigen gebracht« – sogar ohne »irgendein offizielles Verbot«.

Die Ausübung jener Klugheit können wir in freien Gesellschaften permanent beobachten. Exemplarisch hierfür ist die amerikanisch-britische Invasion des Iraks. Sie ist das Paradebeispiel einer Aggression ohne jeglichen glaubwürdigen Vorwand, das »höchste, internationale Verbrechen«, wie derartige Aktionen einst während der Nürnberger Prozesse definiert wurden. Es ist legitim zu behaupten, dass dies ein »dummer Krieg«, ein »strategischer Missgriff« oder – um es mit Barack Obamas Worten, die von der liberalen Presse besonders gelobt wurden, auszudrücken – sogar »der größte strategische Fehler in der jüngeren Geschichte der amerikanischen Außenpolitik« gewesen ist.

Doch all dies reicht nicht aus, um zu beschreiben, was die Invasion des Iraks tatsächlich gewesen ist, nämlich das Verbrechen des Jahrhunderts. Niemand würde sich sträuben, derartige Worte zu benutzen, wenn ein offizieller Feind ein solches oder sogar ein kleineres Verbrechen begangen hätte. Die vorherrschende Lehre ist gewiss auch nur schwer mit den Aussagen von historischen Figuren wie Präsident Ulysses S. Grant in Einklang zu bringen. Dieser war nämlich der Meinung, dass kein Krieg so »niederträchtig« gewesen sei wie jener, den die USA einst gegen Mexiko führten und dabei jene Gebiete eroberten, die heute Kalifornien und den Südwesten des Landes ausmachen. Grant kämpfte bei diesem Krieg als Junior Officer mit. Später meinte er auch, dass er sich dafür schämen würde, nicht die moralische Tapferkeit aufgebracht zu haben, um zurückzutreten. Stattdessen beteiligte er sich an den Verbrechen.

Die Unterwerfung unter eine vorherrschende Glaubenslehre hat Konsequenzen. Unverhohlen wird davon gesprochen, dass wir nur jene Kriege führen, die klug, richtig und gerecht sind. Kriege, deren Ziele erreicht werden. In der Realität sind sie jedoch absolut niederträchtig und schreckliche Verbrechen. Die Beweislast dafür ist erdrückend. In einigen Fällen ist die Situation ähnlich wie bei jenem Jahrhundertverbrechen, und auch die Praxis jener Kreise stimmt dort überein.

Ein weiterer bekannter Aspekt jener Glaubenslehre ist das Verteufeln offizieller Feinde. Ich möchte diesbezüglich auf ein Beispiel aufmerksam machen, das fast zufälliger nicht sein könnte, nämlich der Ausgabe der New York Times, die zufälligerweise vor mir liegt und in der ein kompetenter Wirtschaftsjournalist vor dem Populismus eines Hugo Chávez warnt, der nach seiner Wahl in den späten 1990er-Jahren angeblich »jedwede demokratische Institution, die ihm im Weg stand, bekämpfte«.

Um nun wieder auf die reale Welt zurückzukommen: Die Vereinigten Staaten unterstützten den Militärputsch gegen die Chávez-Regierung voll und ganz, und die New York Times trug ihren Teil dazu bei, bevor der Putsch durch einen Volksaufstand wieder rückgängig gemacht wurde. Und was man auch immer von Chávez halten mag, muss man akzeptieren, dass er mehrmals Wahlen gewann, die von internationalen Beobachtern als frei und fair bezeichnet wurden. Zu diesen Beobachtern gehörte auch die Carter Foundation, dessen Gründer, der ehemalige US-Präsident Jimmy Carter, Folgendes meinte: »Von den 92 Wahlen, die wir beobachtet haben, würde ich behaupten, dass der Wahlprozess in Venezuela der beste auf der Welt gewesen ist.« Venezuela unter Chávez schnitt im internationalen Vergleich immer sehr gut ab, wenn es um die Frage ging, inwiefern die Öffentlichkeit die Regierung unterstützt.

Natürlich gab es ohne Zweifel auch demokratische Defizite in den Chávez-Jahren, darunter etwa die Repressalien gegen den Fernsehsender RCTV, die sehr scharf kritisiert wurden. Auch ich gehörte zu den damaligen Kritikern und war der Meinung, dass so etwas in einer freien Gesellschaft nicht geschehen darf. Wenn allerdings ein prominenter Fernsehsender in den USA einen Militärputsch unterstützen würde, so wie es RCTV tat, dann würde er hierzulande wenige Jahre später nicht unterdrückt werden, weil er gar nicht mehr existieren würde. Die Verantwortlichen würden im Gefängnis sitzen, wenn sie denn überhaupt noch am Leben wären. Die herrschende Glaubenslehre überdeckt solche Fakten allerdings vollständig.

Das Versagen, stichhaltige Informationen zu liefern, hat ebenso Konsequenzen. Die Amerikaner müssen sich darüber im Klaren sein, dass Umfragen, die von führenden US-Agenturen zehn Jahre nach dem größten Verbrechen des Jahrhunderts durchgeführt wurden, deutlich gemacht haben, dass die Weltöffentlichkeit die USA als die größte Bedrohung für den Weltfrieden sieht. Kein Land macht den USA diese Rolle auch nur annähernd streitig, nicht einmal der Iran, der hierzulande sicherlich als die größte Bedrohung gesehen wird. Anstatt diese Tatsache zu verdecken, hätte die Presse lieber ihrer Aufgabe nachgehen sollen. Sie hätte die Öffentlichkeit darauf aufmerksam machen müssen, was all dies bedeutet. Doch auch die Vernachlässigung von Pflichten hat Konsequenzen.

Die genannten Beispiele sind schlimm genug, doch es gibt andere, die noch viel folgenreicher sind – etwa die Präsidentschaftskampagne des Jahres 2016. Sie fand im mächtigsten Staat der Geschichte statt. Die Berichterstattung war allgegenwärtig, und sie war lehrreich. Es gab Themen, die von den Kandidaten nahezu vollkommen gemieden und auch von den Kommentatoren ignoriert wurden. Dies stand in Einklang mit dem journalistischen Prinzip der »Objektivität«, also genauestens darüber zu berichten, was die Mächtigen tun und sagen – und bloß nicht über die Themen, die sie ignorieren. (Siehe auch Seite 158) Dieses Prinzip gilt selbst dann, wenn das Schicksal der Menschheit auf dem Spiel steht – und genau das ist hier der Fall: sowohl bei der wachsenden Gefahr eines Atomkriegs als auch der schrecklichen Bedrohung einer Umweltkatastrophe.

Am 8. November 2016 hatte diese Nachlässigkeit einen Höhepunkt erreicht. An jenem Tag konnte Donald Trump zwei Siege erringen. Jener, der weniger von Bedeutung war, genoss massive mediale Aufmerksamkeit. Es war sein Wahlsieg, der zustande kam, obwohl er fast drei Millionen Wahlstimmen weniger hatte als seine Kontrahentin. Das haben wir natürlich den Lücken im US-amerikanischen Wahlsystem zu verdanken. Trumps weitaus bedeutsamer Sieg wurde allerdings so gut wie ignoriert. Es geht um seinen Sieg in Marrakesch in Marokko, wo sich über 200 Staaten versammelt hatten, um die ernstzunehmenden Folgen des Klimawandels im Rahmen des Pariser Übereinkommens zu diskutieren. Am 8. November wurde das Verfahren allerdings unterbrochen. Während die übrig gebliebenen Staaten damit beschäftigt waren, ein wenig Hoffnung zu schüren, traten die Vereinigten Staaten nicht nur aus dem Übereinkommen aus. Sie zogen es auch vor, den gesamten Prozess zu sabotieren, indem sie den Gebrauch fossiler Brennstoffe massiv verstärkten, Regulierungen abbauten und ihr Versprechen zurücknahmen, Entwicklungsländern beim Aufbau erneuerbarer Energien zu helfen.

Das, worüber Trump an diesem Tag gesiegt hatte, war nichts weniger als die Chance auf ein zivilisiertes Leben in der Form, wie wir es kennen. Doch die Berichterstattung diesbezüglich lag praktisch bei null, denn man wollte jene »Objektivität« aufrechterhalten, die von den Praktiken und Doktrinen der Macht festgelegt wurde.

Eine wahrhaftig unabhängige Presse weist eine Unterordnung zurück. Sie wehrt sich gegen Macht und Autorität. Sie prüft die bestehende Glaubenslehre kritisch und stellt jene Fragen, die von Menschen, die meinen, richtig zu denken, nicht gestellt werden. Sie reißt den Schleier der Zensur weg und macht der Öffentlichkeit jene Informationen und Meinungsvielfalt zugänglich, die für eine politische Partizipation sowie für das soziale und politische Leben im Allgemeinen notwendig sind. Hinzu kommt, dass es Aufgabe einer unabhängigen Presse ist, den Menschen eine Plattform anzubieten, die sie betreten und auf der sie über jene Themen, die sie als wichtig empfinden, debattieren können. Sobald sie das tut, erfüllt sie ihre Funktion als ein Fundament einer wahrhaftig freien und demokratischen Gesellschaft.

Noam Chomsky im Gespräch mit Emran Feroz: “Kampf oder Untergang! Warum wir gegen die Herren der Menschheit aufstehen müssen“, Westend Verlag, 192 Seiten, November 2018

Die NachDenkSeiten sind für eine kritische Meinungsbildung wichtig, das sagen uns sehr, sehr viele - aber sie kosten auch Geld und deshalb bitten wir Sie, liebe Leser, um Ihre Unterstützung.
Herzlichen Dank!